„Mach’s gut, Irkutsk“ – Das Reisetagebuch. Teil 1: Irkutsk-Kasan.

15. Juni, 9.54 Uhr Ortszeit

Irgendwann endet auch die schönste Romanze. Gestern kurz vor Mitternacht habe ich mich von Irkutsk verabschiedet - von all meinen Freunden, der Stadt selbst und all deren liebgewonnenen Annehmlichkeiten und Schönheitsfehlern.

Wie erwartet fiel mir der Abschied alles andere als leicht. Er war – so komisch es klingen mag – ausgelassen fröhlich und traurig bedrückt zugleich. In erster Linie war er aber vor allem eines: schön.

Denn, so glaube ich, stellt ein tränenreicher Abschied die Antithese zum Vorausgegangenen dar – in meinem Fall mein 10-monatiger Aufenthalt in Irkutsk, der alles andere als traurig war. Es war, und das wage ich zu behaupten, die beste Zeit meines Lebens. Ich erfuhr viel Neues, erlebte Unvergessliches . Irkutsk, das war ein einziger großartiger und atemraubender Augenblick.

Ich habe die Möglichkeit genutzt und so intensiv und bewusst gelebt wie es nur möglich war. Nicht nur meine Russischkenntnisse haben einen großen Sprung nach vorne gemacht, nein. Irkutsk hat mich zudem noch dazu gebracht, über meine Lebenseinstellung und Denkweise zu reflektieren und sie ein wenig zu ändern. Zum Guten, natürlich. Und dafür bin ich Irkutsk mit all den verrückten und liebenswerten Menschen, die ich dort kennenlernen durfte, dankbar.

Nun aber Schluss mit Abschiedsschmerz.

Seit über 11 Stunden schon sitze ich im Zug. Mein Ziel: Kasan. In knapp drei Tagen komme ich in der Hauptstadt der Republik Tatarstan an. Drei Tage, in denen mir meine betagten Sitznachbarn weiter ihre Meinung über China („bewundernswert und bedrohlich“), den USA („intrigant und böse“), der UdSSR („Ideallösung“) und dem heutigen Russland („korrupt und hoffnungslos, aber unser Vaterland“) ausbreiten werden. Ich habe natürlich schon versucht, einige dieser Annahmen in ein für mich annehmbares Licht zu rücken. Vergeblich. Merke: Jenen zu widersprechen, die in der Sowjetzeit einigermaßen gut gelebt haben und nun mit wenigen hundert Euro Rente im Monat auskommen müssen, ist ein Wagnis. Und lohnt nicht.

Am gleichen Tag, 14.14 Uhr Ortszeit.

31,4 Grad. Ich liege auf meiner Pritsche und schwitze. Ich schwitze einfach vor mich hin. Und klebe. Es ist wirklich heiß, der Sauerstoffgehalt der Luft lässt sich aller Wahrscheinlichkeit nicht einmal mehr messen. Übrigens habe ich es noch besonders gut getroffen: genau mein Abteil ist eines von zweien im ganzen Waggon, dessen Fenster sich nicht öffnen lassen. Ich sehe es positiv und fühle mich einfach wie am Strand. Mein Outfit passt jedenfalls schon dazu.

Nichtsdestotrotz ist es mir immer wieder ein großes Vergnügen, mit der russischen Bahn zu fahren. Wie schon während meiner Fahrt nach St. Petersburg Ende Januar dieses Jahres zieht Sibirien langsam – aber stetig – an meinem Fenster vorbei. Wie damals kann ich mich nicht sattsehen. Ich genieße es. Alles ist grün, fast schön üppig-protzig. Wälder, Wiesen, Dörfer.

Hin und wieder schweifen meine Gedanken aber nach Osten, zurück nach Irkutsk. Ich schätze mich glücklich, dass ich Russland langsam und im Laufe einiger Wochen verlassen und mich dann schließlich durch Osteuropa an eine mir entfremdete Heimat annähern kann.

16. Juni, 9.24 Uhr Ortszeit.

Über Nacht wurde es richtig angenehm in meinem Waggon. Nur mehr 27 Grad zeigt das Thermometer an. Nach über 30 Stunden bei über 30 Grad fühlt sich das wirklich erfrischend an.

Gestern Abend habe ich Krasnojarsk passiert, heute in der Früh Nowosibirsk, eine weitere sibirische Großstadt. Gerade eben verlasse ich Barabinsk. Das, was sich während der längeren Halte auf den Bahnsteigen besonderes kleinerer Bahnhöfe abspielt, gehört neben dem, was sich in den Waggons selbst ereignet, zweifelsohne zu den interessanten Seiten einer Zugfahrt durch Russland.

Babuschkas verkaufen Gemüse, Piroggen, Fisch, Eis, Bier, Vodka, Zeitschriften, ganze fertige Mahlzeiten – und große, flauschige, warme russische Pelzmützen. Zum Buchstabieren: P e l z m ü t z e n . Bei der derzeitigen Hitze glaubte ich an eine Fata Morgana. Einige unerschrockene Russinnen probierten sich aber tatsächlich durch das Sortiment. Und ich stand in Flip-Flops und Badehose daneben und grinste.

Das Zugfahren hängt mir übrigens immer noch nicht zum Hals hinaus. Im Gegenteil: ich finde es ent-spannend (also mit und ohne -ent). Es ist einfach ein gutes Gefühl, mit dem Gedanken aufzuwachen, den ganzen Tag über nirgendwo hin zu müssen und keine Verpflichtungen zu haben. Was mich zum wiederholten Male erstaunt ist, wie sehr sich meine Wahrnehmung von Zeit und Raum während meines Sibirien-Aufenthaltes verändert hat.

