"Mangiare Integrale" oder "Essen echte Italiener keine Vollkorn-Gnocchi?"

Meine Güte, was habe ich alles gelernt in der vergangenen Woche - und das ausgerechnet in einem Fach, das ich seit fast 30 Jahren zu beherrschen glaubte. Ich habe mich völlig neu in "mein" Thema eingearbeitet, Studien getrieben und mir ein sündhaft teures Buch gekauft. Kein Kochbuch. Sondern so ein richtiges Wissenschaftsbuch - zu schwer (rein gewichtsmäßig), um es im Bett zu lesen. Und es handelt von artgerechter Ernährung (für Menschen).

Was ist passiert? Eigentlich nichts Besonderes (also nichts, was mir nicht ständig passiert) - und doch gab es diesmal das berühmte Tröpfchen. Mein Fass ist übergelaufen. Und das kam so:
In dem von mir gern besuchten Blog "In jedem Gericht ein Gedicht" gab es anlässlich eines (aus Sicht der Köchin) verunglückten Ravioli-Gerichts in den zahlreichen Kommentaren einige heftige "Schmeckt-nicht!-Bekundungen" - adressiert an die Vollkorn-Nudel. Und nachdem ich diese Zeilen schon längst geschrieben hatte, segelte auch noch ein Kommentar zu meinem jüngsten Rezept "Süßkartoffel-Gnocchi" herein:
"aufwendige Kochbuchqualität, liebevoll gestaltet, aber Gnocchi mit Vollkornmehl geht bei mir nicht. Ich habe mal Spaghetti aus Vollkorn probiert, nicht mein Fall. Genauso brauche ich Weißbrot zum Olivenöl. Wenn italienisch, dann bitte ganz."
Die Vollkorn-Nudel. Mein Thema seit Jahrzehnten. Und wie oft schon habe ich mir im Laufe dieser langen Zeit anhören müssen: "Vollkorn-Nudeln? Geht gar nicht!". Vor fast einem Jahr ging mir das schon einmal so sehr auf den Zeiger, dass ich meine "Mangold-Mandel-Lasagne" dazu nutzte, mich mit den Vollkorn-Nudel-Hassern ernsthaft anzulegen. Aber was - außer ein bisschen Dampf ablassen -  bringt das? Es wissen ja schließlich alle, dass die so sehr geschätzte weiße Nudel eine ziemliche Nullnummer ist: Null Nährwerte, null Geschmack (an meinem Gaumen jedenfalls), null Farbe, null Ballaststoffe. Und trotzdem essen alle - beziehungsweise die übergroße Mehrheit - dieses Lebensmittel (und viele andere Weißmehlerzeugnisse auch). Ein "Lebensmittel", bei dem man das Wertvollste entfernt, um es im Tierfutter zu verarbeiten.
Warum ist das so? Okay, früher war das weiße Auszugsmehl ein Statussymbol für die Reichen. Kann ich ja irgendwie nachvollziehen, dass man da gern dabei sein und allen zeigen wollte, dass man sich das Weiße leisten kann (war ja mit dem Fleisch ganz ähnlich). Und wer es sich nicht ständig leisten konnte, für den war es dann tatsächlich etwas ganz Besonderes, das es nur zu Sonn- oder Festtagen gab. Aber heute?
