Zappelnervös am Flughafen Berlin-Schönefeld
Wieder einmal kann ich die Nacht vor dem Flug nicht schlafen. Fast vier Wochen ist es jetzt her, dass ich das letzte Mal meinen Fuß auf englischen Boden gesetzt habe. Und diesmal geht es raus aufs Land. Meine Gedanken drehen wilde Kreise und lassen mich kein Auge zu tun. Den Koffer habe ich schon am Vortag gepackt. Ganz entgegen meiner Gewohnheit, denn für gewöhnlich werfe ich meine Sachen am Morgen des Abflugs eilig ins Gepäck und hetze mit leerem Magen völlig entnervt zum Flughafengelände. Doch diesmal lasse ich es ruhiger angehen. Die mir immer wieder aufs Neue eingebläute Launenhaftigkeit des englischen Wetters lässt kaum Spielraum für eine kleidertechnisch pragmatische Auswahl. Also schmeiße ich alles in den Trolley, das mir tragbar erscheint, hänge das gewichtige Ding an meine neu erworbene Kofferwaage und freue mich über 16,5 Kilo. Gegen 4.45 Uhr reicht es mir. Ich warte gar nicht erst das Schrillen des Weckers ab, sondern stehe einfach auf. Nur blöd, dass ich jetzt wieder viel zu viel Luft habe. Also trödele ich herum und schlage die Zeit tot. Dann sitze ich auch schon in der so gut wie leeren S-Bahn Richtung Flughafen Schönefeld. Ich mag diesen Flughafen ungemein, muss ich zugeben. Der nie enden wollende, überdachte Fußweg ist mir inzwischen so vertraut wie eine oft durchfahrene Allee meiner Kindheit. Unausgeruht, aber irre aufgeregt, meinen Trolley im Schlepptau, wackele ich gedankenversunken zum Terminal von Easyjet. Doch die Gepäckaufgabe ist noch geschlossen. Das freundliche Personal lässt mich nicht durch. Also platziere ich mich an die Fensterfront neben eine Gruppe ausreisewilliger Jugendlicher. Mit Blick auf die digitalen Gepäckwaagen fürchte ich plötzlich, dass die Kofferwaage von Media Markt nur unzureichend geeicht worden sein könnte. Mir bricht der Schweiß aus, aber dann fange ich mich wieder und harre seelenruhig der Dinge, die da kommen würden. Und dann stehe ich in der Schlange, die eigentlich keine ist, da vor mir nur ein Passagier wartet. Als ich an der Reihe bin, wuchte ich mit Schwung meinen Koffer seitlings auf das Förderband. Dann wird es spannend. Die Waage schwankt eine Weile hin und her und pendelt sich dann bei ungefähr 22 Kilogramm ein. Ich habe es geahnt! Zwei Kilo zu viel! Doch die Schalterdame lächelt weiter, fordert keine horrende Summe von mir ein, sondern klebt seelenruhig den Beförderungsaufkleber um den Tragegriff und bittet mich zum Sicherheitscheck. Verwirrt, aber glücklich mache ich mich auf den Weg. An diesem Morgen herrscht eine ziemlich ausgelassene Stimmung auf dem gesamten Gelände, wie ich finde. Überall begegnen mir Angestellte mit zuckersüßem Lächeln. Der Mensch vor dem Security-Bereich checkt meine Bordkarte und zwinkert mir zu: „Sie haben aber ein nettes Lächeln.“ Was er scheinbar nicht weiß ist, dass es tausende Arten des Lächelns gibt und meines eher zur Eigenentspannung dient. Ich überlege, welcher Tag heute ist. Gute-Laune-Montag? Sehr merkwürdig. Ich bedanke mich schüchtern und begebe mich geradewegs zum Durchleuchtungskommando. Ich erinnere mich, wie sehr mich dieses Prozedere am Anfang meiner Flugkarriere aus der Bahn geworfen hatte. Immer wieder dieser unangenehm fiese Generalverdacht, die Angst vor verbotenen Dingen im Handgepäck, die schlotternden Knie. Heute nähere ich mich der Geschichte ziemlich lässig, schnappe mir zwei graue Boxen und lasse meine Habseligkeiten hineinplumpsen. Auch diesmal piept es, sobald ich die Schleuse passiere. Ich habe meinen Wohnungsschlüssel in der Hosentasche vergessen. Trotzdem wird alles abgetastet. Das Klappmesser im BH, das Bombenequipment zwischen den Käsemauken versteckt. Na klar, man hat ja nichts Besseres zu tun. Geduldig lasse ich die Grabscherei geschehen. Dann schnappe ich meine Sachen und verschwinde in den Wartebereich.
