Do hi muasst dei Kreizal macha!

Ich wähle bei der Europawahl »Die Linke«. Der »Wahl-O-Mat« hat mir das empfohlen. Praktisch dieses Ding. Ich wüsste sonst nicht, was ich ohne dieses Feature wählen würde. 72 Prozent Übereinstimmung überzeugten mich dann doch. Gut, dass es ihn gibt.
Do hi muasst dei Kreizal macha!Neulich haben sich zwei Kolleginnen über die Europawahl unterhalten. Nichts von Qualität. Aber aufschlussreich. Im Grunde hatten beide keine Ahnung. Aber dafür einen Link zum »Wahl-O-Mat«. Denn eine von beiden hat da wohl schon mal geprüft, wen sie wählen soll. Danach würde sie sich jetzt richten, meinte sie. Ich dachte unwillkürlich an meine Großmutter, die aus Erzählungen ihrer Mutter zu wissen glaubte, dass bei der letzten »freien« Reichstagswahl irgendwelche Leute in der Wahlkabine standen, auf den Wahlbogen tippten und sagten: »Do hi muasst dei Kreizal einemacha.« Vermutlich ist das eine Legende und man brauchte in jenem Jahr gar keine Aufpasser. Schon gar nicht in der bayerischen Provinz. Aber dieses Familiennarrativ kam mir als Assoziation in den Sinn. Ich stellte mir den »Wahl-O-Mat« anthropomorph vor, wie er vor dieser Tante steht, ihr auf die Stirn tippt und sagt: »Do schau, do musst dei Kreizal hisetzn.«

»Die App nimmt mir ne Menge Arbeit ab«, sagte sagte die Kollegin zur Kollegin. Neben Preisvergleichen und Gastronomiebewertungen ist nun also auch die politische Wahl zu einer Angelegenheit von Anwendungssoftware und Apps geworden. Die »schnelle Übersichtsmentalität« hat auch das Abwägen und Durchdenken vor den Urnengang ersetzt. Kurz und knapp gehalten, für Leute, die keine Laune haben, sich politisch zu informieren. So wie sie auch keine Lust dazu haben, von Deichmann zu Reno zu Siemes zu kariolen, um nur ja die günstigste Stiefelette zu erstehen. Sie tippen es stattdessen in ein Vergleichsportal oder eine Vergleichsapp ein und wissen unverzüglich, wohin die Shoppingtour zu gehen hat.
So wie man dem Verbraucher Zeit erspart und Vergleichskompetenzen abnimmt, so nimmt der »Wahl-O-Mat« den Wählern die Kompetenz ab, die eigenen Vorstellungen mit den Programmen und Gesichtern der politischen Parteien abzugleichen. Die reine Billigmentalität lässt den Kunden dann vielleicht zum Reno fahren - andere Faktoren, die einen Kauf begünstigen, Fachberatung zum Beispiel oder so banale Dinge wie das Ambiente eines Ladens, kommen gar nicht mehr zum Zug. Ähnlich bei der »Beratung« durch den »Wahl-O-Mat«. Denn eine hohe Übereinstimmung mit der Vergänglichkeit eines parteilichen Wahlprogrammes muss ja nicht gleich Gewissheit an der Urne bedeuten. Auch wenn die höchste Übereinkunft mit den Positionen der Grünen gegeben ist, könnten andere Faktoren wie das blasse Personal oder einfach nur zeitgeistliche Präferenzen, die Wahl von »Die Linke« zur Folge haben. Der »Wahl-O-Mat« berücksichtigt derlei aber nicht, er reduziert das Votum zur reinen Programmatik.
Der »Wahl-O-Mat« ist besonders bei jungen Wählern beliebt. Er nimmt ihnen, wie erwähnt, anstrengende Denkarbeit ab und verlagert die Wahlentscheidung in die Zeit kurz vor der Wahl. So muss er nicht die gesamte Legislaturperiode beobachten und sondieren, wohin das nächste Kreuzchen hinzusetzen ist. Der politische Reifeprozess wird abgebunden und für unnötig befunden. Schließlich gibt es im Augenblick, da man diese Reife benötigte, ja Hilfsmittelchen, die Reife und Abwägen suggerieren. Die »Ver-Wahl-O-Mat-ung« der Wahlentscheidung entwirft Bürger, die sich nicht leidenschaftlich oder inhaltlich positionieren, sondern technokratisch ihr Votum prüfen und abfragen, um dann »gut beraten« den Wahlsonntag zu begehen. Er ist albern gesagt eine Krücke für politisch Lahme, denen plötzlich einfällt, sie wollten eigentlich mal Bergsteigen gehen.
Dieses »Votematch-Tool« gibt Wahloptionen »im Überblick« an, um den leidigen Prozess der Reflexion abzukürzen. Fragen wie »Will ich das?« oder »Wenn ich das wirklich will, ist das auch vernünftig und sinnvoll?« stellen sich da kaum noch. Alleine der Abgleich unterstreicht das Votum. Was sagt denn der »Wahl-O-Mat« über richtig oder falsch aus, wenn jemand meint, er sei für die Ausweisung von arbeitslosen Ausländern? Er sagt nur, dass die »Alternative für Deutschland« das auch so sieht. Ist das aber vernünftig? Dient das einer besseren Gesellschaft? Darüber schweigt er sich aus. Er legt einem nur die Wahl der AfD ans Herz. Einem politischen Bildungsauftrag im wahrsten Sinne des Wortes dient das alles aber nicht. Und welchen bildenden Wert das Spiel »Wer-ist-der-Linientreueste?« haben soll, lässt sich nur schwer entschlüsseln.
Wer die Wahl hat, der hat auch die Qual. Das weiß der Volksmund schon weitaus länger, als es politische Wahlen überhaupt gibt. Aber wer sagt bitteschön, dass die Entscheidung an der Urne keine Qual sein muss? Der »Wahl-O-Mat« tut das aber. Und mit ihm viele Medien, die über ihn berichten, als wäre er eine der tollsten Erfindungen seit der Glühbirne. Als es die plötzlich gab, verlernte der Mensch peu a peu, wie man Feuer macht. Und das Wahl-Helferlein hilft mit beim Verlernen eigenständiger Denkprozesse.
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