Manchmal ist es etwas länger bis zum Glück

Drei Jahre lang hat Anke um ihren Mann Cord getrauert und darum gekämpft, dass seine Firma weiter besteht. Jetzt macht sie Urlaub in der Türkei - und lernt dabei Harun kennen, der in Fethiye ein einfaches Leben als Fischer führt …
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Anke hatte sich am Flughafen von Antalya einen Wagen gemietet und fuhr jetzt mit geöffnetem Verdeck die Küstenstrasse entlang. Rechts erstreckten sich Pinienwälder und Olivenhaine bis hin zu den violetten Bergen, links lag funkelnd und tiefblau die Ägäis mit ihren vielen kleinen Inseln.
Endlich kam sie in Fethiye an, ihrem Ferienziel im Süden der Türkei. Nachdem sie in ihrer Pension geduscht hatte, öffnete sie das Fenster. Auch von hier war das Meer zu sehen. Sie dachte an Cord, der das Meer derart geliebt hatte, dass es ihm schliesslich zum Verhängnis geworden war. Er war von seiner letzten Segeltörn auf der Nordsee nicht zurückgekommen. Drei Jahre war das nun her. Drei Jahre, in denen sie sich von einer sorglosen jungen Frau in eine verantwortungsbewusste und versierte Geschäftsfrau verwandelt hatte. Es war ihr nichts anderes übrig geblieben. Nach Cords Tod hatten seine Anwälte ihr eröffnet, dass die Spielzeugfabrik, die er ihr hinterlassen hatte, tief in den roten Zahlen steckte. Sie hatten ihr geraten, das Erbe auszuschlagen. Sie hatte sich im Gegenteil der Herausforderung gestellt, hatte sich durch Berge von Akten gearbeitet, mit Banken und Gläubigern verhandelt. Von Anfang an hatte sie verlangt, dass man sie über alles, was in der Firma vor sich ging, unterrichtete. Was sie nicht verstand, hatte sie sich erklären lassen oder es sich erarbeitet.
Das anfängliche Misstrauen, das ihr entgegengebracht wurde, war längst Anerkennung, mehr noch, Bewunderung, gewichen. Niemand wusste von den vielen Nächten, in denen sie verzweifelt geweint hatte. Aus Trauer um den geliebten Mann, aus Ratlosigkeit, auch. Der fünfzehn Jahre ältere, blendend aussehende Cord hatte sie auf Händen getragen, ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Er hatte ihr sein Herz und die Welt zu Füssen gelegt. Sie wusste jetzt, dass sie sich die kostspieligen Reisen, die sie gemacht hatten, eigentlich nicht hätten leisten können. Warum hatte er ihr nie von den finanziellen Schwierigkeiten erzählt? Es war sicher auch ihre Schuld gewesen. Nur ihre Liebe hatte für sie gezählt. Sie war so jung gewesen, als sie heirateten, erst zwanzig. Und doch: Sie bereute nichts. Es waren zehn wundervolle Jahre gewesen. Jahre, die ihr die Kraft gegeben hatten, sich den Schwierigkeiten zu stellen. Dies war ihr erster wirklicher Urlaub nach Cords Tod, und selbst wenn er, verglichen mit ihren früheren Reisen, sehr bescheiden ausfiel, sie hatte ihn sich selbst und hart erarbeitet …
Abends im Restaurant empfahl der freundliche Wirt ihr wortreich in gebrochenem Deutsch sein Fischgericht. Der Fisch sei heute morgen frisch gefangen worden. Er schmeckte tatsächlich köstlich. Dazu trank sie einen weissen Yakut-Wein, der vollends dazu beitrug, dass sie sich entspannte und fröhlich und leicht fühlte.
