Von Stefan Sasse
Im Umfeld der Landtagswahl im Saarland beklagte sich FDP-Generalsekretär Döring über die "Tyrannei der Masse", die er im Zuge der Wahlerfolge der Piratenpartei heraufdräuen sau. Es muss ihm später aufgefallen sein, dass diese Aussage nicht ganz clever war und, höflich ausgedrückt, missverstanden werden könnte, weswegen er sie in der ZDF-Fragerunde spezifizierte: mit "Tyrannei der Masse" sei gemeint gewesen, dass die Debatte im Netz bei aller Auffälligkeit und Dominanz im öffentlichen Diskurs nicht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung repräsentieren müsse und daher einen Entscheidungsdruck schaffe, der gewissermaßen nicht demokratisch legitimiert sei. In ein ähnliches Horn stieß Boris Palmer in einem Gast-Artikel in der ZEIT, in der argumentierte, dass die Piraten nicht nur derzeit kein echtes Programm hätten und für nichts stünden, sondern quasi immer undefinierbar seien, weil über Liquid Feedback und andere Kanäle ja die Basis permanent das Bestehende per Mehrheitsbeschluss umwerfen könnte. Abschließend stellt er fest, dass dies eine parlamentarische Mitarbeit der Piraten enorm erschwere und Regierungsarbeit praktisch unmöglich mache. Sowohl Palmer als auch Döring sind politische Profis und wissen, wie man eine Schwachstelle beim politischen Gegner ausnutzen kann. Am effektivsten sind solche Manöver immer, wenn sie ein Körnchen Wahrheit beinhalten. Das ist auch hier der Fall.
Selbstverständlich ist es geradezu lächerlich von Döring, die Stuttgart21-Proteste als Beispiel für einen "virtuellen" Protest herzunehmen, der nur im Internet stattgefunden habe, was umso dümmer für ihn ist, als dass S21 ein ziemlich gutes Beispiel darstellt. Die Gegner hatten wesentlich mehr Medienaufmerksamkeit als die Befürworter, verloren die Abstimmung aber mehr als deutlich. Dummerweise spielten dabei weder Internet noch Piratenpartei eine entscheidende Rolle, was Dörings Narrativ deutlich entwertet. Palmer lässt sich auf solche Spielchen erst gar nicht ein und argumentiert allgemeiner, indem er die politischen Prozesse einer parlamentarischen Demokratie heranzieht. Er muss es wissen; die Grünen haben einst selbst versucht, sich gegen sie aufzulehnen, und sein Vater ist der personifizierte Oppositionsprotest.
Die Verwendung von Internet-Entscheidungsfindungen ist prinzipiell eine logische Konsequenz technologischer Entwicklungen und demokratischer Prinzipien. Dieser Sachverhalt wird weder von Döring noch von Palmer behandelt. Eine theoretisch mögliche Mitsprache aller Bürger war früher eine reine Utopie, weil technisch nicht machbar - wie auch? Per DSDS-kompatiblem Telefonanruf für nur 2,50€ die Minute, mit unterschiedlichen Nummern für die jeweiligen Auswahlentscheidungen? Oder gar per Briefwahl? Die Post würde es freuen, aber die Dauer und Kosten allein schieben dem einen Riegel vor. Sämtliche Zugangshürden dieser Art aber werden mit einem Breitbandanschluss hinfällig, der inzwischen von praktisch jedem Experten-Gremium zum Existenzminimum gerechnet werden muss. Vor dem raketenhaften Aufstieg der Piratenpartei war die Partizipationsdebatte im Web 2.0 hauptsächlich auf die Medien beschränkt, die in all den Blogs und sozialen Netzwerken (zurecht) eine Gefährdung ihres Meinungsmonopols sahen. Nun schicken sich die Piraten an, mit einem Partizipationskonzept auch das Monopol der Funktionäre auf die praktische Gestaltung von Politik zu durchbrechen. Wie jede Revolution bringt das Probleme mit sich. Diese Probleme existieren unzweifelhaft, und mit dieser Kritik haben Döring und Palmer, das sei gleich vorab gesagt, vollkommen Recht. Ihr Problem, wozu wir am Ende des Artikels kommen werden, ist, dass sie die falschen Schlussfolgerungen ziehen. Aber der Reihe nach.
