Im Rahmen des Literaturfestes Niedersachsen 2015 - über dessen Eröffnungsabend ich hier berichtet habe - war am 15. September wieder Hannover an der Reihe. Im Literarischen Salon wurde das Buch "Ich bin China" von Xiaolu Guo vorgestellt. Genau genommen, war es eine Dreifach-Veranstaltung: der Eröffnungsabend des Literarischen Salons nach der Sommerpause; ein Abend der Reihe "Atlas der Literaturen"; und eben ein Teil des Literaturfestes Niedersachsen. "Über den Dächern der Stadt im 14. Stock des Conti-Hochhauses lassen Autorin Xiaolu Guo, Schauspielerin Julia Schmalbrock und Literaturkritiker Gregor Dotzauer den Blick nach China schweifen und nehmen das Publikum mit in ferne Welten. Mu und Jian, ein junges Liebespaar, sind Teil einer subversiven Künstlerszene in China. ... Die beiden Liebenden kämpfen gegen die politische Unterdrückung und für das Abenteuer der Freiheit – bis sie die zerstörerische Kraft der chinesischen Staatsmacht zu spüren bekommen und nicht länger in ihrem Land bleiben können" (Zitat aus dem Pressetext des Veranstalters).
Ein sehr bereichernder Abend! Der einmal mehr verdeutlicht, dass alles Andersartige - sog. Fremde -, das zu uns kommt, unsere Kultur reich macht - angesichts der aktuellen Debatten darf das immer wieder vor Augen geführt werden. Die Autorin las ein Stück aus dem englischsprachigen Original, die Schauspielerin Julia Schmalbrock las mehrere Teile aus der deutschen Übersetzung von Anne Rademacher (in einer angenehm zurückhaltenden, aber auch emotionalen gepflegten Sprache), Gregor Dotzauer führte längere Gespräche mit der Autorin, die ausführliche und manches Mal humorvolle Antworten gab - die englischsprachigen Fragen und Antworten wurden simultan übersetzt (Respekt vor der Simultandolmetscherin, deren Namen ich hier gerne nennen würde - wenn ich ihn noch erfahre, werde ich ihn nachtragen). Kritisch anmerken möchte ich, dass die Gesprächsteile - gesteuert vom Moderator - zu lang geraten waren - das Publikum hätte gerne mehr aus dem Roman gehört, worauf die Schauspielerin auch vorbereitet war.
Was in der eben zitierten Inhaltsangabe des Romans nicht deutlich wurde: Die Struktur des Romans ist mehrschichtig - die Erzählung ist als Briefroman gestaltet (ein altes, heute eher ungewöhnliches Verfahren) und wird im Rückblick von einer jungen Übersetzerin entwickelt, die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen der beiden Protagonisten in die Hände bekommt. Ich zitiere die Zusammenfassung des Internationalen Literaturfestivals Berlin 2015:
"Guos jüngster Roman »I Am China« (2014; dt. »Ich bin China«, 2015) bedient sich eines metafiktionalen Kniffs und kreiert, über Sprachen und Kontinente hinweg, eine aktuelle Variation des traditionellen Briefromans. Von einem Verleger erhält die junge Londoner Übersetzerin Iona ein Bündel chinesischer Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. Sukzessive offenbart ihre Übertragung der Korrespondenz die Liebesgeschichte zwischen dem Musiker Jian und der aus dem Süden stammenden Studentin Mu, die sich kurz nach dem Tian’anmen-Massaker an der Pekinger Universität kennenlernten. Nachdem Jian bei einem Konzert ein Manifest verteilt hat, wird er zunächst inhaftiert und später ins Exil gezwungen. Unterdessen versucht Mu sehnsüchtig ihn ausfindig machen. Wiederholt tangiert Guo die Entwicklung der Demokratiebewegung einschließlich der Jasmin-Proteste vom Februar 2011 und kontrastiert das Aufbegehren gegen staatliche Repressionen– insbesondere Jians Haltung, dass »Kunst einer Politik der fortwährenden Revolution« gleiche – mit der in Ionas Wahrnehmung an Gleichgültigkeit grenzenden englischen Abgeklärtheit. Letztendlich beschließt Iona, aus der passiven Zeugenschaft auszubrechen und sich für das seltsam vertraut gewordene Paar zu engagieren. Dieser unmittelbar veranschaulichte Geisteswandel demonstriert nicht zuletzt die politische Dimension ihrer Lektüre."