Am nächsten Morgen, nach einer herrlich durchschlafenen Nacht und dem Frühstück, beschloss sie, zu Fuss die Umgebung zu erkunden. Sie stand versunken in den Anblick der zauberhaften Bucht mit seiner Insellandschaft da, als das Tuckern eines Bootes näher kam. Der Motor wurde abgestellt, und das Boot lief sanft auf den Strand auf. Ein mit ausgefransten, verblichenen Hosen bekleideter Mann sprang heraus und zog das Boot noch ein wenig höher hinauf. Als er sich aufrichtete, das Netz mit den noch zappelnden Fischen in der Hand, trafen sich ihre Blicke. Er sah ungewöhnlich gut aus mit seinem schwarzgelockten Haar, den dunklen Samtaugen und dem gebräunten, muskulösen Oberkörper, auf dem noch das Wasser glänzte.
Auch er starrte sie an wie eine Erscheinung. Anke stand von Licht umflossen da. Sie trug ein knöchellanges blaues Kleid, das ihre schlanke Gestalt, ihre kleinen festen Brüste und ihre biegsame Taille betonte. Ihre meergrünen Augen waren von dichten Wimpern beschattet. Der Strohhut war in den Nacken gerutscht, und der leichte Meerwind spielte in ihrem blonden Haar.
Wie magisch angezogen kam er auf sie zu. Beim Lächeln entblösste er blendend weisse Zähne: “Guten Morgen, ist heute nicht ein herrlicher Tag?”
“Guten Morgen”, lächelte sie zurück. “Woher wissen Sie, dass ich Deutsche bin, und woher sprechen Sie so gut die Sprache?”
“Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, und dass Sie Deutsche sind, habe ich erraten.”
“Sie sind in Deutschland aufgewachsen und sind jetzt Fischer in der Türkei?”
“Alle Männer aus meiner Familie haben hier in Fethiye vom Meer gelebt, bis mein Vater nach Deutschland ging. Er wollte, dass seine Kinder es einmal besser hätten. Mein Bruder und meine Schwester haben studiert, ich war nicht gemacht für ein solches Leben. Vor sechs Jahren bin ich hierher zurückgekommen, hier bin ich glücklicher. Sehen Sie, das Meer schenkt uns alles, dieser Fisch ist für Ünal, für sein Restaurant.”
“Für Ünal Gündüz? Ich wohne in seiner Pension. Dann habe ich also gestern Abend einen von Ihren Fischen gegessen, er hat wunderbar geschmeckt!”
Er sah sie immer noch unverwandt an. Und plötzlich durchfuhr sie ein heftiges Verlangen, wie sie es seit Cords Tod nicht mehr gespürt hatte. Sie war so wenig gefasst darauf, dass sie ihren Blick abwandte und hastig sagte: “Verzeihen Sie, ich möchte Sie nicht aufhalten. Ich muss auch weiter.”
“Müssen? Das ist typisch Deutsch”, schüttelte er den Kopf. “Was muss man denn in den Ferien? Denn Sie machen doch sicher Ferien hier?”
Jetzt musste sie selbst lachen: “Sie haben Recht. Ich muss nicht, aber Sie müssen, nämlich so schnell wie möglich Ihre Fische bei Ünal Gündüz abliefern.”
Nun lachte er auch: “Aber danach habe ich Zeit, den ganzen Tag. Was würden Sie zu einer Rundfahrt in meinem Boot sagen? Ich möchte Ihnen die Schönheit unserer Bucht zeigen. Bitte, warten Sie doch hier auf mich, es geht schnell!”
Sie nickte wie betäubt und sah ihm nach, wie er sich entfernte. Einmal blickte er zurück, als wolle er sich vergewissern, dass sie immer noch da war. Er winkte, und sie winkte zurück. Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie hier stehen blieb. Sie konnte doch nicht allein mit diesem unbekannten Mann auf’s Meer fahren. Das tat man nicht, das war verrückt, und das konnte gefährlich werden. In jeder Hinsicht. Geh weiter, befahl sie sich, aber ihre Füsse wollten nicht gehorchen. Und dann kam er schon zurück, und es war zu spät, um fortzulaufen. Sie wollte es ja auch gar nicht …
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Er hiess Harun. Harun Yücelay. Und die Liebe brach wie ein Sturmwind in ihrer beider Leben ein. Harun war der erste Mann nach Cord, der Ankes Körper wieder zum Leben erweckte. So sanft, so rücksichtsvoll und leidenschaftlich zugleich, dass ihr heiss die Tränen in die Augen stiegen. Die Tränen lösten ihren Schmerz, lösten die Trauer, die Anspannung und die Sorgen der letzten Jahre, bis nur noch Dankbarkeit für den erlebten Moment zurück blieb. Die Fähigkeit, den Augenblick zu geniessen.