Wie jede Technologie ist auch Liquid Feedback (oder was auch immer ihm nachfolgen wird) eine neutrale Sache. Es kann zu guten wie zu schlechten Zwecken eingesetzt werden. Das Internet bietet sowohl progressiven Demokraten als auch hetzerischen Extremisten eine Plattform. Ein Medium kann also nicht per se gut oder schlecht sein. Es kommt auf die Nutzer an. Diese Wahrheit ist banal, aber sie muss angesichts des Niveaus dieser Debatte leider noch einmal ausbuchstabiert werden. Die Verwendung von Internetpartizipation in der Politik, für die Liquid Feedback im Weiteren pars pro toto steht, hat zwei große Anwendungsfelder, die derzeit in der öffentlichen Debatte teils bewusst, teils unbewusst verwischt werden. Das eine Anwendungsfeld ist das Festlegen von Positionen, etwa dem Parteiprogramm. Liquid Feedback wird hier verwendet, um allen Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, am Entstehungsprozess von programmatischen Positionen mitzuwirken, anstatt dies Gremien und Ausschüssen auf Parteitagen zu überlassen, die nach strengen Proporzregeln zusammengesetzt sind. Das zweite Anwendungsfeld ist die Nutzung für "kleine Volksabstimmungen", also der Transfer politischer Entscheidungskompetenz vom Funktionär oder Abgeordneten zurück zur Basis beziehungsweise dem Volk. Um es praktischer auszudrücken: die Bauentscheidung für Stuttgart21 hätte demnach nicht der Landtag gefällt, sondern die Einwohner des Landes über die baden-württembergische Liquid-Feedback-Seite. Die Abgeordneten wären dann lediglich Vollstrecker des so sichtbar gemachten Volkswillens.
Die von Döring dramatisch beschworene Bedrohung durch die "Tyrannei der Masse" kann hierbei durch genau jene Mechanismen entstehen, die von den Protagonisten dieses neuen Systems umjubelt wird: es ist die Ausschaltung aller Hinterzimmerdeals und Proporzregelungen. Es ist völlig unmöglich, 20.000 Parteimitglieder zu irgendetwas zu bestechen oder zu überreden. Stattdessen, so die hehre Idealvorstellung, gewinnt das bessere Argument. Dörings Befürchtung ist, dass der Mob gewinnt. Wer jemals eine Internetdiskussion in einem Forum oder Kommentarsektion eines Blogs mitgemacht hat, weiß, dass dieses Problem nicht von der Hand zu weißen ist. Noch einmal: es besteht kein Automatismus. Der Mechanismus selbst ist neutral. Es hängt einzig an den Nutzern. Nur bietet Liquid Feedback wenig Chancen für eine Korrektur einer Mehrheitsmeinung, die eine Minderheit unterdrückt. Die neuen Partizipationsmechanismen kennen (noch) keinen vernünftigen Minderheitenschutz, wie ihn die Proporzregeln und Ausschusssitzungen der etablierten Systeme kennen. Wenn die Welle einmal in Bewegung ist, lässt sie sich kaum mehr aufhalten. Das ist die Gefahr. Die Chance ist natürlich klar ersichtlich und wird von den Piraten ja auch mit geradezu religiöser Inbrunst verkündet: endlich wird der Bürger mündig und nimmt sein Schicksal selbst mit in die Hand. Die Demokratie findet ihre Verwirklichung in der Teilhabe eines jeden, der teilnehmen möchte.
