Lieber Mitmensch

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Lieber Mitmensch

Lieber Mitmensch,

ich bin ein Elternteil eines behinderten Kindes.
Anfangs war ich überwältigt, irritiert, mein Herz war gebrochen und ich kämpfte darum die vor mir liegenden Komplexitäten zu verstehen.

Bitte urteile nicht über mich wenn ich nicht immer Zeit habe an Kinderfesten, Elterntreffen oder öffentlichen Feiern teilzunehmen.
Bitte nimm Dir einen Moment um zu verstehen warum ich nicht die Zeit auf einen Kaffee habe oder warum ich die Einladung zum Essen nicht annehmen kann.
Obwohl wir uns eventuell oft über den Weg liefen, sei es im Supermarkt, am Kindergarten oder der Schule glaube ich nicht dass Du mich tatsächlich kennst.
Ich kann sogar dafür garantieren dass Du mich nicht wirklich kennst denn so wie mein Kind, bin auch ich anders.

Ich war im Überlebensmodus um meine Familie intakt zu halten und versuchte meinem Kind ein wundervolles Leben zu ermöglichen.
Ich musste Entscheidungen treffen die mich innerlich zerrissen und welche mich Nächtelang wach hielten.
Mehrere Tage der Wochen verbrachte ich bei Ärzte und Therapien und Abends informierte ich mich über Behandlungsmöglichkeiten und Informationen über Medikamente.
Ich war isoliert, denn Makel, Un- und Missverständnisse sind die Seuche unserer Zeit!
Ich lernte Prioritäten meines Lebens anders zu setzen und Dingen einfach Ihren lauf zu lassen.
Ich lernte meine Umwelt mit Mitgefühl zu betrachten statt über Jemanden zu reden und ich lernte die hässlichen Kommentare und Blicke zu ignorieren.
Ich tat bislang das beste was ich konnte.
Ich überlebte bis hier hin alles.

Ich bin einer der Glücklichen dessen Kind aufgeblüht ist und alle Erwartungen übertroffen hat.

Ich bin stark geworden, ich bin zuversichtlich geworden und ich kämpfe leidenschaftlich für Alleinerziehende und Eltern von besonderen Kindern.

Ich Bitte Dich:

Das nächste mal wenn Du eine Mama oder einen Papa siehst die sich mit Ihrem wütendem Kind mühen, einem Kind das Angst vor bestimmten Situationen hat, einem Kind das komische Bewegungen oder Geräusche macht, ein Kind das augenscheinlich in seiner eigenen Welt lebt …. sei human, sei freundlich.
Schenk dieser Mama/diesem Papa ein anerkennendes lächeln für das was der Elternteil durchmacht.
Vielleicht kannst Du sogar fragen ob Du etwas tun kannst, reich Ihnen die Hand oder biete an ein Stück mit Ihnen zu gehen.

Das nächste mal wenn Du eine Geburtstagsfeier für Dein Kind organisierst bedenke dass es auch ein Kind ist dass schwere, sehr sensible Zeiten durchlebt und bereits sozial-problematische Situationen erlebt hat.
Bitte sende dem Kind ebenfalls eine Einladung, auch in dem Wissen dass es womöglich gar nicht teilnehmen kann aber gib ihm das Gefühl einbezogen zu sein.
Falls das Kind doch kommt, auch wenn es nur Kurz ist, gib Ihm das Gefühl willkommen zu sein.
Wenn die Eltern absagen müssen, vielleicht kannst Du gar ein Treffen zum spielen für ein anderes mal anbieten?

Das nächste mal wenn Du Hausaufgaben kontrollierst und bewertest, versuche in Gedanken mit einzubeziehen dass ein Kind gekämpft hat.
Manche haben Lernbehinderungen, manche sind aufgrund einer Krankheit erschöpft und mache haben einen drang nach Perfektion.
Die Perfektion besteht nicht daraus die exakt definierte Antwort parat zu haben, die Perfektion besteht darin zu „fühlen“ ob die Antwort richtig ist.
Es gibt Kinder die opfern Stunden für das was andere Kinder in 10 Minuten erledigen.
Ein Aufgabenblatt, durchzogen mit roten Strichen und Kommentaren, bricht das Herz eines Kindes, es fühlt sich an wie ein Schlag, mindert das Selbstwertgefühl dieses Kindes und fördert die Angst vor Aufgaben und womöglich der Schule.
Bedenke vor einem Anruf was in diesem Kind ausgelöst wird wenn es auf dem Telefon die Nummer der Schule sieht. Bedenke den Eltern mitzuteilen welche Fortschritte Ihr Kind macht statt auf den Defiziten herum zu reiten.
Bevor Du anrufst, nimm Dir eine Minute und ruf Dir ins Gedächtnis dass die Eltern Dich für das schätzen und anerkennen was Du tust und dass die Eltern ebenfalls an einer gemeinschaftlichen zusammenarbeit in Bezug auf die Bildung ihres Kindes interessiert sind.

