Ledig, Gert: Die Stalinorgel

„Warum liest du so was?“ Bücher wie dieses provozieren diese Frage. Und meine Antwort dazu lautet immer wieder gleich – weil es wichtig ist, weil 70 Jahre nicht lange genug her sind, weil es sich immer noch wiederholt. Kriegsromane gehen an die Nieren und sind nicht bequem aber muss Literatur das sein?


Klappentext

Als der Roman „Die Stalinorgel“ 1955 erstmals erschien, wurde er zu einem großen internationalen Erfolg. Vom »besten Roman über den Zweiten Weltkrieg« war die Rede, und Gert Ledig, der mit diesem Buch debütierte, wurde sofort »in die vorderste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur« befördert. Ein paar Jahrzehnte später ist wieder ein Unbekannter neu zu entdecken und mit ihm sein vergessenes Werk.

Der erste Satz

Der Obergefreite konnte sich nicht mehr in seinem Grabe umdrehen, da er überhaupt keins besaß.

Gert Ledig schrieb seinen Debütroman zu einer denkbar schlechten Zeit. Mitte der 1950er Jahre waren die ersten Antikriegsromane deutscher Autoren bereits erschienen und der erste Aufbereitungswille hatte die breite Öffentlichkeit wieder verlassen. Man wollte an die Schrecken nicht laufend erinnert werden, man war müde und sehnte sich danach, etwas wie Normalität einkehren zu lassen. In dieser Zeit „Die Stalinorgel“ zu verlegen, bedurfte einigen Mut. Eugen Claassen hatte diesen Mut und ging das Risiko ein, ein Buch herauszugeben, das niemand zu lesen bereit war.

Ledig nahm selbst am Russlandfeldzug teil und stand als Schriftsteller vor der Frage, wie sich die unerhörten Gräuel und der unermessliche Schrecken der Ostfront in ein Buch übersetzen ließen. Zu groß und zu gewaltig erschien Russland bis dahin, um sich an einer literarischen Aufarbeitung zu versuchen. Ledig wählte den aus meiner Sicht einzig möglichen Weg und beschränkte sich auf einen winzigen Ausschnitt, der exemplarisch für das Ganze stehen sollte. „Die Stalinorgel“ erzählt 48 Stunden Stellungskrieg vor Leningrad – zwei Tage, die für die fast zweitausend Tage dieses Krieges stehen. Bereits in diesem verschwindend kurzen Zeitabschnitt zeigt sich der ganze Irrsinn dieses und jeden Krieges. Zwei Bataillone kämpfen verbissen um eine nahezu unbedeutende Anhöhe. Die erlittenen Opfer haben längst jede Verhältnismäßigkeit gesprengt und machen gerade dadurch einen Rückzug auf beiden Seiten unmöglich. Mitten in der Nacht schießt die russische Artillerie die deutschen Stellungen sturmreif; der anschließende Angriff verpufft jedoch in einer Patt-Situation. Gewonnen hat niemand dabei, die Verluste auf beiden Seiten sind jedoch immens.

Inmitten des allgegenwärtigen Entsetzens hat der Tod seine schockierende Wirkung verloren. In einer Situation, in der tonnenweise Granaten, Raketen und Bomben auf menschliches Fleisch abgeschossen werden, ist nicht der Tod das Erzählenswerte, sondern das Überleben in dieser zutiefst lebensfeindlichen Umwelt. Und genau dem widmet Ledig sich. Wie fühlt man sich als Mensch in einer Welt, die um einen herum untergeht? Ledig ist ein genauer Beobachter und Chronist des Geschehens. Frei von jeder bild- und metaphernreicher Prosa zerlegt er das zu Erzählende in knappe, nacheinander gesetzte Hauptsätze. Das erzeugt Geschwindigkeit, steigert die Intensität und zerstört leider auch jeden Hauch einer sich anschleichender Tröstlichkeit und Hoffnung.

