Yorkshire Dales

20140807_120213Während uns der mild raue Fahrtwind um die Ohren saust, verlassen wir allmählich die bergig schöne Landschaft Cumbriens und erreichen schließlich eine atemberaubende Szenerie, auf die ich schon so lange neugierig gewartet habe: Die berühmten Yorkshire Dales. Ich kann es kaum erwarten, mein romantisch verklärtes Bild, das ich in meiner Rosamunde-Pilcher-Phantasie von dieser Landschaft gezeichnet habe, mit der Wirklichkeit abzugleichen. Als wir um ein paar enge Kurven biegen ändert sich tatsächlich sichtbar etwas. Die dunklen Feldsteinmauern, die das Land gleichmäßig überziehen und in Flurstücke teilen werden heller, die steilen Bergpanoramen verschwinden und die Gegend wird hügeliger, im Ganzen sanfter. Manch einer würde das, was da vor uns liegt als karges Land bezeichnen, was ich aber so nicht unterstreichen kann. Karg ist hier gar nichts. Ein unscheinbares Schild an einer der moosbewachsenen Trockenmauern verrät: Wir haben den Nationalpark der Dales erreicht. Wir passieren das Tor zu Yorkshires grün schimmernder Perle.

20140807_140752Die von den Gletschern der letzten Eiszeit hervorgebrachten Täler sind überwiegend umringt von zum Teil bizarr geformten Kalksteingebirgen. Dunkel schimmernde Höhlen und tiefe Schluchten, rau in die Landschaft ragende Hänge laden waghalsige Kletterer zu abenteuerlichen Aufstiegen ein. Das Wahrzeichen der idyllisch vor uns auftauchenden Gegend aber ist das typische Yorkshire Schaf. Ein gemütlich vor sich hin grasendes Tierchen mit elegant um den Kopf geschwungenen Hörnchen. Im Vorbeifahren erkenne ich einige lebende Exemplare dieser Gattung, daneben etliche weitere wollene Knuddelzwerge. Wir schlängeln uns mit brausendem Motorgetöse durch die menschenleere Weite des einen ungewöhnlichen Charme versprühenden Hochmoorpanoramas. Ab und zu taucht eine steinerne Hütte auf, vielleicht auch nur eine Scheune, dann kleine Ortschaften, die nicht mehr als zehn Häuser zählen. Doch wo immer sich Menschen in dieser wundervoll verlassenen Gegend ansiedeln ist ein Pub nicht weit. Ich frage mich, wie diese lässig-gemütlichen Lokalitäten hier überleben können. Dann zwackt mich ein sanftes Hungergefühl in meinen mit englischen Trockenkeksen gefüllten Magen. Wir brauchen etwas, das unsere flauen Bäuche stopft und entscheiden uns für einen kleinen Zwischenstopp in Hawes, einem idyllischen Dörfchen im Norden Yorkshires.

Hawes
Wie alle Örtchen im sommerlichen Nordengland ist auch dieses nette Fleckchen um die Mittagszeit mit Menschen reich bestückt. Bikes und Motorräder, deren Inhaber in den umliegenden Pubs und Cafés ihre Bierchen schlürfen, säumen die Straßenränder. Als höchstes Marktstädtchen Englands und Heimat des berühmten Wensleydale Cheese ist Hawes nicht von ungefähr einer der Touristenmagneten der Yorkshire Dales.