Und genau da liegt die Crux, und die sehen weder Piraten, noch Döring, noch Palmer bislang. Im Umfeld der Wahl Bernd Schlömers wurde es bereits thematisiert, aber eher am Rande: es nehmen niemals alle teil. Die Piraten öffnen ihre Parteitage für alle Mitglieder, aber es läuft die äußerst neoliberale Realität hinaus, dass diejenigen hinfahren, die es sich leisten können. Repräsentativ ist das nicht. Auch im Liquid Feedback stimmen manche mehr ab als andere, wieder andere betreten die furchtbar unkomfortable Plattform nicht einmal. Wenn aber nur ein Teil überhaupt die Partizipationsmöglichkeiten wahrnimmt, dann verkommt Liquid Feedback zu einer reinen Demokratiesimulation, in der immer dieselben paar gut informierten und vernetzten Leute den Ton angeben. Wer sehen will, wie so etwas in der Realität aussehen kann, braucht sich nur einmal die Wikipedia und ihr Admin-System vor Augen halten. In der Theorie ein Open-Source-Lexikon, an dem jeder teilnehmen kann, in der Praxis von deutlicher und völlig intransparenter Zensur geprägt, in der gewinnt, wer in Flamewars den längeren Atem hat. Diese Gefahr ist für die Piraten eine sehr reale, und über kurz oder lang (eher kurz) wird dieses Problem auch auf der Tagesordnung stehen. Ihre politischen Gegner werden die öffentlich ausgetragenen und dokumentierten Auseinandersetzungen ebenso weidlich nutzen wie die Medien, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Der Traum von der Partizipation kann sich so schnell in einen Albtraum verwandeln, Theorie und Wirklichkeit drastisch auseinanderklaffen. Die Grünen können davon ein oder zwei Liedchen singen.
Das andere Problem hat Palmer in größerem Detail angesprochen. Wenn jede Entscheidung prinzipiell zu jeder Zeit der Basis unterworfen werden kann, dann steht die Partei tatsächlich für alles und nichts gleichzeitig. Wenn sie tatsächlich jemals an die Regierung kommen sollte und jede Entscheidung von der Basis getroffen wird, wie soll da jemals mit dem Koalitionspartner Politik geplant und gemacht werden? Wie soll auf internationale Krisen reagiert werden? Die vollständige Überflüssigmachung des repräsentativen Abgeordneten, die das System als ultimative Konsequenz in sich trägt, ist gleichzeit auch die völlige Verantwortungslosigkeit. Eine (notwendig) anonyme Masse von Abstimmern kann man nicht für ihre Entscheidungen verantwortlich halten. Dieses tiefgehende Problem ist bislang noch kaum angedacht. Sollten die Piraten sich aber als politische Kraft etablieren können und irgendwann auch regieren wollen, werden sie kaum darum herumkommen. Bereits jetzt zeigt sich eine Dominanz einzelner prominenter Politiker wie Lauer oder Weisband, ob sie das wollen oder nicht.
Worin aber liegen die großen Chancen von Liquid Feedback? Partizipation ist ein hohes Gut. Die angesprochenen Probleme sind ernst und müssen angegangen werden, aber sie verurteilen das Projekt nicht zum Scheitern. Zum Ausarbeiten etwa von Parteiprogrammen und Grundsatzentschlüssen und auch zur Basisentscheidung über grundlegende Entscheidungen - etwa die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen - eignet es sich praktisch ohne Abstriche. Im tagesaktuellen politischen Prozess kann es als feingliedriges Evaluations- und Petitionsinstrument dienen, das ohne die schwerfällige Formalitäten des bundestagseigenen Petitionssystems auskommt. Die jeweiligen Fraktionen könnten so in ständigem Kontakt mit dem engagierten Teil der Basis bleiben, ohne in ein allzu rigides Korsett gezwungen zu werden, das ihnen und der Partei jegliche Bewegungsfreiheit nimmt. Das Versprechen der Piratenpartei auf politische Partizipation darf keinesfalls aufgegeben werden, und die Idee, die hinter Liquid Feedback steckt, ist wegweisend. Wie jedes große Projekt wird es Stolperstellen geben, werden Geburtsfehler offenbar werden und wird es Änderungen geben. Es gilt, einen realistischen Blick auf die Chancen und Probleme des Systems zu haben, erstere zu fördern und zu verstärken und letztere bereits in den Anfängen zu bekämpfen.