Solowjeff hatte in seiner Nähe gestanden, hatte mit den Augen geblinzelt, wie immer. Hatte etwas sagen wollen. Man sah es noch an seinem Mund, an seinen Augen. Sein ganzes Gesicht verriet es. Dann aber hatte er nichts gesagt, hatte nur erschrockene Augen gemacht. Als wäre er barfuß in eine Glasscherbe getreten. Nicht übermäßig entsetzt. Ohne eine Andeutung von Angst. Eine unangenehme Überraschung, die eigentlich nicht schlimm war. So hatte er den Tod empfangen.

Ebenso wie die beschriebenen zwei Tage für den gesamten Krieg stehen, sind die beschriebenen Menschen Exempel für menschliches Verhalten im Krieg. Bis auf eine Ausnahme haben sie keine Geschichte, kein Leben vorher und keine Hoffnung auf nachher. Sie haben keine Namen und werden nur bei ihrem Dienstgrad genannt. Sie sind keine Individuen mit Verbindung zu einem Leben außerhalb des Krieges, sondern nur herausgenommene Beispiele. Was leicht zu einer gravierenden Schwäche werden könnte, wird bei Ledig zu einer beklemmenden Ahnung der Masse. Er ist nicht an einer Bewertung oder Einordnung des Beschriebenen interessiert. Es gibt kein Gut und kein Böse, keine Faschisten und keine Kommunisten. Es gibt nur die Kreatur Mensch und die Verhaltensmuster und Reaktionen, die ein unmenschlicher Vernichtungskrieg bei ihnen hervorruft.

Sie ergossen sich auf den Bahnhof. Stürzten sich sinnlos auf einen Zug ohne Lokomotive, Hunderte kämpften um einen Platz in Waggons, die nicht zusammengekoppelt waren. Wer einen Platz gefunden hatte, verteidigte ihn wie das nackte Leben. (…) Zwischen den Gleisen wimmerten die Zurückgeschlagenen, die Verzweifelten, Beinamputierte und Fiebernde, Männer, die keine Hände mehr hatten, um sich irgendwo anzuklammern. Das Ziel blieb für alle der Zug. Der Zug, der keiner war. Die Fata Morgana auf dem toten Gleis. Waggons mit ausgelaufenen Lagern. Räder, die sich nicht mehr drehen konnten.

In diesem Sinne ist Ledig für mich – wenn nicht das Gegenteil, so doch – die Ergänzung zu Remarque. Wie kein anderer vor ihm und nur sehr wenige nach ihm, hält Remarque den Wahnsinn des Krieges in schrecklichen und einprägenden Bildern fest. Ebenso wie Ledig geht auch er eine möglichst geringe Distanz zu seinen Charakteren ein. Allerdings stehen diese nie für sich, sondern repräsentieren das Elend einer ganzen Generation. Remarque lässt ihre Illusionen platzen und zeigt die Unmöglichkeit einer Rückkehr ins zivile Leben nach dem Schlachten auf. Ledig ist dieser verbindende Ansatz fremd. Er konfrontiert den Leser mit archaischen Reaktionsmustern: Mut, Feigheit, Verzweiflung, Naivität. Bequem ist das nicht.


Was bleibt?

„Die Stalinorgel“ ist nicht nur ein Buch über den Krieg. Es ist ein Buch über den Mensch und die Menschlichkeit in einer Extremsituation. Ledig wechselt häufig die Perspektive, gibt seinen Charakteren keine Namen und verschanzt sich hinter einer neutralen Sprache – kurzum: er schafft jede erzählerische Distanz, die möglich erscheint. Und dennoch wechsle ich jede Perspektive mit und kann mich in jede Person hineinversetzen. So erschreckend verurteilungswürdig manche Motive erscheinen – ich kann sie nachempfinden. Ich bin nicht länger der moralisch überlegene Leser, sondern muss mich fragen, wie ich in einer solchen Situation wohl reagiert hätte bzw. würde. Bequem ist das wirklich nicht.

Ledig, Gert: Die Stalinorgel. Erstmals erschienen 1955.

Taschenbuchausgabe: Suhrkamp. 230 Seiten. ISBN 978-3-518-39962-0. € 8,00.


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