20140807_133440Etwas ziellos schlendern wir durch das hübsche Städtchen und passieren schließlich ein kleines Restaurant, das den lustigen Namen „The Chippie“ trägt. Oder unter uns Berlinern gesagt: `ne waschechte Frittenbude. Das nach außen hin recht unscheinbare dunkle Backsteinhaus mit den blauen Markisen verspricht Fish and Chips im Überfluss. Im Vorbeigehen erhasche ich einen Blick ins Innere und bin auf der Stelle hingerissen. Hier müssen wir einfach gastieren. Als wir durch die Tür ins Innere schlüpfen eröffnet sich eines der gemütlichsten Lokalitäten, die ich mir vorstellen kann. Der mit seemännischen Dekorelementen liebevoll eingerichtete Raum besticht durch seine abgetrennten Holz-Abteile, die unmittelbar den Charme eines Bootshauses versprühen. Ich fühle mich auf Anhieb in meinem seefräulichen Element und freue mich, dass uns der gütige Zufall zu diesem kleinen Schmuckstück geführt hat. An einem der Fensterabteile nehmen wir Platz. Eilig kramen wir unser Kleingeld zusammen. Im Eifer des Gefechts haben wir glatt vergessen, genug Bargeld mitzubringen. Da taucht auch schon der Kellner, in seinen Händen freudig die Menükarte jonglierend an unserem Platz auf. Nachdem etwas miesmuschelig geklärt ist, dass Kartenzahlung nicht akzeptiert wird, macht sich mein Freund auf den Weg zum nächsten Geldautomaten. Zuvor fällt die Wahl auf eines der unzähligen Fish-and-Chips- Gerichte.
„Could we have the normal fish and chips?“, fragt mein Engländer verunsichert.
„What means normal? It depends on, where you come from.“, antwortet der flachsblonde Kellner, der aussieht wie eine britische Version von Jürgen Klopp, schnippisch und ohne jede Neigung zur Hilfestellung. Wenn man bedenkt, dass das urbritische Gericht in den 20iger Jahren des letzten Jahrhunderts ausgerechnet von einem Yorkshireman wiederentdeckt wurde, wird vielleicht klar, warum der gute Mann etwas erstaunt über so viel Unkenntnis reagiert. Es dauert nicht lange, da ist das Portemonnaie meines Freundes wieder gefüllt und unsere Teller ebenso. Schlagartig vergesse ich alles, was ich bisher über Fish and Chips zu wissen meinte. Das, was hier vor uns auf unseren Tellern dampfte übertraf bei Weitem alles, was bisher in dieser Richtung meinen Gaumen passiert hatte.

20140807_131534Mit Hochgenuss verspeisen wir Bissen für Bissen das gourmetgleiche Essen. Reichlich getränkt mit Vinegar, überstreut mit dicker Salzkruste zergeht Happen für Happen auf der Zunge. Eine wahre Köstlichkeit, kann ich nur sagen. Mit dicken, aber vor Zufriedenheit glucksenden Bäuchen schieben wir die Teller von uns und verlassen das gemütliche Schiff.
Nach so viel Salzgenuss, könnte ein Eis jetzt nicht schaden, denke ich mir und schiele Richtung Eiswagen, der nur wenige Meter entfernt an der Straße gastiert. Ohne wirklich zu wissen, wie man eigentlich Eis auf Englisch bestellt, entlocke ich mir ein paar unbeholfene Worte und siehe da: wenig später schlecke ich genüsslich an einer Softeiskugel. Dann schlendern wir weiter unseres Weges. Wenige Wochen zuvor strampelte die Tour de France durch Yorkshire und ist noch immer sichtbar an den vielen kleinen Wimpeln, die ringsherum zwischen den Häuserfronten umherhüpfen. Während sich in Deutschland seit den letzten Dopingskandalen keiner mehr so richtig um das Sportevent schert, sind die Engländer in diesem Jahr ganz aus dem Häuschen. Jedermann scheint hier bemüht, einen Platz an der Strecke zu ergattern. Man kann nur hoffen, dass das schöne Fleckchen Erde nun nicht dauerhaft von Touristenströmen überrannt wird, sondern seine mystische Urtümlichkeit bewahren kann, die es so einzigartig macht.

Schafsdesaster
Weiter geht es Richtung Bradford, dem Heimatort meines Freundes. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wieder schlängeln wir uns durch die mal karge, mal saftig grüne Moorlandschaft. Dann taucht rechts von mir (wohlbemerkt die Fahrerseite) ein sich über Stock und Stein wild dahin schlängelnder Fluss auf, an dem Schafe verschiedenster Rassen weiden und siehe da, Menschen fröhlich mit den Füßen im Wasser planschen. Auch wir können uns dem rauschenden Zauber nicht entziehen und entscheiden uns für einen Zwischenstopp. Befreit vom Großstadtmuff balanciere ich in atemberaubender Kulisse und in strahlendstem Sonnenschein von Stein zu Stein.