Das nächste mal wenn Du mit Deinen Kollegen im Lehrerzimmer sitzt, diskutiere nicht über das Kind. Äussere keine negativen Kommentare über die Elternschaft oder das Verhalten dieses Kindes, Du weißt wie schnell das in die Öffentlichkeit und an andere Eltern heran getragen wird.

Beim nächsten zusammentreffen der Mitarbeiter der Kultusministerien, berücksichtigt dass Inklusion nicht nur ein Wort ist.
Es ist kein notwendiges übel das berücksichtigt werden muss.
Es ist ein Menschenrecht.
Stehe dafür ein, steh auf, trete dafür ein und sei Überzeugt davon – schau über den Tellerrand hinnaus und findet einen Weg diesen Kindern die Möglichkeit zu geben Bildung zu erleben und zu ermöglichen. Schenkt Ihnen die Möglichkeit der Bildung und diskutiert nicht über deren Störungen.

Das nächste mal wenn Ihr den Lehrplan diskutiert bedenkt bitte auch die unterschiedlichen Interessen und Obsessionen.
Fördert die Interessen anstatt einen Unterricht durch einen anderen Unterricht zu ersetzen. Wenn Kinder Musik lieben dann lasst Ihnen diese Stunde Musik statt sie durch Mathematik zu erstzen.
„Think outside the Box“ – wie es deren Eltern ebenfalls machen!

Das nächste mal wenn Du ein Kind im Rollstuhl siehst das nicht reden, nicht sprechen kann oder unontrollierte Bewegungen macht – starre es nicht an, schau nicht weg – sei natürlich – sag Hallo!
Glaub nicht dass das Kind das nicht wahr nimmt, dass das Kind es nicht versteht nur weil es sich nicht artikulieren kann.
Glaub nicht dass ein Kind nicht spürt was Du fühlst.
Nimm Dir einen Moment Deines Tages und zeig Menschlichkeit, Freundlichkeit und schenk der Mama oder dem Papa auch ein herzliches lächeln.

Das nächste mal wenn Dein Kind nach Hause kommt und Dir erzählt dass das andere, behinderte Kind so komisch ist, nimm Dir die Zeit Deinem Kind die Unterschiede zu zeigen und zu erklären.
Nimm Dir die Zeit über Respekt, Toleranz, Akzeptanz und Behinderungen zu reden.
Bedenke dass Du ein Vorbild bist und dass Dein Kind von Dir lernt.
Sein ein Vorbild, zeig Respekt und vermeide Lästerei.

Das nächste mal wenn Du einen Kommentar darüber hörst wie „unstylish“ oder „unmodern“ ein Kind gekleidet ist, sprich über verschiedene und empfindliche Wahrnehmungen.
Manche Kinder sind empfindlich gegenüber gewissen Stoffen und Textilien.
Stell Dir einmal vor wie Du dich mit Einlagen in Deinen Stilettos oder einem engen Gestell unter Deiner Kleidung fühlen würdest.

Das nächste mal wenn Du ein zorniges Kind siehst, zieh keine Rückschlüsse auf schlechte Eltern.
Verstehe dass es viele Hintergründe für diese Störung haben könnte.
Organisch, Biologisch und dass eine echte Krankheit dahinter steckt.

Wir sind die Generation die dieses „Stigma“ beseitigen und eine Welt der Akzeptanz schaffen können!
Das nächste mal wenn andere Eltern über „diese Kinder“ sprechen, sei unser Held und erhebe Dich für uns.

Das nächste mal wenn Du ein behindertes Kind siehst, hab im Hinterkopf dass es nicht nur behindert ist sondern vor allem ein Kind!
Nehmt euch die Zeit und lernt unsere Kinder kennen!
Nehmt euch die Zeit uns kennen zu lernen!

Diesen wunderbaren Text von Marianne Russo habe ich kürzlich entdeckt.
Den Originaltext Ihres offenen Briefs "Dear School Personnel, Community Members, Teachers, Parents and Neighbors" habe ich frei aus dem englischen übersetzt, ergänzt und modifiziert.
  • behinderte Kinder behindertes kind Behinderung besonderes Kind Gesellschaft Gesundheit Inklusion Kinder Kindheit Visionen

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