Junge Welt, 28.03.2013
Ein großangelegter Streik in Südpolen setzt die rechtskonservative Regierung unter Druck. Gewerkschafter sehen die Aktion nur als Anfang
Nach mehr als zwei Jahrzehnten in der Defensive setzt Polens Gewerkschaftsbewegung dazu an, wieder zu einer gesellschaftlich relevanten Kraft aufzusteigen. Mehr als 100 000 Lohnabhängige aus rund 600 Betrieben traten in Schlesien (Slask) am vergangenen Dienstag in einen vierstündigen Streik, um die rechtskonservative polnische Regierung um Premier Donald Tusk zu einem Politikwechsel zu bewegen. An dem Ausstand nahmen Beschäftigte bei der Eisenbahn, im öffentlichen Nahverkehr, in nahezu sämtlichen Zechen sowie Stahlwerken, im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in etlichen Industriebetrieben teil.
Die an der Organisation beteiligten Gewerkschaften werteten den Verlauf als vollen Erfolg. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Solidarnosc in Schlesien, Dominik Kolorz, hofft, die große »Entschlossenheit« der am Streik beteiligten Beschäftigten werde die Regierung dazu bringen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren und die gewerkschaftlichen Forderungen zu erfüllen: »Ich glaube, der heutige Funke wird auch dem restlichen Land das Signal geben, daß es möglich ist, sich zu organisieren, daß man für seine Rechte und seine Würde kämpfen muß.« Neben der konservativen und mit der rechten Oppositionspartei »Recht und Ordnung« (PiS) verbündeten Gewerkschaft Solidarnosc beteiligten sich an dem Ausstand auch die sozialdemokratische OPZZ, die Gewerkschaft Forum Zwiazków Zawodowych, sowie die linke Gewerkschaft Sierpien 80.
Die beim Streik erhobenen Forderungen zielen in ihrer Gesamtheit auf einen politischen Kurswechsel, der die neoliberale Hegemonie in Polen unterhöhlen würde. Die Beteiligten setzen sich für eine aktive Krisenpolitik ein, bei der etwa Unternehmen, die vom geplanten Arbeitsplatzabbau Abstand nehmen, mit Steuererleichterungen bedacht werden sollen. Zudem sollen die durch Klimaschutzgesetze belasteten Betriebe aus dem Energiesektor, die von Steinkohle abhängig sind, Kompensationen erhalten. Auf dem Feld der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wird ein Ende der Sozialkürzungen und der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse gefordert. Der Boom der als »Müllverträge« bezeichneten kurzfristigen Arbeitsverhältnisse soll demnach beendet, die mit Privatisierungen einhergehende Gesundheitsreform revidiert, die Rentenkürzungen in vielen Berufszweigen rückgängig gemacht werden. Die Gewerkschaften lehnen auch die aktuellen Pläne der Regierung ab, die Bezahlung von Überstunden durch langfristige Arbeitszeitkonten zu ersetzen. Zudem wollen die Gewerkschafter ein Ende der Mittelstreichungen im Gesundheits- und Bildungswesen erreichen.
Nach Einschätzung des Nachrichtenportals »Infoseite-Polen« ist die Regierung Tusk weiterhin nicht daran interessiert, die Forderungen der Gewerkschaften ernsthaft in Erwägung zu ziehen: In den Medien kämen »vor allem Abgeordnete aus der zweiten und dritten Reihe der Regierungsparteien PO und PSL zu Wort«, die auf Zeit spielen würden und erklärten, man sei »stets zu einem Dialog mit den Gewerkschaften bereit«. In den Massenmedien sind vor allem gewerkschaftskritische Stimmen wie die des Ökonomen Maciej Bukowski zu vernehmen, der in der Tageszeitung Rzeczpospolita vor dem Verlust der »Konkurrenzfähigkeit« Polens warnte, sollten die Gewerkschaftsforderungen realisiert werden.
Dennoch wollen die erstmals seit Jahren wieder gemeinsam handelnden polnischen Gewerkschaften den Druck auf die Regierung Tusk weiter erhöhen. Der Streik in Schlesien sei nur eine »Generalprobe« gewesen, schrieb Rzeczpospolita. Sollte es in den nächsten Monaten keine Einigung geben, würden die Gewerkschaften in September einen landesweiten Generalstreik organisieren und »das ganze Land paralysieren «. Der Vorsitzende der Sierpien 80, Boguslaw Zietek, bezeichnete den Streik in Südpolen ebenfalls als einen bloßen »Anfang«. Das Ziel der bevorstehenden Gewerkschaftsaktivitäten bestehe darin, »die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung zu ändern«.