20140807_142846Im Grunde habe ich kein Vertrauen mehr in das ewige Gerede vom miesen englischen Wetter. In meiner Erfahrung überwiegt hier ganz klar Sonnenschein mit einigen kleineren, aber wirklich kurzen Regenperioden, wie sie überall in Europa zu finden sind. Ich halte das schlechte englische Wetter nun schlichtweg für eine Legende oder wieder einmal für pure Taktik, ganz im Sinne des schwarzmalenden Engländers, der dann durch das pure Gegenteil überraschen will.
Dann entdecke ich im hohen Gras neben mir zwei flauschige Genossen. Ohne mir im Vorfeld eine ausgeklügelte Strategie zurechtgelegt zu haben, wage ich mein Glück und hoffe auf eine menschenfreundliche Rasse. In gebückter Haltung schleiche ich mich von hinten an die zwei friedlich grasenden Kumpane heran. Sie scheinen mich nicht zu bemerken oder, wie ich hoffe, geduldig gewähren zu lassen. Dann wage ich ein leises, beschwichtigendes Schnalzen, wie es manche Berliner Migranten tun, die an Neuköllner Mauern gelehnt deutschen Mädels imponieren wollen. Doch das hätte ich besser unterbleiben lassen. In einem Ausbruch urplötzlicher Panik stieben die Tierchen zu Tode erschrocken davon. Enttäuscht blicke ich ihnen nach. Was habe ich nur falsch gemacht?

20140807_142659Schallendes Gelächter erklingt hinter mir.
„Was hast du denn erwartet? Du schleichst dich wie ein Wolf an seine Beute heran, hast noch nicht mal was zu essen in der Tasche und erwartest, dass die Schafe geduldig stehen bleiben?“
Wieder einmal werde ich zum Gegenstand des nachtragenden englischen Humors, der mir noch Tage mit seiner spitzzüngig-schelmischen Spotthaftigkeit nachhängen wird. Enttäuscht lege ich mein freundschaftlich gesinntes Vorhaben mit den Schafen Englands ad acta.
„Futter würde schon helfen.“, höre ich mir missmutig an, doch ich hege längst andere Pläne.

Yorkshires einsamster Biergarten
Als wir wieder im Auto sitzen und durch die endlos scheinende Hügellandschaft davonrauschen, taucht inmitten vom Nirgendwo plötzlich einer der idyllischsten und zugleich verlassensten Biergärten auf, die ich jemals gesehen habe. Am Fuß eines Kliffes, umrahmt von saftigen Wiesen hatte jemand ein paar gemütliche Holztische und Bänke gruppiert.

20140807_151642Die Sonne strahlt und verleiht der Kulisse einen erfrischend sommerlichen Anstrich. Geplagt von Hunger und Durst und der Sehnsucht nach einem erholsamen Päuschen, parken wir das Cabriolet vor dem Eingang des zugehörigen Hotelpubs. Im Innern befinden sich gerade einmal zwei Menschen. Der Barkeeper und ein neugieriger Gast, der sich sehr für unser Gefährt zu interessieren scheint. Ich kann mir nicht helfen, aber seine slawischen Gesichtszüge und sein ausgeprägtes Interesse an fahrbarem Untersatz lassen mich skeptisch werden. Wir ordern Bierchen und Wein. Dann verlässt mich mein Freund kurz und verschwindet auf der hauseigenen Toilette. Unsicher und unwillig, dumm in der Gegend herumzustehen und mögliche Fragen der neugierig dreinblickenden Pubinsassen zu beantworten, krame ich in meinem Rucksack und fingere an meinem Smartphone herum. Wenig später finden wir uns in strahlendem Sonnenschein im Biergärtchen wieder. Ich könnte ewig hier herumsitzen, stundenlang an meinem Weinglas nippen und die Welt draußen lassen. Aber mein englischer Freund ist da eher pragmatisch und zielgerichtet veranlasst. Mit einem deutlichen „Anyway!“ gibt er mir unmissverständlich zu verstehen, dass es jetzt an der Zeit sei wieder aufzubrechen. Mit einem Schmollmund unterwerfe ich mich schließlich dem strengen Zeitplan meines Fahrers und wir brausen eiligen Rades davon. Weiter geht es ab und auf durch die engsten Straßen und Kurven, die ich je passiert habe. Immer wenn uns ein Auto entgegenkommt, zucke ich kurz zusammen, da ich mir nie sicher bin, ob hier auf diesen schmalen Pfaden tatsächlich zwei Wägelchen nebeneinanderpassen. Aber es geht immer wieder gut. Niemand kommt zu Schaden.

