Mächtig ergriffen

oder Der Machtergreifung gedenken und die Machtergreifung betreiben.
Vor exakt achtzig Jahren haben sie ihn eingerahmt, ihn sich engagiert. Die übliche Tour des Konservatismus, den Pakt mit der Teufelei als etwas hinzustellen, das hochvernünftig und alternativlos sei. Das Teuflische hat sich seither verändert - die konservativen Gesichter auch. Die Masche ist aber irgendwie immer dieselbe.
Mächtig ergriffen sind sie am heutigen Tage. Auf den Tag genau achtzig Jahre ist es nun her, dass die Demokratie zu Weimar endgültig erlegen ist. Und gleichzeitig steht die Demokratie heute am Scheideweg, weswegen die im Gedenken schwelgenden Funktionseliten dieser Republik allerdings weniger ergriffen sind. Sie rufen Nie wieder! und schon wieder gibt es eine Gefahr, die man als alternativlos und hochvernünftig hinstellt. Eine ohne Fliegenschissbart und ohne Zuhälterfrisur. In einem Zeitalter, da alles auf Hochglanz gedruckt, in dem alles mit steriler Politur bepinselt, in der aalglatte Flächen, weiche Brüche und manierierte Kantenlosigkeit sowohl architektonisches als auch gesellschaftliches Renomée besitzen, sehen auch Gewaltmenschen ansprechender aus.

Machtergreifung nannten die Machtergreifer selbst ihren für damalige Verhältnisse legalen Aufstieg. "... alles ging streng "legal" vor sich, mit Mitteln, die durchaus in der Verfassung vorgesehen waren, "Notverordnungen" des Reichspräsidenten zunächst und schließlich einem Beschluß, die unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt auf die Regierung zu übertragen, gefaßt von einer Zweidrittelmehrheit des Reichstages, wie sie für Verfassungsänderungen vorgesehen war", schrieb Sebastian Haffner dazu in seiner Geschichte eines Deutschen. Die heute gefährdete Demokratie wird nicht zum Opfer von illegalen Bestrebungen, sondern von legalisierten Zuständen. Auch sie ergreifen die Macht nicht, sie bekommen sie garantiert, gesetzlich zugeschustert - man rahmt die Marktradikalität ein, engagiert sie sich.
Der Vergleich hinkt natürlich. Muss er. Kaum etwas ist in der Geschichte vergleichbar. Man kann, wenn man genau sein will, nichts miteinander vergleichen. Alles Äpfel und Birnen und noch so viel anderes Obst mehr. Nichtsdestotrotz gibt es immer einzelne Positionen, die sich etwas gleichen, die Licht und Schatten auf das werfen, was sich aktuell ereignet. Marx täuschte sich, als er irgendwo bemerkte, dass sich "weltgeschichtliche Thatsachen und Personen" einmal "als große Tragödie" und ein zweites Mal "als lumpige Farce" ereignen würden. Richtiger wäre die Feststellung gewesen, dass sich Geschichte immer als Tragödie scheinwiederhole - und gelegentlich auch mehr als zwei Mal.
Unsere zeitgenössische Tragödie ist keine, die mit hasserfüllter Stimme spricht; keine, die von jetzt auf gleich ermächtigt wird; keine, die eine Führergestalt benötigt. Aber sie ist gleichwohl tragisch für viele Menschen. Und die Ermächtigungsarbeit, die Legalität als Mittel zur gesellschaftlichen Verankerung der Ideologie, aber auch die Exklusionsbestrebungen für einen Teil der Gesellschaft, machen einen dergestalt hinkenden Vergleich doch wieder zu einer gerechtfertigten Sache.
In einer Machtergreifung leben wir seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten. Das Primat der Politik schwindet zusehends. Bundestagsabgeordnete sind mit Diäten bezahlte Angestellte der Privatwirtschaft; Regierungen sind der verlängerte Arm von Konzernen. Die Finanzindustrie und die Lobbyverbände allerlei Sorten griffen nach der Macht und halten sie seither schön fest - bloß geben sie es nicht zu. Wir befinden uns in einer Situation nach der Demokratie. Was uns blieb sind Demokratierituale, parlamentarisches Brauchtum und eine pseudopartizipierende Liturgie. Täglich leben wir mehr in Zeiten der Machtergreifung. Diese Ökonomie der Eliten will ihre Macht in Schulen, in Behörden und im Arbeits- und Sozialwesen etablieren und hat sie teils schon dort eingepasst und verschweißt.
Machtergreifung ist dauernd. Und heute denken wir mal an eine. Wir leben im Rückblick und verlieren unsere Gegenwart aus den Augen. Rückwärts immer, vorwärts nimmer. Natürlich ist die Rückschau existenziell. Man muss seine Vergangenheit kennen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Binsensprüche natürlich - aber zutreffende. Wenn die Vergangenheit allerdings nur dazu dient, die gegenwärtigen Prozesse zu übertünchen, dann wird es verwerflich. An die eine Machtergreifung gedenken und die amtierende Machtergreifung betreiben ist eine Sauerei. Aber genau so läuft es immer. Vor Jahren betrieb man eine Art journalistisch angeleiteten Gesinnungs-Pogrom gegen Arbeitslose - danach war die Genetik der Araber dran - und im Bundestag repetierten sie am Holocaust-Gedenktag Nie wieder! Nie wieder! Diese Verlogenheit nennt man Verantwortung vor der Geschichte.

Auch so ein Vergleich verschiedener Obstsorten - aber er hat seine Berechtigung, denn einst nährte man erst ein Klima, dann kam es zur allgemeinen Stimmung, zum Befürworten und Wegschauen, dann zur Exklusion und später zum bis dahin Undenkbaren. Das Undenkbare war nicht einfach so in die Gesellschaft getreten, sondern vorbereitet worden. Nie wieder! appellieren und gleichzeitig die Vorbereitungen ungestraft und ungesühnt lassen, ist schon ein sehr perverser Gebrauch von Rückschauhalten. Ähnlich ist es nun bei der Machtergreifungschose.
Es gibt einen Stichtag zum damaligen Antritt der Dunkelheit. Eben dieser 30. Januar 1933 - in sechzig, achtzig oder hundert Jahren wird es an einen Stichtag mangeln. Die Machtergreifung der neoliberalen Ökonomie in jeden noch so banalen Lebensbereich, die Durchdringung der Lebensrealität mit Krämerjargon und einem unhaltbar biologistischen Menschenbild - all das wird nicht auf einen Tag gelegt werden können. Zu schleichend war der Prozess, zu still, zu abseits von den lauten Kanälen. Aber klar wird es dennoch immer mehr: Sie haben die Macht ergriffen. Ohne Notstandsgesetze durch den Bundestag beschlossen, dafür mit eingeflüsterten Notstandswarnungen in Hinterzimmern.
Zynisch gesagt: Man hat aus der Geschichte doch etwas hinzugelernt - nicht die Gesellschaft hat gelernt, nur die, die die Macht ergreifen wollen, haben ihre Lehren daraus gezogen und ergreifen die Macht nun effektiver als alle Machtergreifer vor ihnen.

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