Leserbrief eines schwulen Bahá’ís an die Zeit Online

Kürzlich erschien in der Rubrik “Wer’s glaubt” der Zeit Online ein Leserartikel unter dem Titel “Wie eine Perversion menschlicher Natur“, geschrieben von einem schwulen Bahá’í unter dem Pseudonym Lukas Jung. Da ich aus eigener Erfahrung weiß, dass solche Leserbriefe häufig stark nachbearbeitet und sozusagen medienkonformer gemacht werden um mehr Aufmerksamkeit anzuziehen, fragte ich nach dem Original und möchte dieses zur Ergänzung und Richtigstellung des bereits erschienenen und veränderten Artikels veröffentlichen.

Lukas Jung schrieb das Folgende:

Einheit in Vielfalt. Wissenschaft und Religion stehen in Harmonie zueinander. Vorurteile müssen überwunden werden. Selbstständige Suche nach Wahrheit. All das sind Aussagen, die die grundlegenden Prinzipien der Bahá’í-Religion beschreiben. Und es sind Schlagwörter, mit denen Bahá’í gerne ihre Religion erklären. Es waren jene Schlagwörter, die mich dazu gebracht haben, diese Weltanschauung näher zu unter-suchen. Doch wie steht das in Verhältnis zu meinem Schwulsein?

Ich war noch sehr jung und hatte einen gemischt-weltanschaulichen Hintergrund: ein Elternteil christlich, das andere atheistisch. Schon recht früh nahm ich an kirchlichen Aktivitäten teil, besuchte Christenlehre, Konfirmationsunterricht und Bibelwochen. Schon während der Zeit vor und um meiner Konfirmation begann ich, gewisse Lehren der Kirche zu reflektieren und fand, dass sie mit meinem Verständnis der Bibel nichts gemein hatten. Zudem brachte ich in jener Zeit mehr über mich in Erfahrung als ich bis dahin gewusst hatte: ich erkannte, dass ich schwul bin.

Als ich dann neben meinen Fragen und dem anderen Verständnis vieler Bibeltexte mein Coming Out erlebte, erfuhr ich von Seiten einiger Christen eine ablehnende Haltung. So brachten mich die Fragen und die teilweise Ablehnung von Seiten einiger Christen dazu, das Christentum generell kritischer zu sehen. Ich begann, Schriften anderer Religionen zu lesen: Buddhismus, Islam, Bahai-Religion.

Über einen Zeitraum von etwa 5 Jahren las ich buddhistische Schriften, den Koran, sowie einige ausgewählte Heilige Schriften der Bahai-Religion. Über jenen Zeitraum suchte ich online zudem mehr und mehr Informationen über die Bahai, da sie eine kaum bekannte Religion war. Die Bahai glauben daran, dass sich das Göttliche, welches für den Menschen ge-nerell unerkennbar ist, durch Offenbarer in verschiedenen Kulturen, Epochen, und Völkern offenbart. Zu diesen Offenbarern zählen neben Bahá’u’lláh, dem Stifter der Bahai-Religion, Moses, Jesus, Mohammad, Buddha, Krishna, sowie die unbekannten Stifter anderer, bspw. indianischer Religionen. Jede dieser Persönlichkeiten wird als Lehrer, Leiter, Inspirations-quelle, und Motor der spirituellen und kulturellen Evolution der Menschheit verstanden. Dies sei auch der Grund, weshalb sich Religionen in Detailfragen unterscheiden, sie aber generell immer ein Ziel hätten: die Veredlung des einzelnen Menschen durch Ethik und eine spirituelle und liebevolle Verbindung zum Göttlichen, und die Entwicklung der Menschheit als Ganzes durch das Setzen immer neuer machtvoller spiritueller Impulse.

Nun sei die Zeit, in der jeder Mensch selbstständig die Heiligen Schriften aller Offenbarungen sowie der aktuellen Offenbarung, jener Bahà’u’lláhs,  studieren sollte und mithilfe von Wissenschaft und unabhängigem Denken zu einem persönlichen Verständnis kommen solle. Deshalb gibt es in der Bahai-Religion keine Priester, sondern ein System aus gewählten Räten auf verschiedenen Eben, die sich um Verwaltungssachen kümmern, sowie Beratern, die ohne jegliche Autorität als Ratgeber für jene Räte sowie einzelne Gläubige funktionieren.