Im Umfeld der Landtagswahl im Saarland beklagte sich FDP-Generalsekretär Döring über die "Tyrannei der Masse", die er im Zuge der Wahlerfolge der Piratenpartei heraufdräuen sau. Es muss ihm später aufgefallen sein, dass diese Aussage nicht ganz clever war und, höflich ausgedrückt, missverstanden werden könnte, weswegen er sie in der ZDF-Fragerunde spezifizierte: mit "Tyrannei der Masse" sei gemeint gewesen, dass die Debatte im Netz bei aller Auffälligkeit und Dominanz im öffentlichen Diskurs nicht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung repräsentieren müsse und daher einen Entscheidungsdruck schaffe, der gewissermaßen nicht demokratisch legitimiert sei. In ein ähnliches Horn stieß Boris Palmer in einem Gast-Artikel in der ZEIT, in der argumentierte, dass die Piraten nicht nur derzeit kein echtes Programm hätten und für nichts stünden, sondern quasi immer undefinierbar seien, weil über Liquid Feedback und andere Kanäle ja die Basis permanent das Bestehende per Mehrheitsbeschluss umwerfen könnte. Abschließend stellt er fest, dass dies eine parlamentarische Mitarbeit der Piraten enorm erschwere und Regierungsarbeit praktisch unmöglich mache. Sowohl Palmer als auch Döring sind politische Profis und wissen, wie man eine Schwachstelle beim politischen Gegner ausnutzen kann. Am effektivsten sind solche Manöver immer, wenn sie ein Körnchen Wahrheit beinhalten. Das ist auch hier der Fall.
Selbstverständlich ist es geradezu lächerlich von Döring, die Stuttgart21-Proteste als Beispiel für einen "virtuellen" Protest herzunehmen, der nur im Internet stattgefunden habe, was umso dümmer für ihn ist, als dass S21 ein ziemlich gutes Beispiel darstellt. Die Gegner hatten wesentlich mehr Medienaufmerksamkeit als die Befürworter, verloren die Abstimmung aber mehr als deutlich. Dummerweise spielten dabei weder Internet noch Piratenpartei eine entscheidende Rolle, was Dörings Narrativ deutlich entwertet. Palmer lässt sich auf solche Spielchen erst gar nicht ein und argumentiert allgemeiner, indem er die politischen Prozesse einer parlamentarischen Demokratie heranzieht. Er muss es wissen; die Grünen haben einst selbst versucht, sich gegen sie aufzulehnen, und sein Vater ist der personifizierte Oppositionsprotest.
Die Verwendung von Internet-Entscheidungsfindungen ist prinzipiell eine logische Konsequenz technologischer Entwicklungen und demokratischer Prinzipien. Dieser Sachverhalt wird weder von Döring noch von Palmer behandelt. Eine theoretisch mögliche Mitsprache aller Bürger war früher eine reine Utopie, weil technisch nicht machbar - wie auch? Per DSDS-kompatiblem Telefonanruf für nur 2,50€ die Minute, mit unterschiedlichen Nummern für die jeweiligen Auswahlentscheidungen? Oder gar per Briefwahl? Die Post würde es freuen, aber die Dauer und Kosten allein schieben dem einen Riegel vor. Sämtliche Zugangshürden dieser Art aber werden mit einem Breitbandanschluss hinfällig, der inzwischen von praktisch jedem Experten-Gremium zum Existenzminimum gerechnet werden muss. Vor dem raketenhaften Aufstieg der Piratenpartei war die Partizipationsdebatte im Web 2.0 hauptsächlich auf die Medien beschränkt, die in all den Blogs und sozialen Netzwerken (zurecht) eine Gefährdung ihres Meinungsmonopols sahen. Nun schicken sich die Piraten an, mit einem Partizipationskonzept auch das Monopol der Funktionäre auf die praktische Gestaltung von Politik zu durchbrechen. Wie jede Revolution bringt das Probleme mit sich. Diese Probleme existieren unzweifelhaft, und mit dieser Kritik haben Döring und Palmer, das sei gleich vorab gesagt, vollkommen Recht. Ihr Problem, wozu wir am Ende des Artikels kommen werden, ist, dass sie die falschen Schlussfolgerungen ziehen. Aber der Reihe nach.