Noch vor einem Jahr empfand ich – um ein Beispiel zu nennen - selbst eine Zugfahrt von Salzburg nach Landeck über eine Entfernung von 300 Kilometern in knapp 3 Stunden als lang. Im Vergleich dazu erscheint mir nun Krasnojarsk, die Irkutsk nächstgelegene Großstadt, als nicht allzu weit entfernt und als gute Wahl für ein verlängertes Wochenende; zwischen den beiden Städten liegt übrigens eine 18-stündige Zugfahrt. Es ging sogar soweit, dass ich noch vor vier Tagen mit der Elektritschka (russ. Vorortbahn) von Irkutsk aus 3 Stunden lang in Richtung des Baikalsees gefahren bin um dort 6 Stunden lang zu wandern und dann wieder 3 Stunden zurück nach Irkutsk zu fahren. Damals habe ich nicht einen Gedanken darüber verloren, dass ich diesen Ausflug in Europa als „Zeitverschwendung“ abgetan hätte.

Am gleichen Tag, 21.36 Uhr Ortszeit.

Und wieder neigt sich ein Tag im Zug seinem Ende zu. Irkutsk entfernt sich immer weiter. Europa rückt näher. Schon heute Nacht werde ich die geographische Grenze zwischen Asien und Europa überqueren. Und so allmählich wird mir bewusst, dass dies keine Kaffeefahrt ist. Der Abschied aus Irkutsk ist dieses Mal auf nicht absehbare Zeit endgültig.

In weniger als 20 Stunden aber komme ich in Kasan an. Ablenkung ist von da an garantiert.

17. Juni, 10.55 Uhr Ortszeit.

Es ist eine Notiz wert: Wieder raubte mir Europa den Schlaf. Wir erinnern uns: Auch als ich Ende Januar dieses Jahres nach St. Petersburg gefahren bin, war nach der Überquerung des Urals an Schlaf nicht mehr zu denken. Genau so war es auch diese Nacht: Europa begrüßte mich ächzend, rüttelnd und ruckelnd. Dem nicht genug, wurde ich am Morgen (genau so wie im Jänner) von einem für mich ungewohnten grauen Himmel begrüßt. Außerdem schmecken selbst die Piroggen und der Kwas in Sibirien um Welten besser als auf meinem Mutterkontinent. Einbildung oder nicht, die toska – der Schwermut – treibt mich wohl zu diesen Empfindungen.

In weniger als 3 Stunden komme ich in Kasan an. Dieser Eintrag ist also der letzte meiner Reise über 4000 Kilometer und fünf Zeitzonen in fast drei Tagen von meinem heißgeliebten Irkutsk in die Tataren-Hauptstadt. Nun aber geselle ich mich wieder zu meinen Nachbarn, die semetschki (Sonnenblumenkerne) kauend sehnsüchtig auf mich warten.

18. Juni, 21.20 Uhr Ortszeit.

Nun ist es also wieder da, das vertraute Gefühl in einem Zug zu sitzen. Noch steht sie, die Blechbüchse. Bald aber bewege ich mich weiter in Richtung Westen. Ziel: Moskau.

Ganze 30 Stunden verbrachte ich in Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan. Es war ein gelungener Zwischenstopp in der sich selbst getauften (und bis zum Jahr 2017 urheberrechtlich geschützten) „Dritten Hauptstadt“ Russlands. Aber der Reihe nach:

Zum wiederholten Male kam ich ohne Stadtplan, ja ohne Plan im Kopf, in eine fremde Stadt. Zum wiederholten Male erwies sich dieser unbekümmerte Zugang zum Unbekannten als goldrichtig. Und wie bei meinen letzten Reisen wählte ich auch dieses Mal die Variante Couchsurfing und übernachtete bei einer mir bis zu meiner Ankunft unbekannten Kasanerin. Auch diese Wahl war die einzig richtige.

Meine Couchsurfing-Gastgeberin Ira war eine Klasse für sich: aufgeschlossen, voller unerschöpflicher Energie und Spontanität (-er Lust auf Bier). Außerdem konnte sich ihr Fahrstil locker mit dem verrückter Marschrutka-Fahrer im wilden Irkutsk messen. Es war ein einziges Vergnügen, mit dieser in meinen Augen unkonventionellen Russin, die ein Physik- und Wirtschaftsstudium abgeschlossen hat und gerne einmal spontan mit dem Auto für ein Wochenende ins 800-Kilometer entfernte Moskau (oder noch weiter) fährt, durch Kasan zu ziehen. Durch jene Stadt, die mich durch ihre Schönheit, Aufgeräumtheit, Sauberkeit und europäische Modernität überraschte. Welch ein Hochgefühl, in einem Bus mit Automatikgetriebe und dreisprachiger (russisch-tatarisch-englisch) Haltestellenansage über schlaglöcherfreie Straßen zu fahren!

Ja, Kasan ist eine ruhige und dank der Petro-Rubel wohlhabende Großstadt mit einem herausgeputzten historischen Zentrum inklusive Kreml’. Sie ist aber vor allem eines: multikulturell. Das Sinnbild dafür ist die riesige weiß-blaue Kul-Scharif-Moschee (die größte seiner Art in Europa) innerhalb der Kremlmauern, die fast direkt neben einer russisch-orthodoxen Kirche steht. Kasan (und Tatarstan) ist nämlich das Zentrum des Islams in Russland und gleichzeitig das beste Beispiel dafür, wie dem russischen Zentralstaat ein wenig Eigenständigkeit abgerungen werden kann. Darauf ist man übrigens stolz. Eben dies und das Erscheinungsbild der Stadt selbst – ein bisschen St. Petersburg, ein bisschen Moskau und eine große Prise Orient – macht Kasan interessant und mehr als besuchenswert.

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