Lappert, Rolf: Die Gesänge der Verlierer

Manchmal greift man zu Büchern, weil man hofft, damit die Erinnerung an ein anderes wiederbeleben zu können. So ging es mir bei „Die Gesänge der Verlierer“. Der Klappentext versprach einen Roadtrip durch den Süden der USA – „Mond über Manhattan“ und „Lolita“ ließen grüßen! Lappert ist nun aber nicht Auster oder Nabokov und ein Vergleich daher wenig statthaft. Dass das kein Nachteil sein muss, habe ich erst lernen müssen und wurde dann endlich frei von Erwartungen von einem besonderen Buch überrascht.


Klappentext

Tyler ist Manager einer mittelmäßigen Rockband im Londoner East End. Sein Job ist nicht sonderlich lukrativ, er hält sich mit diversen Jobs über Wasser. Als sich endlich Erfolg abzeichnet und die Plattenfirma Geld in einen Videoclip stecken will, verschwindet der exzentrische Sänger der Band. Dass Tyler ihn schließlich in Los Angeles findet, löst keine Probleme – im Gegenteil: Banks verweigert jede weitere Zusammenarbeit und Tyler sieht sich zum ersten Mal in seinem Leben gezwungen, ernsthaft über sein Leben und das, was andere Zukunft nennen, nachzudenken. Auf der Flucht vor sich selbst und vor einer Entscheidung fährt er ziellos mit dem Mietwagen durch die Südstaaten der USA – bis sich am vermeintlichen Tiefpunkt seines Lebens überraschend ein Neuanfang ergibt.

Der erste Satz

Als die Wand neben seinem linken Ohr endlich einstürzte, öffnete Nicholas Tyler die Augen.


Endlich stellt sich nach Jahren des Umhertingelns so etwas wie die Chance auf einen Erfolg, das große Herauskommen dar und der Sänger verschwindet von einem Tag auf den anderen. Alle glänzenden Zukunftsaussichten scheinen damit zunichte gemacht. Die im Stich gelassenen Bandkollegen lassen ihren Frust heraus, trinken, fluchen, zucken dann aber recht schnell mit den Schultern und machen mit ihrem Leben weiter. Tyler kann das nicht. Die Liebe zur Musik allein hält ihn aufrecht zwischen all den Jobs, die seinen Lebenserwerb sichern. Einzig die Band scheint in der Lage zu sein, seinem Leben so etwas wie einen Sinn zu geben. Umso größer ist die Enttäuschung, als er Banks eben nicht zum Umkehren bewegt und ratlos vor seinem angebrochenen Leben steht.

Tyler blieb auf dem Bett sitzen und starrte vor sich hin. Draußen war es so ruhig, wie es nachts in einer Großstadt werden kann. Aus einem der anderen Zimmer drangen Stimmen; ein Mann redete laut und endlos, dazwischen lachte eine Frau. Tyler legte sich hin und bedeckte seinen Kopf mit dem Kissen. Irgendwann, viel später in dieser Nacht, schlief er ein.

Lappert erzählt das sehr bedächtig, nahezu akribisch. Jede Gefühlsregung, jeder Handgriff und jeder Sinneseindruck wird bis ins Detail beschrieben. Das ist anstrengend, weil es Konzentration bedarf, jedes dieser Bilder zu sehen und dabei das Erzählte nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei ist die Handlung selber zu Beginn sehr voraussehbar – der Klappentext nimmt bereits das meiste vorweg. Ebenso wie der Erzählstil lähmt Tylers Lethargie dabei jeden sich kurzfristig einstellenden Lesefluss. Auf den ersten 100 Seiten habe ich mehrmals mit dem Gedanken gespielt, das Buch wieder zur Seite zu legen und ihm zu einem späteren Zeitpunkt nochmal eine Chance zu geben. Gut, dass ich durchhielt, denn mit Tylers Entscheidung, eben nicht sofort zurückzufliegen, sondern sich Zeit zur Neuordnung zu gönnen, ändert sich alles.

Die Handlung differenziert sich, Nebenplots werden aufgebaut und wieder zusammengeführt. Für meinen Geschmack geschieht das zwar zu aufgesetzt und konstruiert, aber Lappert gelingt es dafür, Orte zu erschaffen, in denen man leben kann. Orte, die nicht nur Beiwerk, sondern Charaktere sind, die ihre Atmosphäre verströmen und alles durchdringen. Das einsame Motel an der Peripherie New Orleans‘ ist so ein Ort. Der vor Hitze flimmernde Asphalt, die uralten schattenspendenden Bäume, die dauerbewässerten und akkurat getrimmten Rasenstücke – all das und noch so überwältigend viel mehr verdichtet sich im Kopf zu einer konkreten Vorstellung eines Ortes, an den man auch später nach dem Lesen immer wieder hin zurückkehren kann. Und spätestens da kehrt auch wieder die „Lolita“-Erinnerung an die Motels, die Anonymität zurück. Wie Nabokov zielt Lappert auf das melancholische Gefühl der Ortlosigkeit, die allen Transitplätzen gemein ist.

Aber Lappert kann nicht nur Nabokov, er kann auch Kafka. Tyler gerät im späteren Verlauf an eine obskure Gemeinschaft, die mit ihren eigenen Riten und Regeln im Niemandsland eine abgeschottete Parallelgesellschaft gebildet hat. Damit ändert sich der Tenor erneut. Das Abwegige wird zur Normalität und steigert sich mehr und mehr zu einem immer abstruser werdenden Surrealismus. Auch das ist brillant geschrieben, wird aber unnötig verstellt durch die Handlung, die es zu einem Ende zu bringen gilt. Dadurch wird Tyler und seine eigentliche Unschlüssigkeit ihm selbst gegenüber in den Hintergrund verdrängt. Die alleinige Konzentration auf ihn und sein Innenleben hätte dem Buch gut gestanden. Aber auch so haben mir „Die Gesänge der Verlierer“ Bilder beschert, die so eindrücklich sind, dass sie bis heute nachwirken.


Was bleibt?

Ganz uneingeschränkt und voll überschäumenden Lobes möchte ich „Die Gesänge der Verlierer“ nicht empfehlen. Das Buch hat seine Schwächen. Aber abseits der Ungereimtheiten und Brüche entwickelt sich ein ganz besonderer Sog, der seine Faszination aus den Schauplätzen bezieht. Vollkommen unaufgeregt und mit einer an Besessenheit grenzenden Liebe zum Detail widmet Lappert sich den kleinen und nur scheinbar unwesentlichen Einzelheiten. In der Summe ergeben die ein wunderbar dichtes und atmosphärisches Bild. „Die Gesänge der Verlierer“ ist kein Buch für zwischendurch. Es erfordert Zeit und Ruhe, sich darauf einzustellen und die Bilder mit Genuss aufzunehmen. Wer diese Langsamkeit zu schätzen weiß und dem Buch Geduld entgegenbringen kann, wird sicher nicht enttäuscht werden.

Lappert, Rolf: Die Gesänge der Verlierer. Erstmals erschienen 1995.

Taschenbuchausgabe: dtv. 416 Seiten. ISBN 978-3-423-13813-0. € 10,90


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