Wie jede Technologie ist auch Liquid Feedback (oder was auch immer ihm nachfolgen wird) eine neutrale Sache. Es kann zu guten wie zu schlechten Zwecken eingesetzt werden. Das Internet bietet sowohl progressiven Demokraten als auch hetzerischen Extremisten eine Plattform. Ein Medium kann also nicht per se gut oder schlecht sein. Es kommt auf die Nutzer an. Diese Wahrheit ist banal, aber sie muss angesichts des Niveaus dieser Debatte leider noch einmal ausbuchstabiert werden. Die Verwendung von Internetpartizipation in der Politik, für die Liquid Feedback im Weiteren pars pro toto steht, hat zwei große Anwendungsfelder, die derzeit in der öffentlichen Debatte teils bewusst, teils unbewusst verwischt werden. Das eine Anwendungsfeld ist das Festlegen von Positionen, etwa dem Parteiprogramm. Liquid Feedback wird hier verwendet, um allen Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, am Entstehungsprozess von programmatischen Positionen mitzuwirken, anstatt dies Gremien und Ausschüssen auf Parteitagen zu überlassen, die nach strengen Proporzregeln zusammengesetzt sind. Das zweite Anwendungsfeld ist die Nutzung für "kleine Volksabstimmungen", also der Transfer politischer Entscheidungskompetenz vom Funktionär oder Abgeordneten zurück zur Basis beziehungsweise dem Volk. Um es praktischer auszudrücken: die Bauentscheidung für Stuttgart21 hätte demnach nicht der Landtag gefällt, sondern die Einwohner des Landes über die baden-württembergische Liquid-Feedback-Seite. Die Abgeordneten wären dann lediglich Vollstrecker des so sichtbar gemachten Volkswillens.
Die von Döring dramatisch beschworene Bedrohung durch die "Tyrannei der Masse" kann hierbei durch genau jene Mechanismen entstehen, die von den Protagonisten dieses neuen Systems umjubelt wird: es ist die Ausschaltung aller Hinterzimmerdeals und Proporzregelungen. Es ist völlig unmöglich, 20.000 Parteimitglieder zu irgendetwas zu bestechen oder zu überreden. Stattdessen, so die hehre Idealvorstellung, gewinnt das bessere Argument. Dörings Befürchtung ist, dass der Mob gewinnt. Wer jemals eine Internetdiskussion in einem Forum oder Kommentarsektion eines Blogs mitgemacht hat, weiß, dass dieses Problem nicht von der Hand zu weißen ist. Noch einmal: es besteht kein Automatismus. Der Mechanismus selbst ist neutral. Es hängt einzig an den Nutzern. Nur bietet Liquid Feedback wenig Chancen für eine Korrektur einer Mehrheitsmeinung, die eine Minderheit unterdrückt. Die neuen Partizipationsmechanismen kennen (noch) keinen vernünftigen Minderheitenschutz, wie ihn die Proporzregeln und Ausschusssitzungen der etablierten Systeme kennen. Wenn die Welle einmal in Bewegung ist, lässt sie sich kaum mehr aufhalten. Das ist die Gefahr. Die Chance ist natürlich klar ersichtlich und wird von den Piraten ja auch mit geradezu religiöser Inbrunst verkündet: endlich wird der Bürger mündig und nimmt sein Schicksal selbst mit in die Hand. Die Demokratie findet ihre Verwirklichung in der Teilhabe eines jeden, der teilnehmen möchte.