Saltaire
Wenige Autominuten von seinem Elternhaus entfernt, hält mein Freund urplötzlich in einem unscheinbaren Örtchen und bittet mich, auszusteigen. Verwirrt und ahnungslos folge ich seinen Anweisungen und bin gespannt, was der überraschungswütige Engländer nun wieder für eine Sensation bereit hält. Da beginnt er auch schon munter drauflos zu plaudern und ich begreife: An diesem Ort verbirgt sich also wieder eine von vielen Geschichten, die einem nur zur Kenntnis gelangen, wenn man einmal in Berührung mit einer Region gekommen ist, die bisher dem Erfahrungshorizont mehr als fern gewesen ist. Es ist die bemerkenswerte Geschichte des Mühlenbesitzers Sir Titus Salt, der, ungewöhnlich für die raue Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts, ein beachtenswertes soziales Pionierprojekt ins Leben rief. Als der tatkräftige Tuchfabrikant 1851 am Fluss Aire seine neue Fabrik, die Salts Mill errichten ließ, bedachte er zeitgleich das Wohl seiner etwa 3000 Arbeiter, für die er drumherum eine komplette Siedlung bauen ließ, die den modernsten sozialen Ansprüchen genügen sollte.

20140811_161637Nicht nur die Arbeiterwohnungen selbst verfügten über eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich lebenswerte Ausstattung. Salt sorgte ebenfalls für die gemeinschaftlichen Bedürfnisse seiner Arbeiter, indem er zahlreiche soziale Einrichtungen bauen ließ, darunter eine Kirche, eine Schule, ein Hospital, ein Armenhaus, eine Bibliothek und vieles mehr. Das Einzige, was er ausließ, war der ultimative Treffpunkt der englischen Arbeiterschicht: einen Pub gab es nicht. Schließlich sollte die working class nicht verkatert zur Schicht erscheinen oder schlimmer noch, am Stammtisch auf dumme Gedanken kommen und womöglich eine Gewerkschaft gründen. Ich staune über so viel Weitsicht in einer Zeit, in der die unwirtlichen Arbeitsbedingungen der Proletarier nicht gerade auf der Reformagenda der Fabrikbesitzer standen.
Auch heute noch präsentiert sich die Mühle im Licht einer besonderen sozialen und kulturellen Verantwortung. 20140811_150146In den ehemaligen Fabrikgebäuden befinden sich neben einer Ausstellung mit Werken des Bradforder Künstlers David Hockney, dessen Werke inzwischen für mehrere Millionen Pfund gehandelt werden auch eine Reihe verschiedener Shops und ein Restaurant. Eine gefühlte Stunde verlieren wir uns in den großflächigen, lichtdurchfluteten Verkaufshallen zwischen Künstlerbedarf und Büchern aller Sparten.

Ilkley

20140813_114028Bevor wir unseren nächsten Aufenthaltsort im westlichen Yorkshire erreichen parken wir unmittelbar vor einer der imposantesten und aufgrund der zugehörigen Geschichte beeindruckenden Felsformationen der Dales: dem Cow and Calff. Die zu deutsch Kuh und Kalb genannte Felsanordnung gewann ihren Namen dadurch, dass am Fuße eines großen Mutterfelsens, ein kleinerer Felsen schlummert. Ähnlich wie eine Kuh mit ihrem Kalb. Man erzählt sich, dass einst auch ein Bullenfelsen dazugehörte. Da dafür aber heutzutage felsenfeste Beweise fehlen, kann man diese Geschichte getrost ins Tal der Legenden verweisen.

20140811_165607Und was wäre natürlich eine nordisch-mystisch anmutende Landschaft wie die Yorkshire Dales ohne einen der sagenhaften keltischen Steinkreise. Auch in dieser Gegend soll sich eine druidische Kultstätte verbergen, benannt nach den Zwölf Aposteln. Doch die Karte am Fuß des Cow and Calff ist wenig hilfreich. Wir schieben die Suche auf und klettern zunächst nur auf die Anhöhe hinauf. Über Stock und Stein, moosbewachsene Stufen, vorbei an purpurn schimmerndem Heidekraut erreichen wir den Gipfel. Hier oben wächst noch mehr Heidekraut und zieht sich wie ein flauschiger Teppich zwischen den flachen, wie riesige Platten aufeinandergestapelten Felsen hindurch.

