Man muss alles mal versucht haben

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Ich musste nachts scheißen. Die Toilette befand sich draußen. Diese hatte Lichtschalter. Aber kein Licht. Der Wind pfiff überall durch. 10°, minus. In der Schüssel schwammen grüne, graue Exkremente des Wahnsinns. Die Toilettenspülungen waren ein kleiner Eimer, mit dem aus einer Regentonne geschöpft werden musste – der Mensch ist evolutionsbedingt faul … Halbnackt wusch ich mir die Hände im Schnee. Im Norden glomm Quito, wie ein Häufchen Glut im Schwarz der Nacht. Das fahle Mondlicht erhellte den Schnee. Am Firmament funkelten glückliche Augen. Der Gipfel des Cotopoaxi schien zum Greifen nah.

Wir waren spät dran, es war bereits kurz nach 1 Uhr. Wir alle hatten mehr oder weniger Kopfschmerzen – ein halber Tag auf 4.810 Metern Höhe war nicht genug. Es roch nach Darmkomplikationen: Um 16 Uhr gab es belegte Brote, Fertig-Suppe in Geschmacksrichtung Brokkoli und gesalzene Popcorn; um 18 Uhr, nach einigen kleinen Übungen am Gletscher, die jäh von einem plötzlichen Hageleinbruch beendet wurden, folgte das Abendessen: Belegte Brote mit Kartoffelsuppe sowie Spaghetti mit Tomate, Zwiebel und einem Stück Huhn – in meinem Fall ein halbes Bein mit Haut. Der abgetrennte Kopf mit hängendem Kamm lag noch auf der Fensterbank. Nach ca. 5 Stunden Herumliegen und auf Schlaf warten, um halb eins, gab es Cornflakes mit Joghurt. Und belegte Brote. Ich aß Weißbrot mit Honig, trank Tee. Die wenigen Stunden Halbschlaf brachten mich durcheinander. Meine Schläfe stach. Der Magen war flau. Als die letzte ihre Steigeisen umgeschnallt hatte, marschierten wir los. Wir begannen an einer Gletscherzunge des Cotopaxi. Der Schnee schluckte unsere Stimmen, unsere Schritte – glücklicherweise war er hart. Auf den ersten Metern verwandelten sich sämtliche Haare meines Körpers in heiße invertierte Nadeln, die sich in mein Fleisch bohrten. Anfangs kaute ich auf Gedanken – Solschenizyn schrieb im Archipel Gulag, dass nur ein denkender Mensch, eine Haft (als Mensch) überlebt. Ein wenig fühlte ich mich gefangen: In einer eisigen Nacht, auf über 5.000 Metern Höhe, im Schnee, gefangen in einer unbequemen Gewissheit. Mein Nase begann zu laufen – das Gesicht zu glühen. Tobi und Silvi gingen mit Julio vor, ich war mit Marc und Fausto kurz dahinter. Ainsley verloren wir bald: Sie drehte nach über einer Stunde mit dem dritten Guide um, sie musste kotzen. Sie wirkte aber schon auf dem Weg zum Camp überanstrengt.

Ich musste auf über 5.000 Metern scheißen. Es kam mir eine Ewigkeit vor, zu überlegen, was mehr Kraft kosten wird: Scheißen oder nicht Scheißen. Beim Pissen ist es so, dass man sofort muss, da der Körper ansonsten zu viel Energie verbraucht den Urin auf Körpertemperatur zu halten. Ich erhoffte mir Besserung. Welche Wonne auf dieser Höhe, den eisigen Kuss von Mutter Natur auf seinen Backen zu spüren. Die Gedanken wurden aufgezehrt: Der Körper ließ nur noch abgenagte Knochen übrig. Und er hatte noch immer Hunger. Ich begann mich mit den Anstrengungen zu beschäftigten: Ich begann gegen mich kämpfen. Mit wurde schlecht, aber jetzt zu Brechen würde mich noch mehr schwächen. Vermutungen.