Ganoven und Sowjets zum Frühstück
Bis zur Öffnung des Gates ist es noch über eine Stunde hin. Also entscheide ich mich für ein maßlos überteuertes Frühstück bei Marché. Mit Milchkaffee und Nougatschnecke bewaffnet verpflanze ich meinen Hintern an einen der kleinen Bistrotische, die mitten im Raum stehen. Von hier aus habe ich die beste Sicht auf die Hereinströmenden. Zwei übel dreinblickende Gestalten haben sich direkt am Tisch unter der Anzeigetafel postiert und schmatzen verwegen an ihrem Frühstück herum. Ab und zu blicke ich hinüber, um zu sehen, ob das Gate schon bekannt gegeben wird. Natürlich denkt das Gangsterpaar jetzt, ich wäre in Flirtlaune. Also setze ich ebenfalls meinen griesgrämigsten Ganovenblick auf und hoffe auf meinen Frieden. Und der wird gewährt. Lange passiert einfach gar nichts und ich nippe an meinen Kaffee bis er kalt und nahezu ungenießbar ist. Ich beobachte die Reisenden um mich herum. Ein Typ an einem der Tische links neben mir ist geschäftlich nach Moskau unterwegs. Scheinbar hat er seinen Kollegen, der ebenfalls auf dem Weg in die russische Metropole ist, wachgeklingelt. Jedenfalls hält er sich für urkomisch und schüttelt noch ein paar Sowjetwitze aus dem Ärmel. Dann hallt plötzlich ein Aufruf durch die Lautsprecheranlagen, der mich schlagartig in Unruhe versetzt: „Passagier Riegel nach Manchester wird gebeten, sich umgehend zum Gepäckschalter zu begeben. Es gibt ein Problem mit den Sicherheitsbestimmungen.“ Unweigerlich muss ich an meinen selbstgebackenen Kuchen denken, den ich in acht Lagen Alupapier gehüllt tief zwischen T-Shirts, Schuhen und Shorts vergraben habe. Mit viel Phantasie ließen sich darin sicher ein paar nette Rauschmittel vermuten, denke ich. Gut, wäre noch der Name. Riegel. Na ja, aus meinem Nachnamen wurden schon immer die schärfsten Fehlschlüsse gezogen. Würde mich nicht wundern, wenn die Sicherheitsbeamten einfach mal stille Post gespielt und so aus Röfke durch verschiedene Funkgeräte genuschelt am Ende Riegel würde. Unwahrscheinlich war das nicht. Ich schaue mich verdutzt im Raum um. Doch niemand springt auf und hastet davon. Also bewege ich mich auch nicht. Und als ich die nächste halbe Stunde nichts mehr vernehme, bin ich beruhigt. Schließlich leuchtet das Gate auf dem Bildschirm auf. Die Ganoven schmatzen an ihrem Kuchen herum und fühlen sich scheinbar nicht weiter belästigt. Also schnappe ich meine sieben Sachen und rausche davon.