Ziel der Bahai-Offenbarung sei die Einheit der Menschheit in Vielfalt. Niemand solle seine Religion aufgeben und Bahai werden, wenn er nicht davon überzeugt ist. Bahai missionieren nicht. Sie erkennen die anderen Religionen bedingungslos und treten mit ihnen in einen Dialog. Sie wollen mit allen Menschen in ihrer Mannigfaltigkeit eine friedliche Gesellschaft aufbauen.

All diese Gedanken sowie die gelebte Spiritualität in Form von einfachen Andachten, Gebeten und Meditation und des gelebten Glaubens in Gestalt des Dienens am Menschen sowie am großen Ziel der Einheit in der Vielfalt sagten mir sehr zu. Vor etwa 4 Jahren wurde ich Bahai. Ich verließ die Kirche offiziell und konvertierte zu den Bahai.

In einer recht jungen und offenen sowie vielfältigen Gemeinde lernte ich, die Schriften besser zu verstehen, meinen Horizont zu entwickeln, mich geistig, menschlich und intellek-tuell zu entwickeln. Ich übernahm viele Funktionen in der Gemeinde. Ich war Mitglied Geistiger Räte, ich war auch einmal Vorsitzender eines solchen Rates (Anfang 20 Vorsitzender eines Rates zu sein, welcher als Leitungsorgan einer Gemeinde gesehen wird). Es war eine wunderbare Zeit.

Doch in all jener Zeit konnte ich leider nie einen Konflikt lösen: Bahais dürfen nicht schwul sein. Sie dürfen Schwule und Lesben tolerieren, sie dürfen sie als Freunde haben, sie dürfen Vorurteile gegenüber Lesben und Schwulen abbauen helfen, sie dürfen selbst keine Vorurteile gegenüber Lesben und Schwulen haben. Doch sie dürfen selbst nicht schwul sein, d.h. sie dürfen es nicht leben. Wenn ein Bahai eine gleichgeschlechtliche Beziehung führt, könne ihm die Wahlrechte innerhalb der Gemeinde entzogen werden, da er gegen die Ehe-Gebote verstößt: Ehe ist eine Verbindung zwischen Mann und Frau.

Gebote und Gesetze werden bei den Bahai als Werkzeuge für die persönliche geistige, moralische, menschliche und intellektuelle Entwicklung gesehen. Sie unterliegen einem universalen Prinzip, welches in solch einem Gesetz praktischen Ausdruck findet. Ich erkenne dies an, ich sehe den Sinn, ich sehe wie andere Gebote mir halfen, glücklich zu sein und mich zu entwickeln. Jenes Gebot konnte ich leicht ignorieren, da Bahai nicht über andere Bahai urteilen sollen und jeder Bahai Fehler macht, weshalb ich in nur einem Fall Homophobie erlebt habe von einem Bahai. Zudem hatte ich ein anderes Verständnis jener Gebote entwickelt – Heilige Schriften, Wissenschaft und eigene Erfahrungen einbezogen.

Neben dem Gebot, die Ehe sei eine Verbindung zwischen Mann und Frau, trat nun jedoch noch der Ratschlag von Seiten einiger Institutionen, mir therapeutische Hilfe zu suchen und Schritte in Richtung Heterosexualität zu unternehmen. Zitate aus Schreiben von Sekretären religiöser Persönlichkeiten aus den 1950er Jahren wurden mir nahegelegt, in denen Homo-sexualität als Krankheit, als Störung, als Perversion menschlicher Natur beschrieben wurde. Lesben und Schwule sei mit Liebe und Achtung zu begegnen, jedoch sollten sie Heilung und Veränderung suchen.

Ich sehe, dass jene Briefe Sinn ergeben – oder besser ergaben. In den 1950er Jahren. Die Bahai glauben daran, dass Religion und Wissenschaft eine harmonische Beziehung eingehen sollen. Wenn die Religion etwas aussagt, dass konträr zur Wissenschaft ist, muss die Religion ihre Ansichten ändern. Das ist ein grundlegendes Prinzip der Bahai-Religion. Und es wird angewandt in anderen Bereichen. Es wird jedoch ignoriert, wenn die Bahai Homosexualität bewerten.

