ARTus-Kolumne »So gesehen« Nr.540
In der legendären Weißen Lyrik-Reihe des DDR-Verlages Volk & Welt, die ihren fulminanten Einstand 1967 mit einer Ausgabe von Gedichten der Anna Achmatowa gab, erschien 1969 erstmals die Lyrikauswahl eines polnischen Dichters. Das Heft 12 der heute gesuchten Folge nannte sich »Gesichter und Masken« und war dem Schaffen des 1921 in Radomsko bei Tschenstochau geborenen Tadeusz Rózewicz gewidmet. Die Übersetzungen ins Deutsche besorgten Günter Kunert und Karl Dedecius. Der Berliner Maler Harald Metzkes lieferte auf Seite vier als Zugabe eine filigrane Kostprobe seines literarisch ambitionierten Zeichenstils, die man hier als Ganymedfigur interpretieren könnte.
Das schmale Bändchen mit seinen 55 Gedichten hat es in sich. Diese Gedichte gehen unter die Haut. Diese Gedichte machen betroffen. Sie sind Wortverhaue, aus denen kein sonniges Gemüt mehr Nahrung ziehen kann.
Seine Lyrik, folgt man dem letzten in der Auswahl platzierten Gedicht, »übersetzt nichts / erklärt nichts / verzichtet auf nichts / umfängt nicht das Ganze / erfüllt keine Hoffnung // schafft keine neuen Spielregeln / nimmt an keinem Vergnügen teil / sie hat einen bestimmten Platz / den sie ausfüllen muss // wenn sie kein Rätsel ist / wenn sie keine Originalität hat / wenn sie nicht Erstaunen erzeugt / dann muss es so sein offenbar // sie gehorcht eigner Notwendigkeit / eigenen Möglichkeiten / und Schranken / sie unterliegt sich selbst // braucht nicht den Platz einer andern /und kann von keiner andern ersetzt werden / offen für alle / geheimnislos // sie hat viele Aufgaben / die sie nie erfüllt.«
Als unmittelbares Nachkriegskind und Nachkomme einer in einen mörderischen Krieg verstrickten Elterngeneration habe ich den kargen Worten des Dichters immer wieder Bilder abgewinnen können. Eine Grafikmappe über das KZ-Stutthof, die ich Ende der 80er Jahre im eigenen Auftrag nach Besuchen und nächtlichen Aufenthalten im Lager anfertigte, enthält – künstlerisch inszeniert – sein im Band auf Seite 53 publiziertes Gedicht »Ich schrie«. Es waren Rózewiczs Worte: »die Toten standen / in meinen Augen / leise lächelnd«, die mich in Stutthof begleitet haben, die der vor Ort erfahrenen Erschütterung das Sondierungsprogramm der bildnerischen Aufgabenstellungen diktierten.
Als Tadeusz Rózewicz am 21. Juni 2001 in Greifswald aus aktuellen Texten las, konnte ich ihm endlich meine dem Lithostein abgetrotzte Grafik »Ich schrie« übergeben. Und er… versah das mitgebrachte Bändchen des Jahres 1969 mit einer mir bis heute kostbaren Widmung.
Letzten Sonntag wurde der Dichter 90 Jahre alt. Ich las noch einmal in seinem Buch und entdeckte im Gedicht »Aus dem Lebenslauf« die Zeile: »ein wenig Raum bleibt noch«,- für seine »freche Stirn« und sein »schwaches Menschenherz«, das uns so starke Gedichte schenkt. ARTus
Am 9. Oktober 1921 wurde der Dichter Tadeusz Rózewicz 90 Jahre alt. Zeichnung: ARTus