„Ich weiß, dass ich wieder auf die Liste muß, ich muß zurück auf die Warteliste für eine neue Leber, auf der ich schon einmal stand.“ So beginnt für den Patienten eine Reise, die ihn ins Krankenhaus, zu seiner neuen Leber und einem neuen Leben führt. Beschrieben wird dieser Weg in David Wagners Buch Leben, das er vergangenen Dienstag im Hörsaal der Psychiatrie im Uniklinikum Gießen vorstellte. Die Lesung fand in der Reihe Medizin & Literatur statt, einer Zusammenarbeit beider Fachbereiche der Universität sowie mit dem Förderverein des Instituts für Geschichte der Medizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen e.V..
Der namenlose Ich-Erzähler in Leben leidet an einer Autoimmunhepatits, d.h. das Immunsystem hält eigene Leberzellen für Fremdkörper. Nur noch eine Spenderleber kann ihm helfen. Das Buch heißt deshalb Leben, „weil so viele andere Leben darin vorkommen“, erklärt Wagner. Da wären z.B. die wechselnden Bettnachbarn oder die Ärzte mit ihren Medizinstudenten. Die Langeweile im Krankenhaus füllt der Erzähler mit Erinnerungen und Gedankenspielen. Er befindet sich in einem Schwebezustand und so klingt das Blutdruckmessgerät für ihn „als puste jemand in eine Luftmatratze. Auf dieser Luftmatratze treibe ich aufs Meer“.
An anderen Tag drängen sich Fragen nach ihm selbst auf. Wie viel ist sein Leben wert? Lohnt sich denn überhaupt der Aufwand einer Transplantation? Der Erzähler lebt seit seiner Kindheit mit der Krankheit und fürchtet sich vor dem Gesundwerden, weil er das verlieren könnte, was ihn bisher ausgemacht hat. Doch wenn er nicht für sich selbst, dann will er wenigstens für seine Tochter leben. Es ist der Kindertrick, „mit dem ich mich zum Bleiben überredete“, liest Wagner vor und schweift mit seinem Blick über die voll besetzten Reihen des Hörsaals.
„Alles war so und auch ganz anders“ – Diese Worte sind dem Buch vorangestellt, denn dem Autor David Wagner ist Ähnliches widerfahren. Er stellte fest, dass das Leben im Angesicht des Todes erzählbar wird, und schrieb zunächst nur über das Erlebte, um zu verstehen, dass er durch jemand anderen weiterlebt. Letztlich ist daraus ein Buch entstanden. „Indem ich die Geschichte erzähle, erfinde ich sie neu“, sagt Wagner. Die Eingangsworte seien deshalb auch eine Warnung „nicht alles zu glauben“.
Der Erzählton bewegt sich zwischen Gelassenheit, Feingefühl und Humor – das brachte die Zuhörer mitunter zum Lachen, doch zeigte auch, wie wichtig diese Perspektiven auf eine solche Grenzerfahrung sein können. Wie sonst hätte Wagner nach der Lesung so ehrlich und reflektiert über Leben sprechen können? Aus diesem Grund arbeitet der Roman z.B. mit Leerstellen: Die Transplantation selbst wird mittels einer schwarzen Doppelseite beschrieben. Für die Erklärung wählt Wagner seine Worte genau: „Auf Fragen, auf die es keine Antworten gibt, auf die muss man eben mit Lücken antworten.“
Die existenziellen Fragen, die Leben aufwirft, haben die Studenten sehr bewegt und begleiteten auch das Gespräch nach der Lesung – moderiert von Prof. Dr. Volker Roelcke (Institut für Geschichte der Medizin) und Prof. Dr. Joachim Jacob (Institut für Germanistik). Das Publikum sprach vermehrt über seine Leseeindrücke und fragte, ob der Protagonist dankbar für sein neues Leben sei. Wagner wies darauf hin, dass nach der gesetzlichen Regelung nur anonyme Dankesbriefe an den Organspender erlaubt seien. Der Erzähler versuchte sich daran, doch aus dem Unvermögen, einen Dankesbrief zu schreiben, sei dieses Buch entstanden.