Heute ist weißes Auszugsmehl deutlich billiger als Vollkornmehl (obwohl es ja eigentlich aufwändiger ist in der Herstellung). Vollkornmehl ist also wertvoller. Na gut, das ist es nicht allein - Preise richten sich natürlich auch an der Nachfrage aus und die ist bei Vollkornmehl(-Produkten) eben deutlich geringer. Aber sooo teuer ist Vollkornmehl nun auch wieder nicht, dass man deshalb darauf verzichten muss, oder? Abgesehen davon machen Lebensmittel aus dem ganzen Getreide länger satt - und dann gleicht sich das mit dem Preis auch wieder aus ;-)
Kleiner Einschub - nur damit alle auf dem gleichen Stand sind und wissen, auf welcher persönlichen Grundlage ich dieses alles schreibe: Ich habe seit ziemlich genau 29 Jahren nicht eine einzige Tüte weißes Mehl, nicht einen Krümel weißen Zucker und nicht ein Körnchen weißen Reis gekauft. Genauer: Ich kaufe überhaupt kein Mehl, sondern nur das ganze Korn und mahle es jeweils erst direkt zum Gebrauch. Weißmehlerzeugnisse und andere de-naturierte "Lebens"mittel schmecken mir schon längst nicht mehr und gut aussehen tun sie in meinen Augen auch nicht. Alles eine Frage der Sehgewohnheiten - darin sind wir uns einig, oder? Die pauschale Aussage "Vollkorn-Nudeln schmecken nicht" gilt eben nur für Einzelne (egal, wieviel das auch immer sein mögen), nicht für die Gesamtheit. Als ich mit der vollwertigen Ernährung begann, waren meine kleinen Kinder und gesundheitliche Gründe dafür ausschlaggebend. Heute ist es weit weit mehr als "nur" eine Art und Weise, die eigene Gesundheit zu befördern. Aber dazu später mehr.
Zurück zur Frage, warum das volle Korn von den meisten nur im so genannten "Vollkornbrot" akzeptiert wird - im Toastbrot, im Baguette, im Kuchen, im Keks oder eben in der Nudel aber nicht? Und es soll ja auch viele Menschen geben, die Vollkornreis ebenso vehement ablehnen. Wie oben schon erwähnt, will ich nicht glauben, dass die Vollkorn-Gegner/innen sich das bessere Essen nicht leisten können. Also muss es wohl andere Gründe geben.
Und genau damit habe ich mich in den vergangenen Tagen intensiv beschäftigt. Und dabei viel Neues und Erstaunliches herausgefunden. Ich fange mal mit meinen allerallerneuesten Erkenntnissen an - dank der Anregung durch obigen Kommentar "Wenn italienisch, dann bitte ganz.":

Spontan fragte ich mich, was denn mit "italienisch, ganz" gemeint sein könnte. Diese Bemerkung scheint mir einer der Schlüssel für den weit verbreiteten Vollkornnudel-Hass zu sein. Italienische Küche steht ja wohl so ganz allgemein für gutes Lebensgefühl und leckeres Essen. Wer als (Hobby-)Koch oder Köchin glänzen und in der "Szene" anerkannt werden will, muss dann selbstverständlich authentisch kochen (und essen). Wieso allerdings das volle Korn dem widersprechen soll, ist mir nicht so klar - und ich bin überzeugt, dass die Italiener/innen da längst weiter sind als diejenigen, die deren vermeintlich originäre Esskultur verteidigen. Wie ich zu dieser Einschätzung komme? Ich habe einfach mal gegoogelt:
Ich kann zwar nicht wirklich italienisch, aber ein ganz bestimmtes Wort hat sich in meinem Hirn seit meinem Italienurlaub Anfang der 90er festgesetzt: "Integrale". Das gab es nämlich in jeder stinknormalen Bäckerei - das "pane integrale". Vollkornbrot eben. Aber nicht "unser" Vollkornbrot (das authentisch deutsche) sondern Ciabatta und Brötchen aus dem vollen Korn. Das war da ganz normal . Und in den kleinsten Supermärkten (die garantiert nicht auf Touristen ausgerichtet waren) gab es Vollkornreis, -nudeln und -Cracker. Die gleiche Erfahrung hatte ich in den 80ern bereits in Portugal gemacht.
