Im Literaturhaus Hannover finden wieder spannende Lesungen statt, heute gebe ich wieder einmal einen Überblick. Im Oktober habe ich nicht alle (bisherigen) Lesungen besucht - nur von Özdogan und Bragi habe ich eigene Eindrücke.
Zwei Feministinnen - Helke Sander und Barbara Duden - haben im Rahmen der Reihe "Resonanzen" am 5.10. über ihren Umgang mit dem Altern gesprochen; provokanter Titel: "Der letzte Geschlechtsverkehr" (so nennt die Filmemacherin Sander ihr neues Buch). Der Andrang war außerordentlich groß, vorwiegend von Frauen natürlich. Der Abend soll aber, wie mir berichtet wurde, nicht in gewohntem Maße gelungen sein: Die beiden kamen nicht genügend ins Gespräch, gelesen wurde zu wenig, die Moderatorin Jutta Rinas machte im Bemühen, die Gäste zum Sprechen zu bringen, selber zu viele Worte.
Und am 7. Oktober war wieder einmal Heiko Postma an der Reihe; diesmal entwarf er ein Porträt des Iren Flann O'Brien aus Anlass seines 100. Geburtstages, gewürzt mit vielen, oft humorvollen Textauszügen. Postmas beeindruckende Vortragskunst ließ sicherlich einen höchst vergnüglichen Abend daraus werden.
Im Rahmen des Festivals "Yakamoz" besuchte der deutsch-türkische Autor Selim Özdoğan aus Köln Hannover. (Yakamoz übrigens, das eines der schönsten Wörter der Welt sein soll, bedeutet etwa: Widerspiegelung des Mondes im Wasser.) In seinem neuen Buch "Heimstraße 52" schildert er aus Güls weiblicher Sicht die Situation einer Gastarbeiterfamilie, die sich vom Anwerbeabkommen hatte nach Deutschland locken lassen - und eigentlich bald wieder in die Türkei zurück wollte und eigentlich auch nach zwei Jahren in die Türkei zurück sollte (vorgeschriebenes Rotationsverfahren). In seinen Zwischenbemerkungen stellte der Autor in Frage, was es denn an dem Jubiläum "50 Jahre Anwerbeabkommen" überhaupt zu feiern gebe? Soll man beispielsweise feiern, dass die rigiden Bestimmungen - wie etwa die Rotation - dann gar nicht eingehalten wurden? Doch zu dem Buch - Zitate aus den Verlagstexten: "Lang war die Reise, lang wie die Reisen in Märchen. Gül hat Tage gebraucht, um nach Deutschland zu kommen, und sie weiß noch nicht, dass die Jahre wie Wasser dahinfließen werden, bis ihr Haus in der Türkei gebaut ist und sie zurückkehren kann.
Bis dahin lernt sie alle Arten der Sehnsucht kennen: die nach ihren beiden Töchtern, nach ihrem Vater, dem Schmied, nach Düften und Farben und Früchten. Doch unmerklich wird die Heimstraße in diesem kalten, unverständlichen Land zu einer anderen Heimat.
'Euer Leben wird in der Fremde vergehen', warnt man sie. Aber die ganze Welt ist eine Fremde, wenn man nicht bei den Seinen ist. Geht es ihren Töchtern gut, ist Gül, als hätte das Leben keine Grenzen mehr. Wer ihre geduldige Zuversicht kennt, muss dem Stoßseufzer einer Freundin zustimmen: 'Dank sei dem Herrn für dieses Herz, in dem alle Platz haben.'" Und - eine Kennzeichnung, der ich völlig zustimmen kann -: "In einer bildreichen Sprache und kurzen, eindringlichen Sätzen, die große Gefühle bergen, beschreibt der Autor Güls Leben und das Schicksal ihrere Familie im fremden Deutschland der 1960er Jahre."
Der Roman "Heimstraße 52" von Selim Özdoğan hat mich sehr angesprochen: Die relativ schlichte Sprache ohne überflüssiges Pathos lässt dennoch die großen Gefühle hindurchleuchten und regt in frei lassender Weise die Fantasie an - sehr empfehlenswert. Wer eine Leseprobe (Seite 49 ist wiedergegeben) und Hörproben (von anderen Texten) möchte, der sollte die Heimseite des Autors aufrufen: http://www.selimoezdogan.de/
Der Artikel wird fortgesetzt.