In den 1930er/1940er Jahren gefeiert und nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend vergessen, wurde die belgische Schriftstellerin Madeleine Bourdouxhe (1906-1996) erst ab den 1980er Jahren, nicht zuletzt durch die Entwicklung der feministischen Literaturwissenschaft, wiederentdeckt. Von ihrem großen, heute wieder zunehmend Anerkennung findenden Talent zeugen unter anderem die im Folgenden kurz vorzustellenden Neuauflagen ihrer Bücher (genauere Einzelrezensionen folgen in gesonderten Posts), deren zahlreichen Übersetzungen in teils auch exotische Sprachen sowie die Adaptionen im Funk, Fernsehen und auf der Theaterbühne.
Werk
Wurde „Vacances“, der erste schriftstellerische Versuch von Madeleine Bourdouxhe, 1935 noch vom
Verlag abgelehnt, nahm der Verlag Gallimard 1937 ihr Manuskript zu „La femme de Gilles“ mit großerEuphorie auf. Der heute als „Aushängeschild“ für die zeitlebens bescheidene aber durchsetzungsstarke
Schriftstellerin geltende Roman handelt
von Élisa, die jeden Tag sehnsüchtig auf die Heimkehr ihres in den Stahlwerken
arbeitenden Mannes wartet. Die Idylle wird getrübt, als Gilles Victorine, Élisas
Schwester, nicht mehr mit den Augen des Schwagers betrachtet. Aus einem Kuss
zwischen Schwager und Schwägerin entwickelt sich eine Affäre, die Élisa fast
intuitiv wahrnimmt und die ihr Leben von Grund auf verändern soll. Der Leser
verfolgt durch innere Monologe und Gedankenrede die Gefühlswelt Élisas, die
zunächst schweigend um die Liebe zu ihrem Mann, zu ihren gemeinsamen Zwillingen
und zu dem zu Beginn der Handlung noch ungeborenen Sohn kämpft, schließlich aber
an der Situation zerbricht, obwohl sich Gilles für seine Familie und gegen die
Affäre mit Victorine entscheidet. Die deutsche Ausgabe ist unter dem Titel „Gilles' Frau“ erschienen.
Zeitgleich zu „La femme de Gilles“ arbeitete Madeleine Bourdouxhe an „À la recherche de Marie“ (Veröffentlichung 1943). Auf diese Tatsache wird in vielen Interpretationen der beiden Werke abgehoben,
stellte Marie doch das absolute Gegenteil von Élisa
dar. Die Entstehung und spätere Veröffentlichung von „À la recherche de Marie“
wird von einigen Wissenschaftlern als unumgänglich angesehen, um dem in „La femme de Gilles“ konstruierten Frauenbild einen Gegenpol gegenüber zu stellen.
Auch hier handelt es sich zunächst um eine schweigende Protagonistin –
allerdings nutzt Marie das Schweigen um sich selbst Freiräume zu schaffen, ein
zweites Leben aufzubauen – Treffen mit einem Liebhaber, ausgiebige Spaziergänge
durch Paris – alles parallel zum in der Gesellschaft angesehenen und erwarteten
Leben als gute Haus- und Ehefrau. Wie auch bei „Gilles‘ Frau“ hat sich der
Piper-Verlag der deutschen Übersetzung angenommen und das Buch unter dem Titel „Auf
der Suche nach Marie“ veröffentlicht.
In der 1943
veröffentlichten Erstausgabe des soeben vorgestellten Romans „À la recherche de
Marie“ wurde dem Leser ein weiterer Roman der ihrer Zeit hoch angesehenen und
populären Schriftstellerin angekündigt. Ein Jahr später schließlich konnte der
interessierte Leser „Sous le pont Mirabeau“ in den Händen halten. Als sechster
Band der Reihe „La flèche d'or“ wurde der Roman illustriert durch sechs Tafeln der belgischen Künstlerin Mig Quinet im Brüsseler Verlag Lumières publiziert. Er
handelt von einer jungen Mutter, die sich im Mai 1940 nur zwei Tage nach der
Geburt ihrer Tochter Marie den Flüchtlingsströmen Richtung Frankreich
anschließen muss, um schließlich im selben Jahr noch das Dorf in der Nähe von
Bordeaux auf Anweisung der belgischen Regierung wieder verlassen und in die
belgische Heimat zurückkehren zu müssen. Es ist der einzige Text, dem durch
Madeleine Bourdouxhe selbst autobiographische Züge zugesprochen wurden. Im
Deutschen ist er mit dem Titel „Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine“
erschienen.