20140813_114020Abgelenkt durch den sagenhaften Blick auf das idyllisch im Sonnenlicht schlummernde Ilkley-Tal und die umgebende Landschaft bemerke ich erst später die unzähligen Namen, für die Ewigkeit eingeritzt in die mich umgebenden Steine. Auf einem steht in großen Lettern: E.M. Lancaster. 1882. Ich stelle mir vor, wie ein gut gekleideter englischer Gentleman, über seinem neuesten Poem sinnierend an einem luftigen Sommertag hier oben heraufklettert, den Ausblick genießend seine Existenz überdenkt ,einen spitzen Stein suchend, mit dem er dann vielleicht eine Stunde lang diesen Stein markiert. Und sich so der ach so vergesslichen Nachwelt in Erinnerung zu rufen meint, auch wenn seine poetischen Zeilen längst von den nass-kalten Yorkshire Winden in alle Himmelsrichtungen zerstreut worden sind.

20140811_170150Doch das Ilkley Moor bietet noch mehr mystisch Umwobenes. Es ist der Fundort der rätselhaften Cup-and-Ring-Stones. Einer eigenartigen, vermutlich bronzezeitlichen Form der Felsmarkierung, bei dem sich konzentrische Kreise um eine Vertiefung, ein sogenanntes Schälchen gruppieren. Entfernt erinnern sie mich an die Himmelsscheibe von Nebra und ich frage mich, ob sich die Menschen in Ilkley auch Imitate um den Hals hängen. Die Bedeutung dieser kunstartigen Gravierungen sind bis heute nicht geklärt. Ich selber habe zwar keinen der Steine persönlich betrachtet, vermochte jedoch ein paar Fotografien in einem örtlichen Pub zu betrachten.
Auch lyrisch, erfahre ich später, wurde das Moor gewürdigt. Das Volkslied „In Ilkla Moor Baht’at“ (On Ilkley Moor without your hat), verfasst im klangvollen Yorkshire Dialekt gilt sogar als inoffizielle Hymne der Grafschaft.
Als der Wind uns zu kräftig um die Ohren weht und die ernsthafte Gefahr besteht willenlos davongetragen zu werden, wagen wir den Abstieg und machen uns auf nach Ilkley. Der im viktorianischen Stil erbaute Kurort genießt Popularität. Im Jahr 1859 soll selbst Charles Darwin die Vorzüge der berühmten Heilquellen genutzt haben. Aber Ilkley zählt auch zu Englands reichsten Städten. Die Millionärsdichte ist hier eine der höchsten im Norden. Und da die Menschen hier relativ wohlbegütert sind, geben sie sichtbar gern etwas her für das Wohl der Allgemeinheit. Auffällig viele Charity-Läden besiedeln das Stadtbild.
Und auch in Ilkley finden sich wieder Spuren der älteren Geschichte. Irgendwo sollen sich Überreste eines römischen Forts befinden. Wir betreten neugierig das Gelände einer Pfarrei, wo mein Freund entdeckungshungrig besagte Stelle anzusiedeln meint. Und tatsächlich, auf einer der Wiesen hinter dem Kirchengebäude steht einer der insgesamt vier Markierungssteine, die die Enden der antiken Befestigungsanlage anzeigen. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir nicht viel über das Bauwerk und übersehen die noch erhaltenen Mauerreste, die sich ganz in der Nähe befinden müssen.

