„Die gefährlichsten Krankheiten sind die, die uns glauben machen, es ginge uns gut.“
So lautet er, der zweiundvierzigste Spruch im ‘Book of Shhh’ oder, zu deutsch, im Handbuch für Sicherheit, Gesundheit und Glück.
Die schlimmste dieser Krankheiten ist natürlich Amor Deliria Nervosa, die Liebe. Deshalb scheint es so ein riesiges Glück, dass es vor einigen Jahren einer Gruppe von Wissenschaftlern gelang, eine Lösung zu finden, ein Heilmittel gegen die Liebe.
Dieser Heilung, einer Operation, unter Narkose ausgeführt, bei der die Liebe und damit alle Empfindungen mit ein paar Schnitten aus dem Gehirn entfernt werden, muss sich jeder US-Staatsbürger mit 18 Jahren unterziehen. Zuvor wird er einer Prüfung unterzogen und schließlich mit dem individuell passenden Partner verkuppelt. Sicherheit, Wohlstand und Fortbestehen der Nation sind damit gesichert, die Kriminalitätsrate liegt bei fast null und jeder erhält das Recht, auf ganz einfache Weise glücklich und ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft zu sein.
Kein Wunder, dass Lena, die Hauptperson in Lauren Olivers „Delirium – What if love were a disease?“, sich ihre Heilung seit sie denken kann herbeisehnt wie nichts anderes auf der Welt. Normal sein, das ist alles, was sie möchte – und bei der Vergangenheit auch kein Wunder…
Lenas Vater verschwand spurlos, als sie selbst noch ein kleines Kind war. Ihre Mutter, zutiefst infiziert mit der Deliria, nimmt sich das Leben und hinterlässt Lena und deren ältere Schwester Rachel, die zur Tante Carol abgeschoben werden. Fortan wird Lenas Leben geprägt von der ständigen Abneigung und Verachtung ihrer Mitmenschen, da sie die Tochter einer Infizierten und damit beinahe selbst eine Ausgestoßene ist…
Olivers Roman „Delirium“ beginnt schleppend und doch nicht ohne Potenzial. Die Autorin zeichnet das verstörende Bild einer Welt ohne Liebe, einer Welt, in der Jugendlichen die Zukunft verbaut wird, weil sie Rot oder Grau als Lieblingsfarbe angeben und nicht etwa Blau und Grün oder weil sie „Romeo und Julia“ mögen, weil es Kunst ist und nicht für die detailgetreue Darstellung der Gefahren der Liebe. Dennoch verläuft sich dieses Potenzial ziemlich schnell in eine altbackene und vorhersehbare Liebesgeschichte…
Denn wer hätte das bitte erwartet?! Die so konforme Lena kommt durch ihre beste Freundin Hana in Kontakt mit dem Widerstand. Natürlich in ganz kleinen Schritten, damit die Entwicklung Lenas auch gut nachvollziehbar erscheint: Man bricht beim Rennen mehr aus Mitläuferschaft in ein Gelände des Staats ein, man besucht ein verbotenes Konzert, um der Freundin zu zeigen, dass man doch kein Feigling ist und zack, wer hätte das nun wieder gedacht? Die ach so brave Lena lernt einen Jungen kennen – obwohl der Kontakt zwischen Mädchen und Jungen vor der Heilung in dieser Zukunftsversion unserer Welt natürlich strengstens verboten ist, verliebt sich in ihn und wird plötzlich zur größten Gegnerin des Systems.
Würde Frau Oliver diese Liebesgeschichte nur als Aufhänger benutzen – man könnte es ihr verzeihen. Denn sind wir mal ehrlich, so ganz ohne Liebe und Drama geht es dann doch nicht und wenn sie uns schon das fürchterliche Bild einer Welt ohne Liebe aufdrückt, wollen wir nebenbei gerne noch ein wenig Herzschmerz geliefert bekommen.
Das Problem an der Sache ist nur, dass „Delirium“ sich in dieser Liebesgeschichte verliert, dass die Dystopie irgendwo verloren geht – in den seitenlangen Beschreibungen von den wundervollen Sommernachmittagen von Lena und Alex und in Lenas so philosophischen Gedanken über die Welt und das Leben – ganz so bahnbrechend sind die nämlich auch nicht – und in der wahnwitzigen Einfachheit, mit der Lena und ihr Alex sich durch den Sommer navigieren, obwohl diese Art von Kontakt strengstens verboten ist.
Damit zieht sich die Geschichte von „Delirium“ in die Länge wie ein altes Kaugummi, ist im Übrigen genauso spannend und obwohl man eigentlich genau weiß, wie alles enden wird, liest man bis zum Schluss – man will den Glauben an die Menschheit ja doch nicht aufgeben. Sollte man vielleicht, denn „Delirium“ endet genauso wie unzählige vor ihm – in einer melodramatischen und wahnsinnig unrealistischen Verfolgungsjagd mit blutigem, herzzereißendem Ende und einer philosophischen Lena, die so richtig Lust auf den nächsten Band in der Trilogie macht.
Lesen werde ich den vermutlich trotzdem, immerhin bietet dieses Buch und die darin entwickelte Welt ein großes Potenzial und auch nach fast 400 Seiten glaube ich an das Können von Frau Oliver. Und falls der zweite Band, wie so oft, schlechter wird – na dann hab ich wieder was zum Aufregen. Gott sei Dank lebe ich in einer Welt, in der man sich wenigstens noch aufregen darf.