Bording Time oder Vom Los der Priority Class
Am Schalter angelangt, stehe ich am Ende einer Riesenschlange. Ich kettele mich an und warte geduldig. Vor mir starrt ein komödiantisch anmutender Engländer in pinkem Poloshirt verzückt auf sein ebenfalls pinkfarbenes Smartphone. Schließlich sitze ich umzingelt von britischen Männern mittleren Alters in der Wartehalle und lausche ihren lautstarken Geschichten aus der deutschen Hauptstadt. Sie klingen derart begeistert, dass ich mich frage, ob die Jungs eigentlich bei klarem Verstand sind oder die Nacht durchgezecht und demzufolge unzurechnungsfähig sind. Eigentlich weiß man bei englischen Touristengruppen nie: Sind die sturzbetrunken oder brüllen die immer so. Oftmals trifft beides zu. Hinter dem Absperrband warten die Priority Menschen auf ihre bevorzugte Abfertigung. Sie sitzen etwas peinlich berührt auf denselben unbequemen Plastikschemeln, wie der Rest der Veranstaltung. Auch serviert ihnen niemand einen Willkommensdrink. Was gewinnt man eigentlich, wenn man 4 Sekunden schneller im Flieger sitzt, frage ich mich, habe aber wenig Ahnung von den Bedürfnissen der Premiumkunden und kümmere mich nicht weiter darum. Dann öffnen sich die Glastüren und ich betrete gemeinsam mit dem Fußvolk das Rollfeld.
Sachsen im Flieger
Es ist immer wieder ein besonderer Moment, dieses Betreten des Flugzeugs, denn in genau diesem Moment legt man die Verantwortung für sein eigenes Leben in die Hände eines Piloten, den man für gewöhnlich nie zu Gesicht bekommt. Ein Wildfremder also. Natürlich hofft man in einem Restaurant auch nicht auf eine Vergiftung, aber das hier ist im Grunde ziemlich abgefahren. Obwohl ich jetzt schon öfter geflogen bin, empfinde ich immer noch Ehrfurcht vor dieser technischen Glanzleistung. Ich weigere mich, einen Flug durch den Himmel als etwas Selbstverständliches zu sehen, nur weil ich das Ticket mit Geld bezahlt habe. Nein, ein Flugzeug ist und bleibt ein wundersames, schier unglaublich raffiniertes Ding für mich. Trotz Zufallsauswahl habe ich einen Fensterplatz ergattert. Doch diesmal sitze ich auf der falschen Seite und werde die Pennines nicht sehen können. Dafür habe ich in der Reihe vor mir seltsame Reisebegleiter, die ich beobachten kann. Es ist ein stark sächselndes Pärchen um die fünfzig, verkleidet als punkig-gruftige Mancunians. Er stößt mit seinem Kopf fast an die Flugzeugdecke und sieht mit seinem weißblonden Stachelbeerenlook aus wie eine weniger ledrige Kopie von Billy Idol. Er trägt ein ärmelloses Hartrocker-Muskelshirt, dazu einen mit Nieten gespickten Gürtel und mit Sicherheit eine dunkle Lederhose (soweit habe ich keinen Einblick). Ich vermute, dass er die Klamotten kurzfristig seinem Sohn abgekauft hat, um in Manchester nicht als Tourist geoutet zu werden. Allerdings wird ihm sein Dialekt ordentlich die Show vermiesen, denke ich. Seine wenig trainierten Arme zieren klassische Tattoomotive und zahlreiche Warzen. Seine Begleiterin trägt ihre pechschwarzen Haare kleopatramäßig Kante auf Kante geschnitten.
Sonnige Landung in Manchester
Wie auch immer, circa anderthalb Stunden später setzen wir sanft auf englischem Asphalt auf. Wieder begrüßt mich Manchester mit strahlendem Sonnenschein. Langsam vermisse ich den englischen Regen wirklich, will aber nichts heraufbeschwören. Wenig später weiß ich, warum Sonnenschein im Moment gar nicht so übel ist. Und wieder rausche ich durch die langen Korridore bis ich zum blauen Absperrband gelange. Doch diesmal fehlt der grimmige Sicherheitsbeamte. Flachsig herumstehendes Personal wird eben auch in England irgendwann zu teuer. Nachdem ich den Passbildcheck vorbildlich überstanden habe, wuchte ich mein Köfferchen galant vom Rollband. Den schwarzen Trolley hinter mir herschleifend begebe ich mich in die Empfangshalle. Da ich zunächst kein mir bekanntes Gesicht erblicken kann, folge ich der Pragmatik des Augenblicks und tausche schnell noch meine Ersparnisse in die Landeswährung um. Der strahlende Inder hinter der Glasscheibe erläutert mir minutenlang ein besonderes Angebot. Ich lächle freundlich zurück, verstehe jedoch nur Bahnhof. Schließlich zählt er mir die Geldscheine in Zeitlupe aus. Immer wenn ich Euros in Pfund tausche habe ich den Eindruck, als werde ich mitleidig betrachtet. Ist ja auch umständlich und ganz by the way auch noch mit Verlusten verbunden, die kein Normalsterblicher überblicken kann. Während der weißzahnige Geldwechsler einen Schein nach dem anderen durch den Spalt stopft, blicke ich mich um. Und siehe da! Mein Engländer wartet ganz brav in meiner Nähe, den Blick stur auf die Ankunftstür gerichtet, hinter der er mich vermutet. Ich erschrecke ihn sanft von hinten und wir schlendern glücklich zum Car Park.
