Lustgartens Gedicht: Ein Beispiel für eine misslungene Argumentation

Lustgartens Gedicht: Ein Beispiel für eine misslungene Argumentationvon Thomas Baader

Wenn man in diesem bizarren Streit die Seite der Beischneidungsbefürworter vertritt, gibt es eigentlich nur eine einzige Art der Argumentation, die wirklich stichhaltig ist.

1. Dieses Ritual ist durch die in Deutschland prinzipiell gegebene Religionsfreiheit gestattet.
2. Bestimmte andere religiöse Handlungen sind in Deutschland verboten, weil sie gegen andere Grundrechte verstoßen. Wenn die Beschneidung von Knaben nicht in diese Kategorie fallen soll, dann muss ein Befürworter darauf beharren, dass die Beschneidung harmlos und ungefährlich ist. Damit gäbe es keinen Grund, das in Punkt 1 angeführte Argument einzuschränken.

Ob die Behauptung, die Beschneidung von Jungen sei gefahrlos, aber auch wirklich stimmt, muss anschließend durch wissenschaftliche Verfahren widerlegt oder bestätigt werden. Danach wissen wir, ob die mit diesem Argument einhergehende Behauptung falsch ist oder richtig. Die dänische Studie, die auf häufigere Orgasmusstörungen bei beschnittenen Männern hinweist, legt nahe, dass die Behauptung falsch ist. Andererseits gibt es eine ganze Reihe von Studien, die nach einigen Jahren aufgrund von methodischen Fehlern angezweifelt und durch neuere Studien widerlegt wurden. Es ist also Vorsicht angebracht, aber ganz vom Tisch fegen lässt sich die Wissenschaft trotzdem nicht.

Nochmal: Die in den Punkten 1 und 2 dargelegte Argumentation ist die einzige Art der Argumentation in dieser Debatte, mit der man sich als Beschneidungsbefürworter nicht lächerlich macht und mit der man am Ende Recht haben könnte. Dass es um "Jahrtausende alte Traditionen" geht, kann hingegen als Argument nicht überzeugen, denn es gibt ältere Traditionen als die Beschneidung, die in diesem Land aus rechtlichen Gründen nicht möglich sind.

Werfen wir nun einen Blick auf eine Art der Argumentation, die ganz und gar nicht funktioniert:

Auf der Achse des Guten hat Katharina Lustgarten ein Gedicht geschrieben (http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/aus_aktuellem_anlass1/). Das Gedicht stellt eine Pro-Beschneidung-Positionierung dar. Wir wollen es Schritt für Schritt durchgehen:

Kaum wurd’s um Günter etwas leiser
(den Grass’schen Judenwadenbeißer)
Entflammt erneut eine Debatte
(Niveau? hängt tiefer noch die Latte
!)

Es beginnt mit einer Kritik an Günter Grass, der ich voll und ganz zustimme. Der Verweis auf das Niveau der Debatte in der vierten Zeile der ersten Strophe stellt eine Meinung dar, die man natürlich haben darf, aber noch kein Argument.

Es geht um Haut, auch noch um nackte
(Nein, nicht die Hochglanzzeitungsakte)
Die Vorhaut, die die bösen Juden
Beschneiden bei den kleinen Buben!

Die Formulierung "die bösen Juden" legt nahe, dass es um Diffamierung geht. In der Tat gibt es in der Debatte auch an diversen Stellen antisemitische Töne. Sie dominieren die Debatte aber nicht.

Und dies barbarisch-blut’ge Metzgen
Dem guten Deutschen ist Entsetzen!
Aus Stadt und Land und Schrebergärten
Tönen nun Stimmen von Experten

Eine Beschreibung der Vorgänge, in anklagendem Ton gehalten, aber bisher noch kein Argument.

Dass dieses jetzt gehört verboten,
Man sei nicht mehr bei den Zeloten!
Sie echauffier’n sich als sei gar
die eigne Vorhaut in Gefahr!

Hier finden wir das Argument "Die eigene Vorhaut der Kritiker ist ja gar nicht in Gefahr". Das hat allerdings auch niemand behauptet. Aber wenn wir über Kopftücher diskutieren, sind wir auch nicht in Gefahr, dass wir selbst verschleiert werden sollen. Das Argument entlarvt sich daher schnell als billige Polemik.