Jeden Tag fuhren sie auf seinem Boot hinaus. Sie liebten sich im Meer, an verschwiegenen Stränden, auf einer einsamen Insel, die verwunschen im gleissenden Blau der Ägäis lag. Er sagte ihr, dass er sie liebte, dass sie sein Leben sei, seine Sonne. Und gleich darauf sah er unglücklich und zerrissen aus: “Ich kann dir nichts bieten. Niemals würdest du die Frau eines armen Fischers sein wollen. Ich hätte alles anders machen und in Deutschland bleiben sollen!”
“Dann wärst du jetzt unglücklich, und wir wären uns wahrscheinlich nie begegnet”, versuchte sie ihn und sich selbst zu trösten. Auch sie liebte ihn. Hingebungsvoll. Und auch sie war ratlos. Aber sie wollte nicht an die Zukunft denken, das tat zu weh.
Zwei Wochen lang erlebten sie die vollkommende Glückseligkeit. Sie kannte jeden Zentimeter seines Körpers, hätte seine Stimme aus Tausenden von anderen herausgehört. Sie wünschte, die Zeit möge stehen bleiben.
Sie tat es natürlich nicht. Sie waren wieder auf ihrer verwunschenen Insel, lagen einer in den Armen des anderen.
“Morgen fliege ich nach Deutschland zurück”, sagte sie leise.
Harun richtete sich auf dem Ellenbogen auf und sah sie an. Er war blass unter seiner Sonnenbräune, sein Kiefer malmte, so fest biss er die Zähne aufeinander.
Sanft streichelte sie sein Gesicht. Mit Tränen in den Augen sagte sie: “Ich muss zurück, Harun, es gibt keine andere Möglichkeit.”
“Ich weiss”, stöhnte er. “Wenn ich doch mit dir kommen könnte, aber ich bin nichts in Deutschland.”
“Du bist etwas, in Deutschland oder hier, aber du würdest unglücklich sein in Deutschland.”
“Ohne dich werde ich auch hier unglücklich sein.”
Einen Augenblick erfüllte sie Hoffnung: “Harun, ich habe genug Geld für uns beide.”
Er fuhr zurück, als hätte ihn eine Tarantel gestochen: “Nein, Anke, ein Schmarotzer werde ich nie in meinem Leben sein! Aber ich verspreche dir, eines Tages sehen wir uns wieder!”
Sie tat, als glaubte sie an sein Versprechen …
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Zurück in Deutschland hoffte sie, dass der Trennungsschmerz, dieses Gefühl, etwas ungeheuer Kostbares verloren zu haben, nachlassen würde. Sie stürzte sich in die Arbeit wie in der Zeit, als die Trauer um Cord sie fast um den Verstand gebracht hatte. Wenn sie nur ein Kind von ihm hätte, aber es war der einzige Wunsch, den Cord ihr nicht hatte erfüllen können. Er war zeugungsunfähig, hatte eine Untersuchung beim Arzt ergeben.
Die Firma florierte, aber das Geld machte sie nicht glücklich. Das nächste Jahr machte sie in Tunesien Urlaub. Sie wusste: Wenn sie nach Fethiye zurückkehrte, wenn sie Harun noch einmal sah, würde sie nicht mehr die Kraft haben, ihn zu verlassen …
Es war der zweite Herbst nach ihrer Trennung. Sie hatte einen langen Tag in der Firma hinter sich, hatte die von der Zugehfrau bereitete Mahlzeit gegessen und schenkte sich jetzt vor dem Kamin ein Glas Wein ein. Endlich hatte sie Zeit, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Sie schlug den Lokalteil auf - und starrte ungläubig auf ein Foto. Das konnte nur ein Irrtum sein, eine grausame Täuschung, aber über dem Artikel stand sein Name: Harun Yücelay. Der Autor, las sie, würde morgen in einer bekannten Hamburger Bücherei - der Name folgte - von 16 bis 18 Uhr eine Lesung seines Romans mit anschliessender Signierstunde veranstalten. Sein von der Kritik einstimmig begrüsstes Erstlingswerk sei dabei, in die Bestsellerliste aufzusteigen.