Vom Winde zerzaust
In der vorletzten Reihe steht, allein auf weiter Flur ein ultra cooles Cabriolet. Das wäre auch nicht schlecht denke ich mir und werde plötzlich schelmisch von der Seite angegrinst. „Here it is“, gluckst mein Engländer und deutet auf das schnieke, tiefergelegte Gefährt. Ich vermute einen Witz, lache höflich und gehe weiter. Dann holt mein Witzbold den Autoschlüssel raus und schließt tatsächlich den Wagen auf. Ich bin geplättet. Noch nie zuvor bin ich Cabrio gefahren. Wir stopfen meinen Koffer in den Kofferraum, der durch das abnehmbare Dach schon halb blockiert ist. Doch ein bisschen Rütteln da, und ein bisschen Schunkeln dort und alles passt hinein. Dann lasse ich mich auf meinen Sitz sinken und ich sinke wirklich, und zwar metertief. Jetzt kann ich kaum noch über die Motorhaube gucken und hoffe, meinem Engländer geht es nicht genauso. Und wieder beginnt ein Abenteuer der besonderen Art. Der Motor startet. Mit einem lautstarken Röhren werde ich tief in meinen Sitz gepresst. Aus dem Radio dröhnt groovige Oldiemusik. Alles wirkt perfekt. Dann zieht mir der Fahrtwind die Schuhe aus. Es ist so laut, dass an eine gepflegte Konversation nicht zu denken ist. Als ich mich daran gewöhne, genieße ich das monströse Dröhnen und Rauschen, das sich in mein Trommelfell bohrt. Gerade noch hoch über den Wolken schwebend, driften wir nun im Rausch der Geschwindigkeit unter den flauschig-milchigen Wattebäuchen hindurch. So nah am Boden, fühlt es sich an, als würden wir mit mehr als 200 Sachen über die Motorways jagen. Doch das Tacho beruhigt mich. Es ist ein unbeschreibliches Kribbeln, das durch meine Venen rauscht. Ich sehe die Bäuche der Vögel von unten.
Unterwegs zum Lake District
Dann taucht wie aus dem Nichts und von überallher eine smaragdgrün schimmernde Berglandschaft auf, die mir schlichtweg den Atem raubt: Die Grafschaft Cumbria im äußersten Nordwesten Englands. Die einst von keltischen Stämmen besiedelten Gebiete ziehen mich schlagartig in ihren Bann. Mit offenem Mund sauge ich alles in mich auf, was mein Auge nur erhaschen kann. Dann erfahre ich Überraschendes: Wir sind auf dem Weg zum Lake District, dem größten zusammenhängenden Seengebiet Englands und eines der beliebtesten Ferienregionen des Landes. Vom Wind kräftig durchgepustet und etwas fröstelnd, aber sonnigen Gemüts erreichen wir das kleine Örtchen Bowness on Windermere, dem größten natürlichen See Englands.