Die Glut im Norden verglomm. Schwarze Scherenschnitte verbargen sie. Wir umgingen mannshohe Lavasteine. Die Kuppe wurde größer, der Schnee tiefer. Ich las Durch den Schnee von Schalamow, nein, ich stapfte durch die Zeilen, versank in ihnen. Inzwischen führten ich, Marc und unser Guide an – alle miteinander mit einem Tau verbunden. Wir überholten eine Gruppe von drei Mann. Unsere Schritte waren groß wie Männerfüße. Ich bemühte mich einen Rhythmus zu finden. Der aber immer tiefer werdende Schnee unterbrach ihn. Wir hielten. Immer öfters. Ich fiel auf die Knie, hielt mich am Pickel fest, legte den Kopf auf die Hände. Meine Beine hatten noch Kraft. Genug Kraft. Aber meine Augen wurden immer schwerer. Ich erschrak, als ich für wenige Sekunden in Schlaf fiel. Ich spürte keinen Durst, keinen Hunger, keine Kälte – nur eine sukzessive den Geist brechende Müdigkeit. Die Kopfschmerzen verteilten sich über die Stirn. Die Schwäche wurde stärker. 5.300 Meter. Ich begann zu hecheln, zu stöhnen. Meine Lungenflügel würden kühler. Hier oben zu atmen, war wie mit nur einem Nasenloch zu joggen. Ich brach immer öfter ein, meine Konzentration glitt tiefe Gletscherspalten hinab. Für manchen Meter benötigte ich dutzende Schritte. Ich gab auf, Fausto bemühte sich, mich zu motivieren. Die Wahrheit aber war, dass wir noch drei Stunden und ungefähr 500 Höhenmeter vor uns hatten. Marc gab mir Vitamin-C-Tabletten. Aber auf dieser Höhe, war für mich selbst das Kauen auf einer Banane mühsam. Das Wasser war zu kalt geworden. Nüsse, Honig, Rosinen konnten die Müdigkeit nicht vertreiben.

Auf ca. 5.400 Metern hielten wir. Mein Füße waren eiskalt. Ich spürte nur die Fersen. Wir warteten auf Tobi, Silvi und Julio. Die Kälte kroch unter die Jacke, biss in die Nieren, den Rücken, zwickte die Brust. Sie legte einen bleiernen Mantel auf meine Bewegungen. Die Guides fragten uns – ich gab auf. Endgültig. Nach dreieinhalb Stunden Marsch und über zwei Stunden Kampf gegen mich selbst. Vielleicht war das entscheidende Punkt: Aber mir fehlte die Fähigkeit, das Brüllen des Körpers zu überhören. Ich fühlte keinen Frust, keine Enttäuschung, keine Schmerzen, keine Reue – allein der Wunsch zu schlafen war in mir. Die Kälte hätte mich nicht davon abhalten können, sich auf den Schnee zu legen. Aber noch schlug das Herz – diesen törichten Gedanken aus.

Julio begleitete mich. Die Sonne tauchte bereits aus den Wolken. Diese wirkten wie graue Findlinge, Licht in den Farben des Lebens schwappte über sie. Für diese einmalige Schönheit war mein Geist längst zu unempfänglich. Ich sah das Camp. Die wenigen Meter dehnten sich wie Kilometer. Eine Stunde später trafen Fausto mit Silvi, Tobi und einem enttäuschten Marc im Camp ein. Eine Stunde nach meinem Abgang, konnten sie aufgrund von Lawinengefahr nicht weiter.

Und während ich das schreibe, frage ich mich, wer ich gestern war: Mein Körper, dessen Stimme ich sonst unterdrücken kann, gehörte mir gestern nicht. Aber ich habe gestern viel gelernt. Sehr viel. Und, ich bin motivierte denn je, es noch einmal zu versuchen: In Peru bestimmt. Spätestens in Bolivien. Aber diese Bilder vom Gipfel …



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