Luther-Preis für “Gotteslästerung”?

300px Wittenberg Market square Luther Preis für Gotteslästerung?

Wittenberg, Rathaus und Kirche

Auch in Deutschland ist die rus­si­sche Band Pussy Riot jetzt zum Thema gewor­den. Kurze Zeit nach der Verurteilung zu mehr­jäh­ri­gen Haftstrafen im Arbeitslager wer­den die jun­gen Bürgerrechtlerinnen nun hier­zu­lande der Gotteslästerung bezich­tigt. Die Frauen sind vom Wittenberger Stadtrat für den Luther-Preis 2012 nomi­niert wor­den.

Der Preis wird für „Das uner­schro­ckene Wort“ ver­lie­hen, für die gewagte Meinungsfreiheit und kri­ti­sche Äuße­run­gen gegen den Mainstream. Obwohl der Namensgeber des Preises oft mit def­ti­gen Bemerkungen Widersachern gerne mal die Meinung gesagt hat, mag manch einer (heut­zu­tage) ein sol­ches Verhalten bei den vor­ge­se­he­nen Preisträgerinnen nicht. Es wird ver­sucht, die Aktion in Moskau zu einer „Gotteslästerung“ auf­zu­bla­sen.

An vor­ders­ter Stelle bei der Denunziation dabei sind etli­che Kirchenvertreter, dar­un­ter der bekannte Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemer. Früher war er Bürgerrechtler in der DDR und kämpfte für freie Meinungsäußerung, heute dif­fa­miert er junge Frauen, die er als „anstö­ßig“ bewer­tet, weil sie mutig gegen das reak­tio­näre Bündnis von Staat (wor­un­ter in Russland immer stär­ker aus­schließ­lich das System Putin zu ver­ste­hen ist) und ortho­do­xer Kirche pro­tes­tiert haben. Für Schorlemmer unfass­bar ist, dass bei dem Auftritt der Gruppe in der Moskauer Kathedrale etwa von „Gottes Dreck“ gesun­gen wor­den sei, was er für belei­di­gend hält: „Man stelle sich aber nur mal vor, der Auftritt wäre so im Magdeburger oder im Kölner Dom gesche­hen. Eine Lutherstadt sollte keine Gotteslästerung ehren.“ Nach einem „sol­chen Auftritt“ im Magdeburger oder Kölner Dom wären jedoch keine mehr­jäh­ri­gen Gefängnisstrafen ver­hängt wor­den.

Pussy Riot ist vor allem des­halb beim heu­ti­gen „Zaren“ und sei­nen reli­giö­sen Verbündeten in Ungnade gefal­len, weil die Gruppe im Februar die­ses Jahres in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale mit einem „Punkgebet“ öffent­lich auf­ge­tre­ten ist. Es ging um eine Kritik an Putin, an sei­nem selbst­herr­li­chen anti­de­mo­kra­ti­schen  Gebaren und  vor allem an sei­ner Verbrüderung mit dem ortho­do­xen Klerus. Der Patriarch der Orthodoxen, Kyrill I., hatte kurze Zeit vor dem „Punkgebet“ dazu auf­ge­ru­fen, Putin erneut in das Amt des rus­si­schen Staatsoberhaupts zu wäh­len. Pussy Riot hat diese Wahlunterstützung kri­ti­siert und es gewagt, in der Kathedrale die ortho­do­xen Würdenträger als „Scheiße Gottes“ zu bezeich­nen; und die „Mutter Gottes“ war zudem in einem Stoßgebet auf­ge­for­dert wor­den, einen Wahlsieg Wladimir Putins zu ver­hin­dern und der rus­si­schen Opposition zu hel­fen, ihn zu ver­trei­ben. Wer, wie Kyrill I., sich in das poli­ti­sche Geschäft ein­mischt, muss auch damit rech­nen, dass ihm wider­spro­chen wird – Widerspruch aber scheint die­ser Herr ebenso wenig zu mögen wie Putin selbst.

So etwas reicht in Russland aus, um mehr­jäh­rige Gefängnisstrafen gegen Mütter klei­ner Kinder zu ver­hän­gen. Schnell waren genug Claqeure vor­han­den, die sich in ihren reli­giö­sen Gefühlen ver­letzt fühl­ten und dies laut­hals kund­ta­ten, harte Strafen für die jun­gen Frauen von Pussy Riot for­der­ten und nicht bemerk­ten, dass sie allen­falls „Bauern“ der poli­ti­schen Schachzüge eines nun zum obers­ten Herrscher auf­ge­stie­ge­nen und seine Macht ver­tei­di­gen­den frü­he­ren Geheimdienstmitarbeiters sind.

Nun möch­ten die CDU und die Wittenberger „Allianz der Bürger“ den Beschluss für die Preisverleihung an „Pussy Riot“ wie­der rück­gän­gig machen; dabei spielt zum einen eine plötz­lich ent­deckte Empfindlichkeit für „reli­giöse Gefühle“ eine Rolle – wobei die christlich-demokratischen Wortführer nicht begrei­fen kön­nen oder begrei­fen wol­len, dass sie letzt­lich Putin in die Hände arbei­ten, wenn sie die Ehrung des muti­gen Protestes gegen ihn sabo­tie­ren – zum ande­ren spielt eine Rolle ein fun­da­men­ta­lis­ti­scher Hass auf junge Frauen, die Zeichen für mehr Demokratie in Russland gesetzt haben; anders denn als eine Hasstirade kann man die Äuße­run­gen des Herrn Heiner Friedrich List von der „Allianz der Bürger“ in Wittenberg nicht bezeich­nen. Geäußert hat er, dass er nicht ver­ste­hen könne, dass eine Stadt mit so christ­li­chen Wurzeln wie Wittenberg den Preis “chao­ti­schen Weibern, die ver­mummt in eine Kirche ein­drin­gen, sich dis­kri­mi­nie­rend und belei­di­gend äußern“ ver­lei­hen wolle. „Chaotische Weiber“, und die schafft man am bes­ten gleich weg – weit weg, ins Straflager?