Bolton Abbey

20140812_121312Immer wenn ich an Yorkshire denke, erstehen vor meinem inneren Auge unverzüglich die Ruinen großer mittelalterlich düsterer Abteien, die wie mächtige Schatten aus dem Nebel der Vergangenheit ragen. Ein zugegebenermaßen recht romantisch verklärtes Bild, das ich so nicht wirklich, sondern eher in einer etwas abgeschwächten Variante, und auch nur vielleicht erwartet hätte. Ein Bild, das, wie sich herausstellen sollte, aber tatsächlich von der Wirklichkeit übertroffen werden würde. „Warte, bis du Bolton Abbey siehst“, hatte mir die Familie meines Freundes zugeflüstert, als ich schwärmend von meiner einige Tage zurückliegenden Odyssee nach Kirkstall Abbey berichtete. Und dann ist es endlich soweit. Wir erreichen den Parkplatz unweit des Abteigeländes. Mein Freund, der sich plötzlich seiner britischen Spendierhosen entledigt, ärgert sich maßlos über die Parkplatzgebühr, die wahrlich mit 8 Pfund ziemlich überteuert wirkt, doch mir ist jeder Preis recht, um nur einmal hautnah die Silhouette einer der prächtigsten Steinruinen Nordenglands in Augenschein nehmen zu können. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichen wir das ummauerte Tor, steigen die Stufen zu einer Märchenlandschaft herab. Und da liegt sie vor uns, in strahlendem Sonnenschein: Die Ruine von Bolton Abbey.

