Der Brief und das Tagebuch sind seit jeher im Kreise eifriger Denker beliebte Mittel des Ausdrucks, der Lebensbewältigung. Erfahrungen, Ideen, Gedanken und Ahnungen – von der grossen Frage nach dem Sinn des Lebens bis zur Trivialität eines Milcheinkaufs – werden verarbeitet. Unzählige Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Verleger, Psychologen usw. usf. haben der Menschheit eine Fülle privater Aufzeichnungen hinterlassen – die oftmals sorgfältig ediert, aufwendig entschlüsselt, aber wenig gelesen werden. Im Rahmen der Beitragsserie “Lebens-Lagen” wollen wir uns diesen Noten aus den Leben der Briefeschreiber und Tagebucheinträger widmen. Kalendertage der Veröffentlichung und des präsentierten Textbeispiels stimmen dabei jeweils überein. Wir wünschen viel Vergnügen!
Am 6. März 1931 braucht die russische Dichterin und Rilke-Freundin Marina Zwetajewa (1892-1941) Geld und schreibt an Nanny Wunderly-Volkart:
“Liebe gnädige Frau!
Es ist mir unendlich schwer Ihnen diesen Brief zu schreiben, – Ihnen – diesen – aber – ich gehe einfach zu Grunde, so still wie solche Dinge mit solchen Menschen geschehen. Als der dreizehnjährige Julian, der grosse kleine Musiker, Alexander Skriabin’s Sohn in einer Dnjeper-Pfütze ertrank, hört keiner keinen Laut, obwohl nur ein kleines Insel-Gebüsch ihn von den Anderen trennte – die Insel so gross wie meine Hand – und seine Musiklehrerin, die Pianistin Nadejda Goloubowsky sagte mir nachher, dass Julian überhaupt nicht schreien konnte – sie kannte den Jungen gut.
So ist es mit mir und wäre auch mit mir, wenn ich nicht die Meinigen hätte, die uns anders (zum -ihrigen) machen, – darum hatte ja auch R. keine “Meinigen.”
Ganz einfach: die Menschen die mir meine 5 Pariser-Jahre zum Leben halfen – gaben – sind müde und geben nichts. “Leider kann ich nicht mehr…” usw. Was bleibt mir? – “Dank für das was war” – und – Stille.(…)
Wär ich allein ich liesse mich still zu Grunde gehen, – vor lauter Unschuld und erfüllter-Pflicht-Gefühl. Seit meiner kleinsten Kindheit an, that ich mehr als ich konnte.
Was ich möchte, um was ich Sie, liebe gnädige Frau, bitte: eine Monatsaushilfe, so wenig es auch wäre. Etwas was kommt,auf was, so wenig es auch wäre, man rechnen könnte – so wenig es auch dauere. (…)
Was weiter kommt weiss ich nicht, zu verkaufen habe ich nichts, – nur Bücher die niemand braucht. Für vier Menschen – vier Bettlacken.
Liebe gnädige Frau, wenn Sie etwas können – thuen Sie es! Marina”
Aus: Rainer Maria Rilke und Marina Zwetajewa. Ein Gespräch in Briefen. Hg. v. Konstantin M. Asadowski. Suhrkamp 1992.