Aufgrund einiger gescheiterter Beziehungen mit Männern, begann ich leider, mir die Schreiben über Homosexualität näher anzuschauen. Ich glaubte, die Probleme in der Schwulencommunity seien aus ihrer Homosexualität entstanden. Ich begann, mich als Perversion menschlicher Natur zu sehen und Veränderung zu suchen. Ein Versuch, eine Beziehung mit einer Freundin zu beginnen, wurde glücklicherweise nie ernsthaft unternommen. Doch es waren zwei Jahre, in denen ich mich selbst verleugnete und versuchte, Gefühle zu entwickeln, die nicht hatte. Ich redete mir jedes Mal, wenn ich einen attraktiven Mann sah, ein, es sei falsch so etwas zu fühlen. Ich hasste mich selbst in jener Zeit.

Ein Glück traf ich auf fähige Therapeuten, die mir rieten, mich selbst so anzunehmen, wie ich war, und die mir sagten, dass Homosexualität nicht veränderbar oder gar heilbar sei.

So begann ich offener mit meiner Homosexualität umzugehen. Ich erzählte es einigen Bahai und erfuhr nur tolerante bis sehr positive Reaktionen. Doch als ich mit Beratern über das Thema sprach, wurde mir geraten, nicht innerhalb der Gemeinde zu dienen. Ich solle keine Kinderklassen oder Jugendgruppen leiten. Das höchste nationale Gremium, der natio-nale Rat, rief mich in einem Brief auf, nicht in den Kinderaktivitäten teilzunehmen.

Ich war geschockt. Ich war verletzt. Zum einen wurde ich in meinem Selbstwertgefühl, dass nach einem Outing generell immer sehr brüchig ist, schwer verletzt. Worte wie Perversion menschlicher Natur rannen in meinem Kopf umher. Und dann jenes Verbot, nicht an Kinderaktivitäten teilzunehmen. Einheit in der Vielfalt? Abschaffung von Vorurteilen? Wissenschaft und Religion in Einklang?

Ich suchte Kontakt zu anderen lesbischen und schwulen Bahai. Ich fand sie online. Ver-steckt. Verletzt. Ausgegrenzt. Sanktioniert. Die Internetseite gaybahai.net listet einiger ihrer Geschichten auf. Es sind Geschichten voller Schmerz und Leid, Selbsthass und Vorurteilen  – geschürt von einer Religion, die dem Ziel verschrieben ist, Vorurteile abzubauen und Einheit in Vielfalt zu kreieren.

Im hier und jetzt: wie fühle ich, was glaube ich? Ich weiß es nicht. Ich sehe mich im Mo-ment eher als Agnostiker denn als Gläubiger. Ich fühle, dass ich viele Dinge kritischer sehe an den Bahai. Ich fühle, dass ich meine Verbindung zu Spiritualität, Religion, Glauben – und auch zu Gott irgendwie verloren habe. Ich bin noch Bahai, da ich glaube, auch Agnostiker können Bahai sein, da die Bahai sagen, Gott sei nicht erkennbar. Doch ich sollte vermutlich kein Bahai sein, da ich schwul bin. Ich habe nun keine Angst mehr vor den Institutionen, obwohl sie mir früher Angst bereitet haben. Ich liebe und schätze meine Gemeinde, die Liebe, Offenheit, Verständnis, Toleranz und Unterstützung zeigt. Doch es fällt mir schwer, an An-dachten teilzunehmen. Es ist schwer, wenn die Bahai Sachen organisieren wollen und mich direkt fragen, ob ich Kinderklassen leiten wolle. Ich sage immer, ich könnte nicht, da ich Stress habe. So sehr es im Moment auch stimmt, kann ich ihnen doch nicht erklären, dass ihre Institutionen nicht wollen, dass ich diene, wo ich es vielleicht am besten kann.

Ich hoffe, dass die Bahai einst einen positiven Austausch darüber haben werden. Ich glaube, dass die Bahai-Religion Potential in sich trägt, Gutes zu bringen. Doch dazu muss sie reflektieren, selbstkritisch werden, ihre Prinzipien mit ihren Dogmen abgleichen. Sie muss offen werden. So wie sie eigentlich schon ist.



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