Inzwischen ist die LiteraTour Nord 2015-2016 mit den Lesungen von Alban Nikolai Herbst und Judith Kuckart zu Ende gegangen. Wer wird den Preis bekommen? Auch diesmal hat die Jury wieder eine reizvolle Auswahl getroffen.
Das ist schon ein merkwürdiges "Traumschiff", auf dem Gregor Lanmeister durch die Welt reist. 144 der rund 500 Passagiere sind Auserwählte mit einem besonderen Bewusstsein, keine, keiner wird je zurückkehren. Ein Totenschiff? Ein Narrenschiff (nach Sebastian Brants Roman von 1494)? Nicht zum ersten Mal dient das Schiff als Metapher für den Übergang vom Leben in den sogenannten Tod - nur kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Übergangsreise heutzutage besonders lange dauert und damit zur Metapher für die vom Fortschritt der Medizin zusätzlich geschenkte Lebenszeit wird. Ein Anliegen des Autors ist offenbar das Verhältnis zwischen Realität und erzählerischer Freiheit, oder - wie er es sinngemäß ausdrückt -, die Realitätskraft der Fiktion auszuloten. Wie überhaupt dieser Autor gut über seine Arbeit Auskunft geben kann (er weiß, was er tut) - das scherenschnittartige Schwarz-Weiß liegt ihm weniger; er möchte das ändern, dass wir für die Übergänge, die Zwischentöne, das Abschiednehmen kaum eine Sprache haben. Die Moderatorin Gabriela Jaskula empfiehlt deshalb auch, Nacht für Nacht in dem Buch zu lesen, mensch komme dabei in eine andere Realität, Herbsts Text werde immer luzider - grundsätzlich haben seine Texte eine lyrische Tendenz (Herbst schreibt und übersetzt auch Gedichte), eine melodische Sprache, sind oft auch humorvoll. Was ist gemeint mit dem "anderen Bewusstsein", das die "auserwählten" Passagiere haben? Im Gespräch sagt Herbst, Bewusstsein sei Gegenwärtigkeit (ein Wort, das zu sperrig wirkt, um es in einem Roman zu verwenden). Das kann ich gut nachvollziehen: Menschen, die auf der Reise über die Todesschwelle (noch) leben, können an der Vergangenheit nichts ändern und haben immer weniger Zukunft (in diesem irdischen Leben), nur die Gegenwart können sie gestaltend aus- und beleben. Selbst in den Bereichen, in denen die Einflussmöglichkeiten fast gleich Null sind - eine der bewegendsten Szenen des Buches ist die Schilderung des Umgangs einer Pflegerin mit der Hauptperson, die inzwischen im Rollstuhl sitzt, und der begleitenden Empfindungen und Missempfindungen (Herbst liest diesen Abschnitt zusätzlich aufgrund einer Leserbemerkung im Gesprächsteil). Wie eine Schriftstellerin, ein Schriftsteller so etwas dermaßen präzise - frei von Tabus - nachgestalten kann, ist mir ein Rätsel. Was die Realitätsnähe betrifft: Alban Nikolai Herbst hat zu Recherchezwecken selber zwei Kreuzfahrten mitgemacht.
Einen ganz anderen Charakter hat das Buch von Judith Kuckart mit dem barocken Titel "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück" (wie ja momentan überhaupt lange Titel im Barockstil Mode sind). Wie die Autorin im Gesprächsteil erzählt, hat der Titel einen autobiografischen Hintergrund, denn sie ist in der Nähe der belgischen Grenze aufgewachsen und hat sich als Kind mit einer Freundin zusammen einen Sport daraus gemacht, eines Tages heimlich die Grenze zu überschreiten. Judith Kuckarts "Roman" ist überhaupt kein Roman, der Verlag hätte besser den Untertitel "Erzählungen" gewählt, er hat sich hier gegen den Willen der Autorin entschieden. Immerhin gibt es einige Motive, die mehrfach auftauchen, die die Geschichten miteinander verbinden, beispielsweise taucht mehrmals eine bestimmte Bäckerei auf; in der einen Geschichte gibt es ein Paar aus einem Bungalow in der Nachbarschaft, das die Mutter "spätes Glück" nennt; eine andere Geschichte ist "spätes Glück" überschrieben und erzählt von der letzten der alljährlichen Reisen eines alten Paares (hier zwei Frauen) in ein tschechisches Kurhotel. Durch diese Art der Verzahnung soll, sagt die Autorin, bei Leserin, Leser ein "Déjà-vu-Effekt" erzeugt werden. Bemerkungen wie diese deuten darauf hin, dass sie beim Schreiben sehr bewusst komponiert - und weisen damit auf ihren zweiten Hauptberuf zurück: Judith Kuckart arbeitet, wenn sie sich nicht dem Schreiben widmet, als Regisseurin; tut sie das eine, sehnt sie sich nach dem anderen. Ihre Erzählungen sind ohne Frage von der Filmarbeit beeinflusst, ein knapper, präziser Schreibstil, manchmal filmartige Sequenzen mit raschen Schnitten. "In einem Reigen aus elf Episoden", sagt der Rückseitentext, "erleben die Menschen in diesem Buch Unerhörtes. Es stößt ihnen zu wie ein Unfall oder ein Liebesbrief aus der Vergangenheit. Es gibt ihrem Leben eine unerwartete Wendung und eine Ahnung, dass alles zusammengehört: Lust und Schrecken, Liebe und Tod, Schuld und Glück". Die Schlichtheit der Erzählung "Nylonkittel", aus der die Autorin auch vortrug, hat mir gut gefallen.
Die feierliche Verleihung des Preises der LiterTour Nord wird am 21. April 2016 ab 19 Uhr in der Räumen der VGH-Versicherungen, Schiffgraben 4, stattfinden. Es lohnt sich, den Termin vorzumerken - die Preisträgerin, der Preisträger wird etwas Unveröffentlichtes vorstellen, so ist es Brauch.
Die Bilder zeigen die Titelbilder, wie sie von den beiden Verlagen gestaltet wurden. Text: Helge Mücke, Hannover.