Kurz kommentiert

»Wieso darf man nicht selbst entscheiden, ob man mit 60 in Rente geht - oder bis 70 weiter schaffen möchte?
[...]
So ein Rentensystem (...) regte den Leistungsempfänger an, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen ...«
- Holger Steltzner, Frankfurter Allgemeine vom 12. Mai 2014 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Da gibt sich das fanatische Organ der »Rente mit 67 oder gleich 70« mal liberal. Wahlfreiheit für Arbeitnehmer. Das klingt doch gut. Bürgernah irgendwie. Es liest sich so, als habe da jemand Respekt vor dem Willen derer, die »ins Alter gekommen« sind. Ging also doch ein Ruck durch die konservative Seele? Steckt ihr die »Nahles-Rente« in den Knochen?

Schon der erste Satz zeigt das gravierende Problem von Journalisten an, die für die bürgerliche Presse arbeiten: Sie haben den Bezug zu Leuten verloren, die in Berufen stecken, die unmöglich und selbst unter den besten Voraussetzungen bis zum siebzigsten Lebensjahr nicht durchzuhalten sind. Wie will man einem Dachdecker diesen»liberalen Ansatz« schmackhaft machen? Der sagt höchstens: »Mit 60? Ich bin mit 54 schon fertig - und mit 70 kann ich froh sein, wenn mich meine Arthrose morgens zum Bäcker lässt.« Wenn man sich aber zwischen prädestinierten Berufsgruppen bewegt, heute bei einem Berufspolitiker speist und morgen mit Herrn Staatsanwalt Tennis spielt, dann glaubt man irgendwann, dieser doch sehr begrenzte Ausschnitt der Lebensrealität sei das gesamte Spektrum des Arbeitsmarktes. Ob das nun wie im Falle der Rente, der Sparquote oder des Stundenlohns ist: Journalisten von »FAZ«, »Zeit« oder »Focus« schweben in anderen Sphären.
Aber wohl dann doch nicht so ganz. Denn Steltzner ist ja gewieft. Seine »Vision« soll ja nicht nur einfach so nett liberal ausschauen - sie soll auch einen entzückenden Nebeneffekt haben. Wenn nämlich ein Dachdecker »schon« mit 63 in Rente gehen will, dann muss er etwas tun, damit ihm die staatliche Rente auch reicht. Was wohl? Exakt: Er muss privat vorsorgen. Je früher er freiwillig in Rente gehen will, desto mehr. Heute gibt es wenigstens noch die Möglichkeit, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vorzeitig in Rente zu gehen. Zugegeben, nur 17 Prozent aller Rentner »gelingt« das. Aber dieses Mittel, um Menschen die in einem Beruf arbeiten, den »man nicht ewig machen kann« vorher zu verrenten, gibt es immerhin - auch wenn es ausbaufähig ist. Eigenverantwortung nach Steltzner heißt jedoch: »Du bist Maurer geworden, finde dich damit ab und plane beizeiten, wann du aus dem Beruf ausscheiden willst und sorge selbst für dieses Defizit in deinem Erwerbsleben.«
»Dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss« (Mackenroth) , ist bei diesem liberalisierten Ansatz der »Rente mit 70« aufgrund »gestiegener Lebenserwartung« und »bester Gesundheit« nicht vorstellbar. Sie haben es eben immer noch nicht begriffen. Nur haben die Befürworter der »längeren Lebensarbeitszeit« jetzt Kreide gefressen und geben sich in dieser Zwanghaftigkeit liberaler.
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