Bowness on Windermere
Als ich die kleinen Puppenhäuschen und die winzigen Gassen erblicke, bin ich hin und weg. Doch wir finden einfach keinen Parkplatz. Der Ort ist knacke voll. Bei genauerem Hinsehen fallen mir in erster Linie asiatische Touristen auf, die zwar an jedem Ort der Welt fleißig ihre Bildchen knipsen, aber hier doch auffallend häufig anzutreffen sind. Wir sind neugierig, warum das wohl so ist. Mein Engländer vermutet günstige Pauschalangebote für urlaubskarge Asiaten. Spätere Recherchen sollen ergeben, dass der Grund viel näher liegt. Denn hier in Bowness wird eine Kinderbuchautorin und Illustratorin besonders gewürdigt, deren Erzählungen inspiriert sind von der Landschaft des Lake District: die Rede ist von Beatrix Potter. Und nach eben jenen Geschichten, deren berühmteste die von Peter dem Hasen ist, verzehrt sich das cartoonverrückte japanische Völkchen.
Ähnlich wie die Yorkshire Dales mit dem knuffigen Yorkshire Schaf hat auch der Lake District ein tierisches Maskottchen: das rothaarige europäische Eichhörnchen. Vom gemeinen Grauhörnchen weitgehend verdrängt, findet sich sein Antlitz auf zahlreichen Postkarten und Rettungsplakaten. Der Lake District bietet dem possierlichen Tierchen eines der letzten Refugien.
Unser lauschiges Hotel befindet sich mitten im Zentrum von Bowness, doch nach langer Odyssee finden wir einen Parkplatz weit außerhalb. Der Parkscheinautomat treibt uns zur Verzweiflung. Wegen eines defekten Telefonmasten akzeptiert er keine Kartenzahlung, aber wir haben eben nicht genug Münzen dabei. Doch in unseren modernen Zeiten genügt ein Anruf und das Parkticket kann bequem per Telefon bezahlt werden. Ich halte Zettel und Stift bereit, um den Ticketcode zu notieren, während mein Engländer die Geschäfte regelt. Doch ich verstehe plötzlich kein Wort, meine Sprachkenntnisse versacken im Nirgendwo und ich komme mir wieder wie ein unbeholfener Ausländer vor. Also halte ich schließlich das Telefon, während mein geduldiger Freund selbst notiert. Dann holen wir die Sachen aus dem Auto. Da fällt mir wieder der selbstgebackene Kuchen ein, der seit Stunden in der Bruthitze im Kofferraum vor sich vegetiert. Ich fürchte, dass er sich auf magische Weise mit der Alufolie verbunden haben könnte und nun ungenießbar sein könnte. Doch das trockene Schokoherz sieht aus wie zuvor. Kurz vorm Hungerkollaps schlingen wir dankbar das süße Naschwerk hinunter. Gestärkt machen wir uns auf zu unserer Unterkunft, dem Stags Head.
Im Stags Head
Die Rezeption ist gleichbedeutend mit dem Pubtresen. Das Interieur wirkt etwas altbacken und der dunkelrote, braun gemusterte Teppich versprüht einen antik-schmuddeligen Charme. Nachdem uns der Rezeptionist in die Gepflogenheiten eingewiesen und die Schlüssel übergeben hat, winden wir uns samt Gepäck durch die engen Türen, die schmalen Treppen hinauf. Mein Koffer ist unglaublich wuchtig, aber ich lasse mir keine Schwäche anmerken. Als emanzipierte Frauen müssen wir eben auch unser Gepäck selber tragen. Dann erreichen wir die Bowness-Suite. Als sich die Tür öffnet erinnert hier nichts mehr an den abgenutzten Charme der unteren Etage. Die Suite ist luxuriös und geschmackvoll eingerichtet. An der einen Seite des Zimmers prangt ein herrliches Himmelbett. Sofort fühle ich mich ins Schlafzimmer der Tudors versetzt und fühle mich wie eine Königsmätresse. Die andere Hälfte des Zimmers besticht durch ein nett arrangiertes Couchensemble. Auf der Anrichte stehen Tee, Kaffee und trockene Kekse bereit. Ich fühle mich wie im Paradies bis ich höre, dass wir das Zimmer schon am nächsten Morgen wieder hergeben müssen, da mein Engländer bei der Buchung etwas zu früh den falschen Button gedrückt hat. Doch auch das andere Zimmer ist in Ordnung. Aber wieder ganz und gar in einem anderen Stil. Diesmal weniger luxuriös, dafür herrlich bungalowatmosphärisch, womit ich auch sehr gut leben kann. Nur die Wand zum Flur scheint aus Pappmaché zu sein und bietet lediglich Sichtschutz.