"Integrale" also. Und genau danach habe ich heute im WorldWideWeb gesucht - und Bemerkenswertes bemerkt: Google spuckt allein bei der Suchphrase "gnocchi integrali" 3.550 Treffer aus (von "pasta integrale" mit 180.000 Links ganz zu schweigen), "ciabatta integrale" produziert über 35.000 Treffer und "risotto integrale" kommt immerhin auf 6600. Zum Vergleich im deutschsprachigen Web: "Vollkorn-Gnocchi" finden hier nur 258 mal statt, "Vollkorn-Ciabatta" 1800 mal und "Vollkorn-Risotto" 608 mal). Hinter vielen der italienischen Links verbergen sich leckere Rezepte. Sind die Italiener/innen, die diese Links produzieren, nun etwa keine ganzen Italiener? Oder sind sie schon viel weiter als wir? Selbst der relativ bekannte Nudelproduzent Barilla bietet völlig selbstverständlich "Spaghetti integrali" und andere vollwertige Pasta-Sorten an. Na ja, wie auch immer, jedenfalls kann die Verwendung von Vollkornprodukten in Italien so schlimm nicht sein, sonst gäbs wohl nicht so viele Rezepte dazu.
Und wenn wir dann noch einen kleinen Schlenker in die Ernährungsgeschichte im Allgemeinen und die Pasta-Geschichte im Besonderen machen, dann müssen sich die Vertreter/innen des "Echte-italienische-Pasta-sind-weiß-Clubs" schon auch fragen lassen, wann denn ihrer Meinung nach die Ära der "echten" italienischen Pasta beginnt. Wenns um die weiße Nudel geht, dürfte diese Ära nämlich erst mit Beginn der industriellen Revolution angebrochen sein - dann erst konnte Weißmehl in großem Stil hergestellt werden. Aber die Historiker/innen wissen, dass Pasta bereits bei den Römern bekannt waren. Vielleicht besinnen sich mittlerweile viel mehr Italiener/innen als wir denken auf die Wiege der Pasta und damit auch auf unsere natürlichen Lebensgrundlagen?
Vielleicht aber haben die Menschen in Italien nur deshalb ein entspannteres Verhältnis zur Vollkornnudel, weil sie eben nicht Vollkornnudel sondern PASTA INTEGRALE heißt. Ich mein, das Wort kann man sich genüsslich auf der Zunge zergehen lassen - da kann doch gar kein unangenehmer Beigeschmack aufkommen bei einem solch hübschen Wort. GNOCCHI INTEGRALI oder SPAGHETTI INTEGRALI und  - hach! - RISOTTO INTEGRALE. Irgendwie beneide ich die Italiener/innen um ihre Sprache. Da klingt alles vieles leckerererer.
Und auch sonst haben die in Italien viel schönere Worte: Schon mal Stielmus bzw. Stängelkohl gegessen? Nee? Klingt ja auch irgendwie nach "schmeckt nicht". Oder Rauke? Eher nicht. Steckrübe? Öhömmh. Aber nach "Cime di rapa" scheint die Nachfrage unter deutschen Food-Bloggerinnen in Deutschland derzeit enorm zu steigen ;-) Es handelt sich dabei um Stielmus. Ruccola - so ein feines Blättchen (heißt auf deutsch Rauke). Und wenn wir demnächst auf der Speisekarte eines Gourmetrestaurants "Navone" entdecken würden? Na, ich würds bestellen - auch wenn es sich dabei um die gewöhnliche Steckrübe handelt.
Ach, es könnte alles so schön - vollwertig - sein, wenn wir nur schönere Worte hätten. Und wenn eine artgerechte Ernährung nicht "Vollwertkost" hieße sondern MANGIARE INTEGRALE.
Aber ich ahne es: So leicht wäre es wohl trotzdem nicht, Spaghetti Integrale in Deutschland hoffähig zu machen. Aber dazu später mehr. Für heute solls erstmal genug sein mit meinem Denkgeplänkel.
Fortsetzung folgt (wie ich im ersten Satz andeutete, habe ich mich nicht nur mit der italienischen Sprache beschäftigt).

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