Sie sass in der letzten Reihe und konnte den Blick nicht von ihm lösen. Harun trug gutgeschnittene lange Hosen, dazu ein farblich abgestimmtes Hemd mit offenem Kragen und einen Kashmirpullover. Er wirkte ernster, als sie ihn in Erinnerung hatte, mehr noch, fremd in diesem Aufzug und dieser Umgebung. Voll Schrecken merkte sie, dass sie den Mann, dem seit fast zwei Jahren ihre ganze Liebe und Sehnsucht galt, nicht wiedererkannte. Fast greifbar nah sass er dort – und sie fühlte sich weiter von ihm entfernt als je zuvor.
Aber dann fing er an zu lesen. der Text, den er mit seiner schönen Barytonstimme vortrug, handelte von Deutschland und der Türkei, von zwei verschiedenen Kulturen, die trennend wirken oder sich ergänzen konnten. Von zwei Menschen, die sich liebten und wieder verloren. Auf der Suche nach dieser Frau, und nachdem er ein Buch geschrieben hatte, kam der Ich-Erzähler nach Deutschland. Würde er sie wiederfinden? Und vor allem: Würde sie ihn wiedersehen wollen?
Es war die Stimme, die ihr den geliebten Mann zurückbrachte. In ihr fand sie seine Ruhe, seine Innigkeit und seinen Humor wieder. Der gutgekleidete Schriftsteller in Deutschland und der naturverbundene Fischer in der Türkei verschmolzen zu einem Ganzen, dem Mann, dem ihr Herz gehörte.
Er klappte das Buch zu: “Es gibt einen Schluss in diesem Buch, den Schluss, den ich herbeisehne. Aber den wirklichen Schluss muss das Leben schreiben.”
Die Zuhörer hatten gebannt gelauscht, manche hatten Tränen in den Augen. Der Raum war gut besetzt, auch die Presse war anwesend. Harun, der bis jetzt nicht aufgesehen hatte, liess langsam den Blick über die Zuhörerreihen schweifen. Ein jähes Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sie entdeckte …
Sie mussten noch die Signierstunde über sich ergehen lassen, dann standen sie sich endlich gegenüber. Der Büchereibesitzer drängte, dass es Zeit wurde, zum offiziellen Essen aufzubrechen, aber Harun schüttelte freundlich lächelnd den Kopf: “Es tut mir leid, aber ich habe einen dringenden Termin, auf den ich siebzehn lange Monate habe warten müssen.” Ohne sich um das verdutzte Gesicht des Buchhändlers zu kümmern, zog er die geliebte Frau mit nach draussen.
“Was machen wir jetzt?” fragte er und lachte wie ein Junge, dem ein guter Streich gelungen war.
Sie wollte ihn fragen, ob er nicht besser doch am geplanten Essen teilnehmen sollte, in seinem eigenen Interesse, aber er kam ihr zuvor: “Nein, Liebling, ich muss es wirklich nicht. Und jetzt sag mir, was du dir wünscht.”
Ja, das war Harun, ihr geliebter Harun. Sie lachte ihn zärtlich an und antwortete: “Zuerst einen Kuss, und dann möchte ich mit dir in einem Fischrestaurant essen gehen. Du wirst sehen, dass es auch hier, so dicht an der Nordsee, wunderbar frischen Fisch gibt. Und dann …”
Ankes Stimme wurde undeutlich, weil Harun sie schon zur Erfüllung des ersten Punktes stürmisch in die Arme zog …
ENDE


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