Ein Tag auf dem Windermere
Doch die eigentliche Attraktion liegt außerhalb des Hotels. Der See Windermere. Angestachelt vom sommerlichen Wetter entschließen wir uns zu einer Bootstour, können uns aber zunächst nicht entscheiden, welche Art von Boot wir wählen sollen. Als alter Sparfuchs stoßen mich die Stundenpreise der Bootsvermietung völlig ab. Ich zerre meinen Freund in einen Spielzeugladen und versuche mit allen Mitteln ihn davon zu überzeugen, dass ein Schlauchboot gewisse Vorteile bietet. Damit stoße ich nicht gerade auf Gegenliebe. Ich versuche es mit allen Argumenten, die mir in den Sinn kommen. Doch dann rechne ich noch mal zusammen und komme mit Paddeln, Pumpe und dem zusätzlichen Equipment, das nötig wäre auf viel mehr. Also gebe ich mich geschlagen und wir stellen uns brav in die Schlange vor der Bootsvermietung. Die hölzernen Ruderboote schunkeln im glitzernden Wasser friedlich vor sich hin. Sie erinnern an venezianische Gondeln, scheinen mir aber allesamt zu ausladend für unsere Kräfte zu sein. Dann sind wir an der Reihe und mieten ein Ruderboot für vier Stunden. Während der lustige Bootsverleiher uns die roten Rettungswesten überstülpt und uns die Karte und eine Nummer für Notfälle überreicht, erklärt er witzelnd, dass damit kein Lieferservice inkludiert sei. Ich schwitze erbärmlich unter der Schwimmerweste. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich bei meinen Ausflügen auf Berliner und umländigen Gewässern je eine solche überreicht bekommen hätte. Sicher hätte mir dort ein schnauzbärtiger Bootsverleiher mürrisch zugeraunt: „Bring dir doch selber eine mit!“, und mich dann aufs offene Wasser hinausgeschubst. Bei uns bleibt es einfach jedem selbst überlassen, zu ertrinken oder nicht. Ich finde es höflich und äußerst zuvorkommend, dass der Engländer da keine Kompromisse eingeht. Und dennoch will ich dieses Ding nur zu gerne loswerden. Da ich aber nicht weiß, ob das bei der Wasserpolizei gut ankommt, lasse ich alles so wie es vorgesehen ist. Misstrauisch blicke ich auf das riesenhaft erscheinende Gefährt, das man für uns auserkoren hat. Natürlich bin ich als erster Ruderer eingestellt und setze mich prompt verkehrtherum auf die Bank. Auf Anhieb vergesse ich all meine Talente und weiß plötzlich nicht mehr wo vorne und hinten ist. Die Blamage scheint vorprogrammiert, doch dann besinne ich mich, atme tief durch und kriege gerade noch die Kurve, bevor wir noch am Ufer in den Steg rammen. Im Grunde finde ich es bescheuert, dass man rückwarts rudert und nie weiß, wohin man eigentlich steuert und wenn der Mann auf der Hinterbank pennt, ist man ausgeliefert. „Haltet euch von den roten Bojen fern“, hatte uns der nette Mann noch zugeraten. Und da tauchen sie auch schon neben uns auf, gefährlich nah am Boot. Ich versuche mit aller Kraft der Gefahr auszuweichen und vergesse dabei den Rundumblick. Plötzlich taucht auf der anderen Seite ein riesiger Dampfer auf, der direkt auf uns zusteuert. Ich gerate in Panik und paddele wie wild herum. Für einen Moment bin ich versucht die Augen zu schließen und auf das Beste zu hoffen. Mein Engländer löst sich aus