1985 schließlich erschien
eine Sammlung von Erzählungen, die in den 1930er/1940er Jahren einzeln in
Zeitschriften veröffentlicht worden waren. „Sept Nouvelles“ enthält, wie der
Titel schon verrät, sieben Erzählungen (Anna/Un clou,une rose/Les Jours de la
femme Louise/Clara/L'Aube est déjà grise/Blanche/Champ de lavande). Orientiert
an der fünften Erzählung lautet der deutsche Titel „Wenn der Morgen
dämmert“. Mit Ausnahme der letzten (sic!) Erzählung stehen wie in den früheren Romanen
Frauen in ihrem Alltagsleben im Mittelpunkt. Sei es als Hausmädchen (Les jours
de la femme Louise), als Hausfrau (Blanche) oder als junge Mutter (Un clou, une
rose) – Frauenleben werden bei Madeleine Bourdouxhe in ihren
unterschiedlichen Facetten skizziert.
Unveröffentlicht und nur fragmentarisch überliefert geblieben sind „Le voyageur fatigué“, „Mantoue est trop loin“ und der schon erwähnte Roman „Vacances“, der in deutscher Sprache vorliegt, aber im Original noch auf seine Veröffentlichung wartet.
Trivia
Besonders möchte ich auch die 2004 von Frédéric Fonteyne realisierte Verfilmung von „La femme de Gilles“ hinweisen.
Auf der 2004 veröffentlichten DVD findet sich auf einer Zusatz-DVD u.a. eine Dokumentation über das Leben von Madeleine Bourdouxhe, die von ihrer Enkelin erstellt worden ist. Darin kommen sowohl die Schriftstellerin selbst als auch Weggefährten/Weggefährtinnen sowie ihre Tochter und Enkelin zu Wort. (Bezrki, Nadia: Une lumière la nuit. Un portrait de Madeleine Bourdouxhe, DVD, 2004).
Alle Manuskripte, eine Briefsammlung und weitere Dokumente von und zu Madeleine Bourdouxhe lagern im „Fonds Madeleine Bourdouxhe“ des Archives et Musée de la Littérature (Bibliothèque royale de Belgique) in Brüssel. Dort kann auch ein sortiertes und kommentiertes Exemplar von „Le voyageur fatigué“ eingesehen werden.
Weiterführende Literatur
Wenn man sich längere Zeit mit einem Autor/einer Autorin beschäftigt hat, in meinem Fall habe ich mich in Seminararbeiten und in der Masterarbeit mit Madeleine Bourdouxhe auseinandergesetzt, dann fällt es schwer die wichtigsten Punkte herauszugreifen, die einen Autor/eine Autorin ausmachen. Um doch noch auf den einen mehr oder weniger wichtigen Punk hinweisen zu können, liste ich im Folgenden eine sehr kleine Auswahl an Literatur über Madeleine Bourdouxhe auf, die auf einige inhaltliche Interpretationsansätze verweist.
Speziell für bio-bibliographisch Hinweise können alle Vor- und Nachworte zu den französischen und deutschen Ausgaben empfohlen werden, die in den meisten Fällen von der Literaturagentin und Übersetzerin Faith Evans verfasst worden sind, die persönlichen Kontakt zu Madeleine Bourdouxhe pflegte.
Kovacshazy, Cécile/Solte-Gresser, Christiane (Hrsg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisés sur son œuvre littéraire, Brüssel (et al.) 2011. (Überblick über die enthaltenen wissenschaftlichen Aufsätze auf dem Werbeblatt des Verlages)
Nys, Florence: Bio-bibliographie de Madeleine Bourdouxhe, in: Kovacshazy, Cécile/Solte-Gresser, Christiane (Hrsg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisés sur son œuvre littéraire, Brüssel (et al.) 2011, S. 205–208. (ältere Onlinefassung)
Reschka, Kathrina: Zwischen Stille und Stimme. Zur Figur der Schweigsamen bei Madeleine Bourdouxhe, Marguerite Yourcenar, Marguerite Duras, Clarice Lispector, Emmanuèle Bernheim und in den Verfilmungen der Romane, Frankfurt am Main (et. al.) 2012.
Solte-Gresser, Christiane: Vom Schweigen erzählen. Versuch einer Typologie des Schweigens im Werk von Madeleine Bourdouxhe, in: Reschka, Kathrina (Hrsg.): „Stille:Stimme“. Zum Moment des Schweigens aus der Sicht romanistischer Sprach-, Literatur- und MedienwissenschaftlerInnen, Siegen 2008, S. 279–296.
Solte-Gresser, Christiane: Spielräume des Alltags. Literarische Gestaltung von Alltäglichkeit in deutscher, französischer und italienischer Erzählprosa (1929–1949), Würzburg 2010.
Solte-Gresser, Christiane: Raconter le silence, in: Kovacshazy, Cécile/dies. (Hrsg.): Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisés sur son œuvre littéraire, Brüssel (et al.) 2011, S. 137–144. Textyles. Revue des lettres belges de langue française, Nr. 9, 1992. (Onlineversion)
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