Der Brief und das Tagebuch sind seit jeher im Kreise eifriger Denker beliebte Mittel des Ausdrucks, der Lebensbewältigung. Erfahrungen, Ideen, Gedanken und Ahnungen – von der grossen Frage nach dem Sinn des Lebens bis zur Trivialität eines Milcheinkaufs – werden verarbeitet. Unzählige Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Verleger, Psychologen usw. usf. haben der Menschheit eine Fülle privater Aufzeichnungen hinterlassen – die oftmals sorgfältig ediert, aufwendig entschlüsselt, aber wenig gelesen werden. Im Rahmen der Beitragsserie “Lebens-Lagen” wollen wir uns diesen Noten aus den Leben der Briefeschreiber und Tagebucheinträger widmen. Kalendertage der Veröffentlichung und des präsentierten Textbeispiels stimmen dabei jeweils überein. Wir wünschen viel Vergnügen!
Eckermann und Goethe sassen am 9. März 1831 wieder beisammen. Es ging Goethe ums Lesen und Eckermann hatte eine tiefe Einsicht:
“”Man lieset viel zu viel geringe Sachen”, sagte er [Goethe], “womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter nichts hat. Man sollte eigentlich immer nur das lesen, was man bewundert, wie ich in meiner Jugend tat und ich es nun an Walter Scott erfahre. (…)
[Goethe zeigt Eckermann einen Brief, den er an Oberst von Beulewitz geschrieben hat] Ich war über diesen Brief sehr glücklich, indem ich für mich bemerkte, dass man nach einem guten Stoff nicht weit zu reisen brauchte, sondern dass alles auf einen tüchtigen Gehalt im Innern des Dichters ankomme, um aus den geringsten Anlässen etwas Bedeutendes zu machen.”
Aus: Goethe. Gespräche mit Eckermann.Hg. v. Ernst Beutler. Artemis 1976.
Und Franz Kafka? Hatte am 9. März 1922 einen besonders schlechten Tag. Sein Tagebuch muss hören:
“Das war aber nur Müdigkeit, heute aber neuer, den Schweiss aus der Stirn treibender Angriff. Wie wäre es, wenn man an sich selbst erstickte? Wenn durch drängende Selbstbeobachtung die Öffnung, durch die man sich in die Welt ergiesst, zu klein oder ganz geschlossen würde? Weit bin ich zu Zeiten davon nicht. Ein rücklaufender Fluss. Das geschieht zum grossen Teil schon seit langem. (…)
Früher, wenn ich einen Schmerz hatte und er verging, war ich glücklich, jetzt bin ich nur erleichtert, habe aber das bittere Gefühl: “wieder nur gesund, nicht mehr”"
Aus: Franz Kafka. Tagebücher 1910-1923. Hg. v. Max Brod. Fischer 1973.