der Schockstarre und gibt mir Kommandos. Dann folgt ein ohrenbetäubendes Hupen und der dicke Bauch des Schiffes plätschert seitlich an uns vorbei. Ich wage mich nicht, die breit grinsenden Ausflügler, die glotzäugig vom Ober- und Unterdeck stieren, anzusehen. Ich bin peinlich berührt und blicke beschämt in die andere Richtung. Ich paddele noch ein paar Meilen weit und übergebe dann an den zweiten Maat. Jetzt endlich kann ich durchatmen und die Landschaft genießen, die sich rund um den See erstreckt. Wieder bin ich verzaubert von der eigentümlich rauen Berglandschaft der Cumbrian Mountains mit den tiefdunkelgrünen Wäldern, die im sommerlich warmen Sonnenlicht in den unterschiedlichsten Schattierungen leuchten. Wir umschiffen winzige Inselchen, von denen es insgesamt 18 geben soll, weichen Segelbooten aus. Dann erblicke ich am Ufer eine lichte Stelle und schlage vor, dort anzubinden und auf ein Picknick an Land zu gehen. Ich habe Hunger und übernehme wieder das Ruder. Mit zusammengebissenen Zähnen und aus Angst, jemand könnte uns das lauschige Plätzchen direkt vor der Nase wegschnappen, hole ich alles aus mir heraus. Doch wir brauchen ewig, bis wir uns dem Ufer nähern. Dann plötzlich ragt zwischen den Bäumen, die sich wie knochige Waldelfen hinunterbeugen, um ihre verblichene Schönheit im Wasser spiegeln zu können, eine kleine, einsame Bucht auf. Doch die Landung erweist sich als schwierig, denn überall ragen spitze Felsbrocken aus dem Wasser empor, die den Rumpf unseres Kahns zu zerschrammen drohen. So vorsichtig wie möglich laviere ich uns zwischen ihnen hindurch. Während mein Engländer hinten im Boot noch sinniert und Wahrscheinlichkeiten abwägt, krempele ich meine Hosenbeine hoch und lasse mich ins kühle Nass gleiten. Neben mir stecken spitze Metallteile im Schlamm und ich bin froh, dass ich genau danebengetreten bin. Dann schnappe ich mir den Bug und schleife unseren Kahn samt staunendem Engländer auf festen Boden. Geschafft! Jetzt heißt es dinieren und schlemmen was das Zeug hält. Und wir haben einiges an Leckereien mitgebracht. Jetzt weiß ich auch endlich, wozu die Rettungswesten eigentlich gut sind. Man kann urbequem seinen Hintern darauf platzieren. Ab und zu tauchen Spaziergänger auf dem Waldweg hinter uns auf. Ansonsten sind wir allein auf der Welt. Ich bin gerührt von so viel Raffinesse und während ich dem Gesang der Wellen lausche, die sanft ans Ufer schlagen, kann ich mir keinen vollkommeneren Ort auf Erden vorstellen, an dem ich lieber sein möchte. An diesem Tag habe ich nur einen kleinen Teil des Windermere gesehen, denn die Bucht lag nicht einmal auf halber Seestrecke, und dennoch bin ich sicher, dass die Schönheit dieses Fleckchens nicht mehr übertroffen werden konnte und dass es somit genügte, an diesem Ort zu verweilen. Bis zu jenem Tag war ich immer sicher, dass Freiheit und Geborgenheit einander widerstrebende Dinge sind. Dass man sich entweder für das eine entscheidet oder das andere, was mich irgendwie trübsinnig stimmte. Doch in dieser märchenhaften Bucht wurde ich eines Besseren belehrt, denn hier verschmolz beides auf wundersame Weise.
