Lesetipp: Kind 44 (Tom Rob Smith)

Lesetipp: Kind 44 (Tom Rob Smith)

Tom Hardy-Fans werden in der kommenden Woche wohl die Kinos stürmen, denn ab dem 04. Juni ist Kind 44 auf der Leinwand zu sehen. Darin spielt Hardy den vom Schicksal gebeutelten Ermittler Leo Demidow, der eine grausame Mordserie zu Zeiten der UdSSR aufklären soll. Und auch der Roman kann sich sehen, oder vielmehr lesen lassen.

Gelernt ist gelernt

Autor Tom Rob Smith ist, wie sein Name schon erahnen lässt, kein Osteuropäer. Der gebürtige Brite hat das Storytelling in England und Italien gelernt und versteht sein Wissen auf mehr als 500 Seiten einzusetzen.

Kambodscha verhalf er übrigens zur ersten eigenen Soap Opera. Ob eine weitere Seifenoper nun als Fluch oder Segen für die Welt gilt, sei einmal dahingestellt. Smith ist ein talentierter Erzähler, der Spannung in eine szenisch elegante Form zu bringen vermag.

“Wie Mordor”

Smith zeichnet ein sehr düsteres Bild der ehemaligen Sowjetunion: Verbrechen werden vertuscht, Ermittlungen schlampig durchgeführt, die Überwachung durch den Geheimdienst ist allgegenwärtig und macht auch vor Ermittler Leo nicht Halt.

Diesen Umständen ist es wohl zu verdanken, dass der Film in Russland nicht zur Ausstrahlung freigegeben wurde. Das russische Kultusministerium zog Parallelen zum Schattenreich Mordor aus Der Herr der Ringe.

Überraschenderweise wurde auch Kritik seitens des ehemaligen Klassenfeindes laut: Rezensenten in den USA bemängelten, dass keine einzige Rolle im Film mit einem Russen besetzt wurde. Auch sei das dargestellte Portrait Russlands allzu schematisch mit den Mitteln der im Kalten Krieg üblichen Propaganda gezeichnet worden.

Geschichten mit Geschichte

Angesichts der Kulturindustrie vergangener Jahre ist kaum von der Hand zu weisen, dass sich der “finstere Osten” hervorragend als Schauplatz für Filme und Bücher anbot.

Denken wir an den Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge, an den Donnersmarck-Film Das Leben der Anderen oder an Der Turm von Uwe Tellkamp, um nur ein paar der bekanntesten Titel zu nennen, die sich hervorragend verkauft haben.

Authentizität?

Unter dem Label “Historische Aufarbeitung” lassen sich gut dramatische Geschichten spinnen — von Verfolgung, Unterdrückung und Überwachung.

Aber handelt es sich bei diesen Geschichten tatsächlich um aufklärerische Romane im Werther’schen Sinne? Rezipieren sie authentisch und gewissenhaft die Zeit, in der Ost und West durch eine Mauer getrennt waren?

Setting

Tom Rob Smith macht sich die Wirren, die ungenau dokumentierten Verbrechen und die Ära des Kommunismus zunutze, um seine Geschichte zu konstruieren. Inspiration bezog der Autor aus dem realen Fall des Serienmörders Andrei Tschikatilo, doch hangelt sich die Erzählung in ihrer Grundstruktur nicht am Mörder, sondern an dessen getriebenem Verfolger entlang.

In einem Interview äußerte Smith sich wie folgt:

“Allerdings war meine Intention eher einen Krimi zu schreiben, in dem die Gesellschaft statt der reine Akt des Mordens im Vordergrund steht, und so beschloss ich die Geschichte in eine für die Bevölkerung extremere Zeit zu verlegen – die Stalin-Ära.”

Dabei schafft der Autor einen ebenso wechselnden wie fließenden Übergang vom Privatleben zum Dienst: Ermittler Demidow kämpft an zwei Fronten: Zum einen gegen ein mordendes Gespenst, zum anderen für seine Ehe mit einer verzweifelten Lehrerin.

Hauptdarsteller

Wer Leo Demidow in Smiths Kind 44 als Haupthelden der Geschichte versteht, der irrt also. Das Rampenlicht ist auf den “Star” Sowjetunion gerichtet — ihr gebührt Smiths ganze Aufmerksamkeit, ihre Biographie, ihre unvorstellbare geografische, politische und militärische Macht hat der Schriftsteller studiert.

Und so liest sich Kind 44 anders als so mancher Thriller, der nur eindimensional aus der gewaltsamen Historie berichtet. Smith stützt sich auf seine Recherchen zu Tschikatilos Kriminalfall und schafft somit eine solide Basis für seinen Roman.

Fazit

Die Themen Sowjetunion, Kommunismus und Stalinistische Herrschaft sind in Deutschland vergleichsweise wenig beleuchtet worden. Wenn es um die Vergangenheit des Ostens geht, dann fast immer um das Leben der Bürger in der DDR. Umso wertvoller ist Tom Rob Smiths spannender und zugleich sorgfältig recherchierter Bestseller zu einem dunklen Kapitel der Geschichte.

SMITH, TOM ROB: Kind 44. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2010, 509 S., 9,95 €

Autoreninfo: Tom Rob Smith wurde als Sohn eines englischen Vaters und einer schwedischen Mutter in London geboren. Nachdem er im Jahre 2001 seinen Abschluss in Cambridge machte, studierte er in Italien Kreatives Schreiben. Mit Kind 44 hat Smith einen höchst erfolgreichen Debutroman geschrieben, der in 36 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet wurde (u.a. mit dem International Thriller Award).


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