Die (geis­tige) Nähe zu Herrn List scheint Herrn Schorlemmer nicht ganz zu gefal­len, ein wenig ist er zurück geru­dert. Eine so harte Strafe, wie in Russland ver­hängt, mag er dann doch nicht bil­li­gen: man müsse sich für die jun­gen Frauen ein­set­zen, sagte er vor kur­zem gegen­über der Tageszeitung (TAZ), aller­dings mit einer Einschränkung: „Aber nicht für den Scheißdreck, den sie da gesun­gen haben.“ Den könn­ten sie „auf dem Roten Platz anbrin­gen, in einer Badeanstalt oder sonst wo, aber nicht in einer Kirche.“ Kyrill I. hat aber nicht auf dem Roten Platz oder in einer Badeanstalt zur Wiederwahl Wladimir Putins auf­ge­ru­fen. Wenn der Patriarch sein reli­giö­ses Amt miss­braucht, warum dann keine Reaktion dar­auf im reli­giö­sen Haus?

Nun hat Schorlemmer sich wie­der etwas Neues ein­fal­len las­sen. Im Interview mit der TAZ vom 24. Oktober, moniert er: „Mein Hauptvorwurf an diese Pussys ist, dass sie nicht beten, son­dern pro­vo­zie­ren.“ Von Gotteslästerung will er über­haupt nicht gespro­chen haben. In dem Mann denkt es, frag­lich ist nur, was: Gebet statt Provokation – soll das in Russland der Demokratie wei­ter­hel­fen? Schorlemmer scheint ein­fach wei­ter­re­den zu müs­sen, ohne die Zusammenhänge zu begrei­fen. Das Sprichwort, dass Schweigen Gold, Reden aber nur Silber sei, ist wohl in Wittenberg noch nicht bekannt gewor­den.

Deutschland ist jedoch nicht Russland. Hier wird deut­lich und öffent­lich den reli­giö­sen Propagandisten wider­spro­chen. Und nicht nur von Leuten, die kei­nen Gott anbe­ten.

Heiner Geißler, Katholik, der frü­here Jesuiten-Zögling und pro­funde Kenner der christ­li­chen Religion, hat es auf den Punkt gebracht: „Was soll das für ein Gott sein, für den das, was die drei getan haben, Gotteslästerung ist?“ Es komme, so Geißler in einem Spiegel-Gespräch, doch nicht dar­auf an, ob die Gefühle von Gläubigen ver­letzt wor­den seien, Schorlemmer und ähn­lich Argumentierenden gehe es um „ihre eige­nen höchst per­sön­li­chen Gefühle, von denen sie offen­sicht­lich wol­len, dass auch andere sie emp­fin­den.“ Wer so – wie Schorlemmer – gegen die Protestaktion von Pussy Riot agiere – der müsse „eine ganz per­verse Sicht von Gott haben“.

Nun, viel­leicht hat Herr Schorlemmer eine Sicht von Gott, die weni­ger einen lie­ben­den Gott in den Vordergrund stellt und mehr von einem Gott als einem mit der rus­si­schen staat­li­chen Macht ver­bün­de­ten spieß­ge­sel­len­ar­ti­gen Wesen aus­geht.
Letztlich kommt es auf die Vorstellungen von Herrn Schorlemmer und ande­ren Religionsvertretern aber auch nicht an. Pussy Riot hat sich um die Demokratie in Russland ver­dient gemacht. Ohne spek­ta­ku­läre Aktion wäre die Kritik an Staat und Kirche (vor allem bei dem gesteu­er­ten Mediensystem in Russland) unbe­ach­tet geblie­ben. Und selbst wenn man die Wortwahl von Pussy Riot als nicht sehr fein­sin­nig bezeich­nen möchte, so war sie doch klar und ein­deu­tig. Und sie war eine Reaktion auf die gro­ben Beschimpfungen der Opposition durch die Putin-Freunde, auf die Diskriminierungen und Verhaftungen.

Wer mit dem gro­ben Klotz auf­tritt, muss damit rech­nen, dass andere einen gro­ben Keil drauf­set­zen. So ist das eben.

Apropos Gotteslästerung:
Emel Zeynelabidin, die Tochter des Gründers der deut­schen Sektion von Milli Görüs,  erhielt den Luther-Preis im Jahr 2007 wegen ihres Verhaltens im soge­nann­ten Kopftuchstreit: 2005 legte sie nach jah­re­lan­ger Auseinandersetzung mit dem Koran und isla­mi­schen Glaubensregeln ihr Kopftuch ab. Auch sie eine Gotteslästerin?

Es wird bestimmt genug mus­li­mi­sche Schorlemmerer geben, die dies für Gotteslästerung hal­ten. Also: Preis zurück? Nein, selbst­ver­ständ­lich nicht.

Hinweis: Auch Nic hat zu die­sem Thema etwas geschrie­ben: Putin, der Menschenfreund


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