Und genau da liegt die Crux, und die sehen weder Piraten, noch Döring, noch Palmer bislang. Im Umfeld der Wahl Bernd Schlömers wurde es bereits thematisiert, aber eher am Rande: es nehmen niemals alle teil. Die Piraten öffnen ihre Parteitage für alle Mitglieder, aber es läuft die äußerst neoliberale Realität hinaus, dass diejenigen hinfahren, die es sich leisten können. Repräsentativ ist das nicht. Auch im Liquid Feedback stimmen manche mehr ab als andere, wieder andere betreten die furchtbar unkomfortable Plattform nicht einmal. Wenn aber nur ein Teil überhaupt die Partizipationsmöglichkeiten wahrnimmt, dann verkommt Liquid Feedback zu einer reinen Demokratiesimulation, in der immer dieselben paar gut informierten und vernetzten Leute den Ton angeben. Wer sehen will, wie so etwas in der Realität aussehen kann, braucht sich nur einmal die Wikipedia und ihr Admin-System vor Augen halten. In der Theorie ein Open-Source-Lexikon, an dem jeder teilnehmen kann, in der Praxis von deutlicher und völlig intransparenter Zensur geprägt, in der gewinnt, wer in Flamewars den längeren Atem hat. Diese Gefahr ist für die Piraten eine sehr reale, und über kurz oder lang (eher kurz) wird dieses Problem auch auf der Tagesordnung stehen. Ihre politischen Gegner werden die öffentlich ausgetragenen und dokumentierten Auseinandersetzungen ebenso weidlich nutzen wie die Medien, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Der Traum von der Partizipation kann sich so schnell in einen Albtraum verwandeln, Theorie und Wirklichkeit drastisch auseinanderklaffen. Die Grünen können davon ein oder zwei Liedchen singen.
Das andere Problem hat Palmer in größerem Detail angesprochen. Wenn jede Entscheidung prinzipiell zu jeder Zeit der Basis unterworfen werden kann, dann steht die Partei tatsächlich für alles und nichts gleichzeitig. Wenn sie tatsächlich jemals an die Regierung kommen sollte und jede Entscheidung von der Basis getroffen wird, wie soll da jemals mit dem Koalitionspartner Politik geplant und gemacht werden? Wie soll auf internationale Krisen reagiert werden? Die vollständige Überflüssigmachung des repräsentativen Abgeordneten, die das System als ultimative Konsequenz in sich trägt, ist gleichzeit auch die völlige Verantwortungslosigkeit. Eine (notwendig) anonyme Masse von Abstimmern kann man nicht für ihre Entscheidungen verantwortlich halten. Dieses tiefgehende Problem ist bislang noch kaum angedacht. Sollten die Piraten sich aber als politische Kraft etablieren können und irgendwann auch regieren wollen, werden sie kaum darum herumkommen. Bereits jetzt zeigt sich eine Dominanz einzelner prominenter Politiker wie Lauer oder Weisband, ob sie das wollen oder nicht.
Worin aber liegen die großen Chancen von Liquid Feedback? Partizipation ist ein hohes Gut. Die angesprochenen Probleme sind ernst und müssen angegangen werden, aber sie verurteilen das Projekt nicht zum Scheitern. Zum Ausarbeiten etwa von Parteiprogrammen und Grundsatzentschlüssen und auch zur Basisentscheidung über grundlegende Entscheidungen - etwa die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen - eignet es sich praktisch ohne Abstriche. Im tagesaktuellen politischen Prozess kann es als feingliedriges Evaluations- und Petitionsinstrument dienen, das ohne die schwerfällige Formalitäten des bundestagseigenen Petitionssystems auskommt. Die jeweiligen Fraktionen könnten so in ständigem Kontakt mit dem engagierten Teil der Basis bleiben, ohne in ein allzu rigides Korsett gezwungen zu werden, das ihnen und der Partei jegliche Bewegungsfreiheit nimmt. Das Versprechen der Piratenpartei auf politische Partizipation darf keinesfalls aufgegeben werden, und die Idee, die hinter Liquid Feedback steckt, ist wegweisend. Wie jedes große Projekt wird es Stolperstellen geben, werden Geburtsfehler offenbar werden und wird es Änderungen geben. Es gilt, einen realistischen Blick auf die Chancen und Probleme des Systems zu haben, erstere zu fördern und zu verstärken und letztere bereits in den Anfängen zu bekämpfen.