von Angelika Gutsche
Informationen über Libyen erreichen uns nur in homöopathischen Mengen. Und was über die Medien zu uns durchdringt, klingt in der Regel positiv. Das muss wohl so sein, denn man will Libyen ja als leuchtendes Vorbild installieren, das auch ein militärisches Vorgehen in Syrien als geeignetes Mittel erscheinen lässt.
Dieses positive Libyenbild wurde durch die Stürmung der amerikanischen Botschaft in Bengasi und den Tod des Botschafters und dreier US-Marines zum ersten Mal nachhaltig erschüttert. Diese Tat ließ sich nicht mehr verheimlichen und fand als wichtigste Nachricht des Tages Eingang in alle Nachrichtensendungen der Welt. Doch war dieser Überfall nur der Höhepunkt einer ganzen Serie von Anschlägen und Vorkommnissen, die im Laufe des Juli und August 2013 kumulierten, in der Medienöffentlichkeit aber kaum oder gar keine Beachtung fanden:
- Bereits am 3. Juli 2012 wird auf das tunesische Konsulat in Tripolis ein Sprengstoffanschlag als Rache für die Auslieferung des letzten libyschen Premierministers zu Gaddafi-Zeiten an die neue libysche Regierung verübt.
- Am 4. Juli 2012 wird die Nationalbank am Grünen Platz in Tripolis und eine weitere Bank in der Stadt überfallen und niedergebrannt.
- Am 23.7. kommt es in Tripolis zwischen Kämpfern des Grünen Widerstands (Gaddafi-Getreue) und regierungsnahen Sicherheitskräften zu Gefechten mit etlichen Toten, unter anderem den Al-Quaida nahe stehenden Kommandanten im Stadtteil Abu Salim durch einen Scharfschützen.
- Daneben entziehen sich immer größere Gebiete Libyens der Kontrolle des neuen Regimes, da sich Gaddafi nahe Stämme nach Konferenzen in Bani Walid und Sabha im Juli zu Allianzen zusammenschließen.
- Anfang August kommt es zu Demonstrationen in Bengasi, bei denen die Flagge Katars verbrannt wird.
- Bei einem Anschlag mit einer Autobombe wird am 6. August das Gebäude des Militärgeheimdienstes in Bengasi stark beschädigt.
- Mitte August befreit der Grüne Widerstand acht Gefangene aus dem Al-Fornaj-Gefängnis in Tripolis, während es Gefangenen im Ai-Zara-Gefängnis gelingt, die Wärter zu entwaffnen und das Gefängnis in Brand zu stecken.
- General Mohammed Hadiya al-Feitouri, Angehöriger der regimenahen Streitkräfte, wird nach dem Verlassen einer Moschee in Bengasi erschossen, ebenso Walid Souissi in Jadida.
- Am 20. August werden in Bengasi 14 Männer, die ehemals von Gaddafi zur Oppostion übergelaufen waren, erschossen.
- Am 19. August, dem Tag des Fastenbrechens, erschüttern zwei Bombenanschlägen Tripolis. Nahe des libyschen Innenministeriums und vor einem Gebäude, das vom Verteidigungsministerium für Vernehmungen und als Haftanstalt genutzt wird, detonieren Sprengsätze. Mindestens zwei Menschen sind tot, mehrere verletzt.
- Am 4. September diesen Jahres wird der Chef des neuen libyschen Geheimdienstes in Bengasi durch eine Autobombe getötet.
- Obwohl Feiern zum Jahrestag der Gaddafi-Revolution am 7. September von den jetzigen libyschen Machthabern unter Strafe gestellt sind, können sie in einigen libyschen Städten wie Bani Walid nicht verhindert werden.
- In der Nacht vom 8. auf den 9. September stürmen Hunderte von Demonstranten das Parlament in Tripolis, das von den Sicherheitskräften mit Schusswaffen verteidigt wird. Die Parlamentarier konnten unverletzt aus dem Sitzungssaal geführt werden. Wegen fortdauernder Angriffe mit Granaten und Raketen auf Einrichtungen des Roten Kreuzes muss dieses seine Arbeit in weiten Teilen des Landes einstellen.
- Und als Höhepunkt des Ganzen nun die Stürmung der amerikanischen Botschaft und die Hinrichtung des Botschafters Chris Stevens sowie dreier Botschaftsangehöriger.
Dieser Angriff war für den Tag „nine-eleven“ vorgesehen, seine Ausführung Teil einer sorgfältigen bis ins Kleinste geplanten Operation. Laut CBS News brachten libysche Sicherheitskräfte bei der Erstürmung des Gebäudes den Botschafter in ein anderes Gebäude und teilten daraufhin der Menge mit, wo sich der Amerikaner befand. Nach dieser Darstellung waren libysche Sicherheitskräfte für den Schutz der Botschaft verantwortlich. Bei den drei weiteren Toten scheint es sich um amerikanische Marinesoldaten gehandelt zu haben. Diese seien aber angeblich erst zum Schutz an die Botschaft beordert worden, nachdem der Sturm auf das Gebäude eingesetzt hatte. Peinlich in jedem Fall! Entweder die Marines waren nicht in der Lage, die Botschaft zu schützen oder die libyschen Sicherheitskräfte sind vom Grünen Widerstand unterwandert. Oder auch beides.
Gaddafi-Anhänger hatten bereits 2011 die Unterwanderung der Sicherheitskräfte des neuen Regimes als Ziel bekannt gegeben. Außerdem wurden zahlreiche Polizisten und Militärs von der alten Regierung übernommen, wobei nicht auszuschließen ist, dass etliche angesichts der desaströsen Lage im Land wiederum die Seiten gewechselt haben:
- Die Sicherheitslage ist prekär, die sozialen Errungenschaften sind abgeschafft.