Sie labern sich die Köpfe heiß
Als hätten’s keinen eignen Scheiß
Über den man reden könnte,
wie Piusbrüder, Priesterhände

An dieser Stelle bedient sich Frau Lustgarten einer klassischen Tu-quoque-Argumentation (wer dazu gerne Einzelheiten nachlesen möchte, siehe hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Tu_quoque). Sie will sagen: Ihr könnt nicht über das reden, was wir tun, solange ihr nicht bei euch selbst aufräumt. An dieser Stelle erfindet Frau Lustgarten ein Tabuthema, das es selbstverständlich gar nicht gibt: Es würde in Deutschland nicht über die Piusbrüder gesprochen. Das Wort "Priesterhände" bezieht sich möglicherweise auf sexuellen Missbrauch in katholischen Einrichtungen, was durch die nächste Strophe bestätigt wird. Auch baut Frau Lustgarten einen Popanz auf, denn selbstverständlich wurde auch dieses Thema in den deutschen Medien lang und breit behandelt. Das Argumentationsmuster "Ihr dürft nicht über die Beschneidung reden, solange ihr nicht über Piusbrüder und Untaten von Priester gesprochen habt", verfängt nicht, weil über die letztgenannten Themen sehr detailliert in Deutschland gesprochen wurde. Um mit den Worten des Gedichts zu arbeiten: Man hat in der Tat "eigenen Scheiß" aber da dieser eigene Scheiß genauso wenig tabuisiert wurde wie jetzt die Debatte über Beschneidungen, liegt hier keine Doppelmoral seitens der Gesellschaft vor, sondern im Gegenteil eine Gleichbehandlung.

Die unter den Messdienerröcken
Die (unbeschnitt’nen) Schmöckel löcken
Ganz aktuell wär auf dem Plan
Die Mafia im Vatikan!

Die Tu-quoque-Argumentation der vorherigen Strophe wird hier weitergeführt.

Das scheint sie nicht so sehr zu jucken
Wie Juden in die Suppe spucken
Der Michel wird glatt eloquent
Wenn’s aus dem Bauch heraus ihm denkt

Der Behauptung der ersten Zeile dieser Strophe wurde bereits oben widerlegt.

Und endlich, meint er, DARF er’s sagen
Ja sogar schreiben darf er wagen:
liest man das säbelnde Gerassel
das aus den Darmgängen sich windet,
als Leserbrief zur Zeitung findet,
dann scheinen nun die Kellerassel
die Juden und die Küchenschaben
gleichen Beliebtheitsgrad zu haben.

Wenn Frau Lustgarten hiermit auf antisemitische Töne anspricht, dies es in Leserbriefen gibt, so hat sie an dierser Stelle recht. Allerdings lassen sich diese Misstöne in der Debatte nicht einfach pauschalisierend auf die gesamte Gegenseite übertragen.

Was soll’s, das alles ist nicht neu
Doch bitte höre, lieber Goi,
Ob Vorhaut ab, ob Vorhaut dran,
Das geht dich einfach gar nichts an.

Wikipedia belehrt uns, dass die Anrede "Goi" durchaus pejorativ verstanden werden kann. Wir wollen an dieser Stelle nicht überempfindlich sein und zugunsten von Frau Lustgarten annehmen, dass in ihrem Fall diese Äußerung keine Abwertung enthält. Allerdings ist sie durch ihre Missverständlichkeit schon eher unglücklich in einer Debatte, in der man gerade selbst die Misstöne beklagt.
Dass die ganze Angelegenheit niemanden etwas angeht, ist das letztgenannte Argument. Es ist in der Tat ein äußerst unglückliches Argument. Übrigens könnte man genauso gut auf dem Standpunkt stehen, dass beschnittene nicht-jüdische und nicht-muslimische Männer irgendwie mitbetroffen sind und mitdiskutieren dürfen, währendsich  Frau Lustgarten als unbeschnittene Frau
eher zurückhalten müsste. Diese Art der Argumentation wäre nicht weniger bizarr als die Argmentation von Frau Lustgarten selbst.
Das "Geht dich nichts an"-Argument begegnet uns in vielen Debatten und war bisher jedes Mal falsch. Es taucht meistens eher dann auf, wenn dem Sprecher stichhaltige Argumerte ausgehen. Die Autoren der "Achse des Guten" selbst lassen sich jedenfalls bei einer ganzen Reihe anderer Themen den Mund nicht durch dieses Argument verbieten. Oder was gehen eigentlich deutsche Juden, Christen und Atheisten die Schweizer Minarette an?

"Jeder darf jeden kritiseren"
- Henryk Broder in einer Fernsehsendung

Die Art und Weise, wie Frau Lustgarten argumentiert, ist eher dazu angetan, ihrem eigenen Anliegen zu schaden. Eine sachliche Argumentation könnte einzig und allein im oben genannten Sinne in dem Beharren auf der Ungefährlichkeit der Beschneidung liegen, wobei diese Behauptung sich natürlich nicht der Beweispflicht entzieht. Dass es natürlich auch auf der Gegenseite unsachliche Argumente gibt, sollte nicht unerwähnt bleiben. Insgesamt lässt sich aber jetzt schon feststellen, dass diese Debatte auf der "Achse des Guten" sehr viel emotionaler geführt wird als frühere Debatten. Warten wir ab, ob das so bleibt.

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