20140812_120616Zunächst weiß ich gar nicht, wohin ich meinen Blick wenden soll. Auf der einen Seite plätschert der Wharfe mal friedlich, mal brausend durch die saftig grüne Landschaft, grasen Kühe unbezäunt nur wenige Meter entfernt, lümmeln Familien picknickend am Ufer. Auf der anderen Seite ragt das prächtige Antlitz der Abtei in die Welt hinein. Und wieder wird mir klar, dass nur über den Ruinen dieser eigenartige Zauber liegt, den ein vollständig erhaltenes Gebäude wohl niemals zu erreichen vermag. Die Brocken einer jahrhundertewährenden Geschichte liegen hier verstreut herum. Und das alles dank den amourösen Ausschweifungen König Heinrichs VIII., der, da ihm die Scheidung von seiner Frau Katharina von Aragon vom Papst verwehrt wurde, um seine Geliebte Anne Boleyn zu ehelichen, dem Katholizismus prompt den Krieg erklärte (dies mal etwas komprimiert dargestellt). Sein Zorn traf auch die Klöster, die er kurzerhand auflösen und zerstören ließ. Die heute so romantisch sich in die Landschaft einfügenden Ruinen zeugen im Grunde also von einer Welle der Gewalt. Wäre man politisch inkorrekt, ließe sich behaupten, der wahnwitzige Monarch hat am Ende Englands Landschaft fein herausgeputzt.
Und überall ist es gestattet hindurchzuschlüpfen, herumzuklettern, zu berühren, was längst vergangen ist. Ich denke an unsere musealen Stätten in Deutschland und bin mir sicher, dass so ein frei vergnügtes Herumspringen in den kostbaren Relikten und auf den gepflegten Wiesen wohl eher unwahrscheinlich wäre. Im Gegenteil, das Picknicken in dieser atmosphärischen Kulisse ist hier ausdrücklich erlaubt. Ich meine sogar ein freundlich einladendes Schild gesehen zu haben. Doch liegengelassene Bierflaschen, Burgerpapier und Discounter-Plastiktüten sucht man vergebens. Auch die Fassaden oder Grabsteine des Klosterfriedhofs sind weder graffitibeschmiert, noch tragen sie unanständige Parolen. Scheinbar schätzen die Engländer ihr kulturelles Erbe einfach mehr als wir Deutschen oder der Reinigungsservice ist besser. Und dennoch wird auch hier nicht sichtbar um Spenden gebettelt, sondern ganz unscheinbar höflich, eben auf englische Art. In einer unauffälligen Nische in einem der Säulendurchgänge entdecke ich einen verrosteten kleinen Schlitz. Darüber der dezente Hinweis, dass man etwas geben könne, natürlich nur, wenn man wolle. Ich stutze, weil die Spendenluke historisch so perfekt in den Stein integriert wurde, dass es aussieht, als hätten die Bauherren selbst schon daran gedacht. Und dann bin ich gerührt, weil es wirklich schwierig ist, nicht achtlos daran vorüberzugehen. Von so viel dezenter Zurückhaltung getroffen, öffne ich mein Portemonnaie und lasse ein Pfundstück hineinpurzeln. Wieder einmal hat der Engländer mich erwischt.
Mit großen Augen und offenem Mund bestaune ich jedes Detail der uralten Gemäuer, vertiefe mich in die Inschriften der Gräber, betrachte herumliegende Dekorelemente. Dann werfen wir einen Blick in die anglikanische Pfarrkirche, die noch heute in Betrieb ist. Zwei ältere, zwillingsgleiche Damen begrüßen uns freundlich und bitten uns herein.
„Wenn die Kirche ihre Fragen nicht von selbst beantwortet, dann fragen sie ruhig.“, bietet das lächelnde Gespann uns an. Ich gebe zu, dass ich mich nicht unwahrscheinlich gern in Kirchen aufhalte. Irgendwie komme ich mir als gottlos erzogener Mensch immer seltsam deplatziert vor. Doch die Neugier siegt und ich verliere mich in den historischen Details. Außerdem mag ich die chorale Musik im Hintergrund und fühle mich nicht mehr ganz so unwohl in meiner ungläubigen Haut. Dann entdecken wir einen Mönchsgang, der an den oberen Fenstern entlangführt und wie ich meine, rund um den Kirchsaal führt. Ich stelle mir vor, wie die frommen Augustinermönche, in ihre dunklen Kutten gehüllt, mit demütig gebeugten Häuptern einst da oben langwandelten, tagein und tagaus dieselben Gebete vor sich hinmurmelnd.
Wenig später atmen wir wieder Frischluft. Vom Atem der Geschichte angehaucht, schlendern wir zum Fluss hinunter. Ich möchte die ulkig aussehenden Kühe von Nahem betrachten und hoffe auf einen neuen tierischen Annäherungsversuch. Doch die weiße Kuh mit dem beuligen Kopf und den schwarzen Flecken um die Augen, die mein Interesse geweckt hat, blickt plötzlich nicht mehr so friedliebend drein. Langsam nähern wir uns dem halb liegenden Geschöpf, das uns skeptisch beäugt. Dann entdecke ich ein unberechenbares Feuer in seinen Augen und trete den Rückzug an.
„Das lassen wir besser“, sind wir uns einig. Auf der anderen Seite des Flusses entdecken wir einen neuen Zeitvertreib und lassen Steine über die Wasseroberfläche hüpfen. Das heißt, eigentlich hüpfen sie nur bei meinem Freund mehrmals galant über das glitzernde Nass, während meine Steinchen sich meist mit einem einfachen Plumps! In die Tiefe verabschieden. Ich gebe nicht auf, trainiere was das Zeug hält und da passiert im Eifer des Gefechts die Beinahkatastrophe: Unweit meiner Wurfzone stakst ein kleiner Junge friedlich im Wasser umher, seine Eltern ausgelassen um sich herum versammelt. Ich setze also erneut zu einem Manöver an und verliere den Stein frühzeitig aus den Händen. Das kleine Geschoss fliegt in hohem Bogen Richtung Kind, verfehlt dessen Kopf nur um wenige Zentimeter und landet dann spritzend im Fluss. Ich verfalle augenblicklich in Schockstarre und rechne mit Gebrüll, Schimpf und Schande, Verhaftung und was nicht allem. Doch nichts dergleichen passiert. Denn, und das ist der Witz an der Geschichte, niemand hat meinen Ausrutscher bemerkt, nicht einmal das Kind selbst, das sich nur kurz nach dem Geplätscher umdreht, dann aber wieder eifrig in sein Spiel versinkt. Jetzt habe ich keine Lust mehr auf das fröhliche Steinewerfen, d.h. eigentlich habe ich vielmehr Angst vor weiteren physischen Ausfällen.
So ergab es sich, dass ich meine erste Begegnung mit Bolton Abbey in zwiespältiger Erinnerung behalte. Schwankend zwischen der mystischen Schönheit der Abtei und einem schaurigen Beinahunfall am nahegelegenen Flussufer.

Malhamdale und Gordale Scar
Unser nächster Ausflug führt uns in eine ungewöhnlich faszinierende Kalksteinlandschaft, die ihr Antlitz über Millionen von Jahren unter dem Einfluss von Gletschererosionen und Witterungen erhalten hat. Unternehmungslustig entscheiden wir uns spontan für den Aufstieg auf einen der größeren Hügel und stolzieren frei von jeglicher Bergmannsrüstung den von mehreren hölzernen Toren eingefriedeten Pfad entlang.