- Das Gesundheitssystem liegt darnieder.
- Frauen ohne Schleier werden bei Pressekonferenzen der Bühne verwiesen.
- Großbritannien plündert Libyens Fischgründe, die mangels einsatzfähiger Schiffe nicht mehr geschützt werden können.
- Und die libysche „Bank für wirtschaftliche Entwicklung“ hat 49 Prozent ihrer Anteile für lächerliche 170 Millionen US-Dollar an Katar verkauft.
- Dazu passt, dass bei der Neuvergabe der Erdöl-Konzessionen die Interventionsländer den Vorrang hatten und nur noch 20 bis 25 US-Dollar pro Barrel zahlen müssen, während unter Gaddafi der Weltmarktpreis in Höhe von 80 bis 100 US-Dollar zu entrichten war.
Die aktuellen Ereignisse in Libyen erinnern fatal an den Irak-Krieg, bei dem nach einer Phase der relativen Ruhe sich ebenfalls der Widerstand massiv formierte, sich alle Iraker einig waren im Kampf gegen die USA als Besatzer, sich im Land gleichzeitig ein Bürgerkrieg entwickelte, in dem sich Sunniten und Schiiten bekämpften, so wie jetzt in Libyen die einzelnen Stämme um die Macht ringen und sich daneben die Salafisten zu etablieren versuchen. Die Macht der von den USA installierten Marionettenregierung reicht in Ermangelung loyalen Militärs und Polizei nicht über das Parlamentsgebäude hinaus. Der neue Premierminister heißt Mustafa Abu Schagur, studierte und lebte seit den 80er Jahren in den USA und hat neben dem libyschen auch einen amerikanischen Pass.
Libyen reiht sich ein in die Reihe der zerrütteten Länder nach Afghanistan und Irak. Dies ist nach der Erstürmung der amerikanischen Botschaft und der Ermordung des Botschafters nicht mehr zu leugnen und passt nun überhaupt nicht ins westliche Konzept. Denn zum einen braucht man Gründe, um auch Syrien mittels Waffengewalt mit „Demokratie und Freiheit“ zu beglücken, und zum anderen steht ein amerikanischer, mit dem Friedensnobelpreis ausgestatteter Präsident, der für das Kriegsdesaster in Libyen verantwortlich zeichnet, mitten im US-amerikanischen Wahlkampf.
Könnte es da nicht ganz praktisch sein, einen schon vor einem Jahr gedrehten islamfeindlichen Streifen, der den Propheten verhöhnt, öffentlich zu machen? Ihn auch mit arabischer Untertitelung in you-tube zu stellen und ihn von einem amerikanisch-fundamental-christlichen Prediger im US-Fernsehen vorstellen zu lassen? Damit ihn die arabische Öffentlichkeit auch wirklich zur Kenntnis nimmt? Was darauf folgen würde, war seit der Reaktion auf die Mohammed-Karrikaturen unschwer vorherzusagen. Und die Rechnung geht auf. Nun soll es die wegen des anti-islamischen Films aufgebrachte Menschenmenge gewesen sein, die die amerikanische Botschaft in Bengasi angriff. So stellt Tagesschau.de am 12.9.12 unter der Überschrift „Proteste gegen anti-islamischen Film: US-Botschafter getötet“ den Zusammenhang zwischen Botschaftserstürmung und dem islam-feindlichen Film her. Dabei wird völlig ignoriert, dass die Erstürmung der Botschaft schon lange vor dem Bekanntwerden des Mohammed-Films genauestens militärisch geplant war und bestens in die Reihe des im Juli/August aufflammenden neuen Widerstands passt. Nicht zu übersehen ist auch die Inszenierung der Ermordung des Botschafters, die fatal an den Tod Gaddafis erinnert: Im Internet finden sich unzählige Fotos, wie der halbnackte, sich noch am Leben befindliche Chris Stevens – der sich von Anfang als großer Unterstützer der libyschen Rebellen hervorgetan hat – durch eine aufgebrachte Menge geschleift und geschlagen wird.
Nach der Erstürmung der Botschaft und der darauf folgenden Ankündigung der USA, Drohnen über Libyen einzusetzen, wurde der Flughafen von Bengasi gesperrt. Grund: Die libysche Flugabwehr werde Drohnen über Libyen nicht dulden, sondern abschießen. Um Unfälle mit der zivilen Luftfahrt zu vermeiden, sei der Flughafen von Bengasi geschlossen worden. Zwei amerikanischen Kriegsschiffen, die an die Küste Libyens entsandt wurden, ist es angeblich nicht erlaubt worden, in libyschen Gewässern zu ankern. Zwar wurden fünfzig Marineinfanteristen zum Schutz von US-Einrichtungen nach Libyen entsandt, FBI-Agenten, die die Vorgänge rund um die Botschaftserstürmung ermitteln wollten, können aber aufgrund der Sicherheitslage nicht in das Land einreisen.
Kriegsschiffe und Drohneneinsatz gegen eine wegen des Mohamed-Films aufgebrachte Menschenmenge? Nein, die Lage in Libyen muss vertuscht und verharmlost werden. Dafür kann sich die restliche arabische Welt schon ein bisschen empören. Und so verdrängen schon bald die Bilder von Protesten über das Mohamed-Video in über 20 Ländern der Welt die undurchsichtigen Vorgänge in Libyen von den Bildschirmen…
Angelika Gutsche 17.9.2012