Der Titel des Romans nimmt Bezug auf das Verhältnis des Individuums zur Staatsmacht - er kennzeichnet eher Wunschdenken als die chinesische Realität, an der sich auch nach Öffnung zum Kapitalismus wenig ändern wird. Xiaolu Guo selber sagt dazu: "Als ich den Roman begann, hatte ich vor, ihn einem meiner großen Helden zu widmen, Allen Ginsberg. Alle wunderten sich sehr darüber, dass ich von Ginsbergs Gedicht "America" aus dem Jahr 1956 so hingerissen war. Schon als Teenager kannte ich es bis auf den letzten Vers auswendig. Und dann gab es da noch diese komische kleine Hippie-Band in London, in der ich die Ukulele spielte. Bei jedem Auftritt performte ich eine Coverversion von Allen Ginsbergs "America". Es gibt einen Vers in diesem Gedicht, der lautet: "It occurs to me that I am America", "Es wird mir klar, dass ich Amerika bin". Dieses Gedicht handelt von der Beziehung zwischen Staat und Individuum. Und das ist absolut keine gegenseitige Liebesbeziehung. Darin beutet der Staat vorrangig das Individuum aus, im Namen Amerikas. Und ich denke, das ist genau das, was in China passiert. Wir sind als Chinesen gefragt - aber wo existiert wirkliche Freiheit in China, für uns, als Chinesen? Ich finde, dieses Gedicht passt perfekt zu dem, was mit China los ist. Deshalb musste ich es am Ende meines Romans benutzen. Und ich musste den Titel "Ich bin China" benutzen, in Analogie zu "Ich bin Amerika" in Ginsbergs Gedicht" - aus einem Interview mit der Deutschen Welle, das nachzulesen ich sehr empfehlen möchte, denn es enthält vieles von dem, was die Autorin auch an dem Abend im Literarischen Salon an Antworten gegeben hat.
Ein weiteres Zitat als Antwort auf den Vergleich zur aktuellen Situation in Europa: "Ich lebe als chinesische Künstlerin in Europa im Exil. Ich habe in London, dann in Berlin, Hamburg und Paris gelebt, und jetzt bin ich Gastautorin in Zürich. Ich kann also in Europa leben, aber meine Situation ist immer noch die des Exils - was bedeutet, dass meine Werke nicht in China veröffentlicht werden können und dass ich aktuell auch nicht wirklich in China leben kann. Daher, wenn Sie von Flüchtlingen sprechen, dann ist mir dieses Thema alles andere als unvertraut. In meinem letzten Roman "Ich bin China" geht es sehr viel um identitätsloses Dahintreiben, jene vollkommene Entwurzelung und Trostlosigkeit, nachdem man seine Heimat verlassen musste."
Xiaolu Guo wurde 1973 geboren und studierte an der Filmakademie in Peking sowie an der National Film and TV School in London. Ihre Drehbücher wurden zwar prämiert, konnten allerdings wegen der Zensur in China nicht verfilmt werden. Seit 2002 lebt sie hauptsächlich in London. Sie arbeitet als Filmemacherin (als Regisseurin und Autorin von Filmen mit Dokumentarcharakter) und als Schriftstellerin. Zur Zeit ist sie Writer in Residence des Literaturhauses Zürich.
Die nächsten Termine des Literaturfestes Niedersachsen: "Schaurig ist's übers Moor zu gehen - Literarische Nachtwanderung" in Sögel, Schloss Clemenswerth, am 18. September und in Gartow am 19. September; "Die Schatzinsel - (fast) komplett" am 19. September in Leer auf dem Ems-Traumschiff Warsteiner Admiral; "Dem Abenteuer auf der Spur" in Uslar am 20. September. Weitere Informationen auf der Seite des Literaturfestes Niedersachsen.
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover - Zitate wie angegeben; Foto: Christian Sinibaldi.