Die Philosophen von Windermere
Obwohl das Städtchen Windermere den gleichnamigen See nicht direkt berührt, trägt es, gleichsam verwachsen mit Bowness, den Namen doch irgendwie zu Recht. Mit seinen etwas mehr als 8000 Einwohnern ist es ein beschauliches Örtchen, das einen umwerfenden Charme versprüht, dem man sich schwer entziehen kann. Die Architektur erinnert mich stark an die verschneiten Backsteinhäuschen mit den anknipsbaren Lichtern in den winzigen Fenstern meiner Weihnachtsdekoration. Hier stehen sie auf einmal lebensecht vor mir und ich bin ganz verzückt von den zauberhaften Lädchen, den kleinen, verwinkelten Gassen und urigen Cafés. Was für ein ausnehmend hübscher Ort. Von einem Moment auf den anderen erwischt uns ein heftiger Regenschauer und treibt uns in eine moderne in frischen Frühlingsfarben ausstaffierte Bar mit Namen „The Lighthouse“. Unerwarteterweise trinke ich hier nicht den besten englischen Earl Grey, sondern einen meiner Lieblingscocktails, einen unglaublich köstlichen Strawberry Daiquiri, der meine Geschmacksknospen zum Blühen bringt. Während der Regen vor dem Fenster die cumbrische Erde durchweicht, plaudern wir im Trockenen über das Leben und beobachten die vor dem Regen flüchtenden Passanten auf der anderen Seite der Fensterscheibe. Dann klart es auf und wir schlendern zum nächsten Etablissement. Im Café Italia schlüpfen wir in die hinterste Ecke des Außenbereichs und schlürfen mit viel Muße zwei Latte Macchiatos. Neben uns hat es sich ein Pärchen gemütlich gemacht, das mein Interesse weckt. Sie sind um die 60 und haben sich beide Lektüre mitgebracht. Er liest aufmerksam in einer Zeitung, sie ist in einem Buch versunken. Auf dem Tisch stehen zwei Weingläser, an denen die beiden ab und an bedächtig nippen. Sie wirken wie ein Philosophengespann, erinnern mich sofort an Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Ob die beiden sich wohl auch siezen und ihre Liebschaften miteinander teilen? Doch sie wechseln kein Wort miteinander. Und dennoch sitzen sie so einträchtig und vertraut beieinander, dass nichts Langweiliges, Gewöhnliches daran ist. Eine liebevolle Verbindung mit intellektuellem Tiefgang, kein hoffnungsloser Smalltalk über die Gebrechen entfernter Bekannter, wie er alte Paare für gewöhnlich überfällt. Sie erlauben sich stille Momente ganz für sich und bleiben trotzdem vereint. Das beeindruckt mich ungemein
Am Quell des Lebens in Ullswater
Auf unserer Entdeckungstour durch die Lakes, wie der Engländer das Gebiet liebevoll nennt, halten wir an einem der wohl beeindruckendsten Gewässer des Distrikts. Ullswater ist nach Windermere der zweitgrößte See der Region und gehört landschaftlich zu den schönsten und sehenswertesten Attraktionen, die wir aufgesucht haben. Wir parken in einer schmalen Seitennische am Straßenrand und wandern einen gewundenen Waldweg entlang, der einen Abhang hinunter zu einem steinigen kleinen Ufer führt. Fassungslos stehe ich vor dem einzigartigen Panorama, das sich vor mir enthüllt. Ich kann kaum glauben, dass ich inmitten dieser Traumlandschaft stehe. Alles wirkt seltsam unwahrscheinlich und doch faszinierend wirklich. Ich komme mir plötzlich so winzig vor angesichts dieser gewaltigen, urmächtigen Eindrücke, die wie schaurig-schöne Ungetüme auf mich einströmen. Der See liegt in einer schimmernden Schale aus reinstem Silber vor mir, eingebettet in die schattenwerfenden Cumbrian Mountains. Auf seiner Oberfläche brechen sich die Strahlen der Nachmittagssonne, verwandeln sich in leuchtende Punkte und hüpfen wie funkelnde Kristalle davon. Mein Herz weitet sich bis zum Horizont. Wieder fühle ich die Nähe zur Welt, die mich umfängt und mir selbstverliebt zuflüstert: „Sieh nur hin! Bin ich nicht unfassbar schön!“ Ich rechne damit, jederzeit aufzuwachen, schließe die Augen, doch ich bin längst hellwach. Meine Füße waten durch eisiges Wasser. Es sticht und schmerzt fürchterlich. Ich bin am Leben. Hier wird es mir klar. Ich befreie mich vom Ballast der Zivilisation und lege all meine Kleider ab. Dann tauche ich ins eisige Nass. Nie war Freiheit so spürbar. Ich blicke über den See und vermute, dass niemand mich sehen kann. Als ich mich wenig später abtrockne und wieder in Schale schmeiße, fährt einer der Ausflugsdampfer, voll besetzt mit glücklich strahlenden Touristen direkt am Ufer entlang. Mein Timing war unschlagbar.