20140812_153317Am Fuß des Bergchens, das wir auserkoren haben passieren wir einen kleinen Imbisswagen, der neben Kaffee, Erfrischungsgetränken und allerlei Snacks auch meine Lieblingsspeise bereithält: Salt and Vinegar Chips. Mein Magen knurrt und ich muss mich sehr zusammennehmen, um mich nicht der sinnlosen Völlerei hinzugeben. Wir geben unserer Motivation einen Ruck und beschließen das Ganze als Belohnung im Anschluss zu zelebrieren. Mit tapferer Miene trabe ich hinter meinem Bergführer her, der jedoch auf freiem Feld schon bald die Orientierung verliert. Vor uns offenbaren sich plötzlich zwei mögliche Wege, die zum Gipfel führen könnten. Da sehen wir hinter uns zwei in professionelle Bergsteigerkluft gekleidete ältere Herren heranstapfen.
„Lass uns doch mal sehen, wo die beiden langgehen. Dann gehen wir einfach hinterher.“, schlägt mein bequemer Engländer vor.
Ich bin mir aber längst sicher, den richtigen Weg entdeckt zu haben, der durch ein Loch in einer der Trockenmauern führt. Zumindest sieht das für mich nach einer lohnenswerten Abkürzung aus. Doch mein Drängen nützt wie immer wenig. Der Engländer bleibt stur. Ein Loch in der Trockenmauer, das kommt gar nicht infrage. Unauffällig vertreten wir uns die Beine im taunassen Gras, stehen unbeholfen herum. Dann passieren die Profis und wir schleichen unauffällig hinterher. Gut, sie wählen die konventionelle Variante. Wir gehen also einen Riesenumweg und stehen schließlich am Fuß des Hügels, den ich gern Berg nenne, da der Aufstieg in meiner Kondition eher bergähnlich ist. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Der Boden ist leicht schmierig und ich finde nur mäßigen Halt. Aber alles geht gut. Und so erreichen wir langsam aber sicher den obersten Punkt. Auch hier liegen wieder riesige Felsformationen wild durcheinandergestapelt umher, so als hätten sich kolossale Riesen vor Urzeiten eine wilde Kissenschlacht geliefert. Der Wind weht uns eisig um die Ohren und schneidet in unsere sonnenverwöhnte Haut. Die Aussicht haut mich vom Hocker. Irgendwie empfinde ich Ähnlichkeit mit den Schluchten des Grand Canyon, oder besser noch, der sagenhaften Landschaft aus der Herr-der-Ringe-Trilogie. Dann setzt sich mein Engländer lässig an den Rand der Klippe. Vorsichtig setze ich mich dazu und kann es nicht fassen. Mein Blick streift über die zerklüfteten Kalksteinfelsen, aus deren Ritzen hier und da ein Baum herauswächst. Und dann bleibt mir die Spucke weg: Ich erblicke weiter unten den mächtigen Wasserfall von Gordale Scar, der wie ein sprudelnder Quellgeist aus der Schlucht hervorbricht und sich in einen kleinen Fluss ergießt.

20140812_160830Ich denke, dass es der erste Wasserfall ist, den ich in meinem Leben wirklich gesehen habe. Jedenfalls kann ich mich nicht an einen einzigen erinnern. Mag sein, dass dieser hier alle Bilder aus meinem Kopf gelöscht hat. Ich wage es kaum zu atmen, so sehr fasziniert mich der Anblick dieses anmutigen Schauspiels. Ich lasse meine Beine über den Abhang baumeln und bekomme sofort dieses Kribbeln in den Beinen, das sich einstellt, wenn man sich in Höhen bewegt, aus der ein Absturz nur tödlich enden kann. Ich werfe einen Stein hinunter und beobachte seinen Fall. Ich friere schrecklich, doch für dieses Bild, das sich da vor meinen Augen auftut, würde ich den Kältetod ohne Zweifel in Kauf nehmen. Ich zittere und ich kann nicht sagen, ob es der kalte Wind ist, der mich schaudern lässt oder die wahnwitzig schöne Szenerie, in der wir hier so einträchtig sitzen. Hier oben fühle ich mich ganz plötzlich auf besondere Weise verbunden mit der Welt, die lieblicher und berauschender wirkt, wie niemals zuvor. Ich friere den Moment ein, versuche all die schönen Bilder in meinem Herzen festzuzurren, damit ich mich mein Leben lang an sie erinnern kann.



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