Kunst & Textil - Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg, bis 2. März 2014

Kunst und Textil: Ich trete in die Ausstellung ein und befinde mich sofort in einem Netz der vielfältigsten Ideen, wie in einem Gewebe; gelegentlich gerate ich sogar körperlich-konkret in Gefahr, mich in einem Netz zu verfangen. Die Darbietung habe ich mit großer Faszination betreten und mit ebenso großer Faszination wieder verlassen. Wenn ich das zum Maßstab für Kunst nehme: ob Form und Inhalt in Übereinstimmung sind, dann ist diese Ausstellung ein hochrangiges Kunstwerk. Eine Ausstellung von Kunstwerken so zu gestalten, dass sie selber zu einem Gesamtkunstwerk wird, das ist dem Kunstmuseum Wolfsburg hier gelungen. Höchstes Lob deshalb vorab! Ein Besuch ist sehr empfehlenswert!

Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute (so der Untertitel): Kein Stoff, kein Material, keine Technik vermag unser sinnliches wie seelisch-geistiges Dasein so unmittelbar und umfassend zu berühren wie das Textile - und das gerade in einer Zeit, die durch die immer noch rasch wachsende Zunahme virtueller (von der digitalen Technik bestimmter) Welten immer unsinnlicher zu werden droht.*  Multimedial, interdisziplinär und die verschiedensten Kulturen umfassend setzt "Kunst und Textil" die Reihe der Lebens-Themen aus Sicht der Kunst fort, die Wolfsburg 2008 mit "Interieur-Exterieur" begann und 2011 mit dem Thema Entschleunigung fortsetzte. 200 Ausstellungsstücke von über 80 KünstlerInnen und rund 60 weiteren anonymen, nicht überlieferten KünstlerInnen wurden für "Kunst und Textil" zusammengetragen. Außer Kunstwerken, die aus dem Material Stoff gearbeitet sind, werden auch Bilder gezeigt, die Stoffe abbilden; hinzu kommen Werke, die sich mit der Idee des Textilen beschäftigen (dazu gehören Videoarbeiten) und überraschenderweise Objekte, die sonst nur in Völkerkundemuseen zu finden sind, wie feine Kubastoffe aus Afrika.

Statt der systematischen Beschreibung des Ausstellungsrundgangs gebe ich hier zunächst anhand von Bildbeispielen einige Eindrücke wieder, aus denen das feine Netzwerk der Ideen deutlich werden mag:

Klee_Ohne_Titel_Gefangen_Diesseits_Jenseits_Figut_um_1940

Klimt_Bildnis_Marie_Henneberg_1901_1902
Das Bild von Paul Klee (ohne Titel, um 1940 entstanden) ist mit Kleisterfarbe auf kleistergrundierte Jute gemalt (wobei die Zeichnung ausgespart wurde). Die Farben bekommen dadurch eine besondere Leuchtkraft von innen (ich habe das schon immer im Sprengelmuseum in Hannover bewundert). Das "Bildnis Marie Henneberg" von Gustav Klimt (901/02) - Auftakt der Ausstellung - zeigt die Verwendung eines Stoffes in verschwenderischer Fülle. Das Kleid geht weit über die Notwendigkeit der Be-Kleidung hinaus. Das eine Bild ist aus einem Mangel geboren (Verwendung von Sackleinwand als Ersatz in einer Notzeit) und gewinnt dabei unversehens neue Qualitäten, das andere strahlt eine Üppigkeit aus, bei der Qualität aus der Quantität gewonnen wird.

Warum beginnt die Ausstellung mit Gustav Klimt und Jugendstil? Das beantwortet u.a. die Ausstellungsmacherin Marie-Amélie  zu Salm-Salm in dem Aufsatz "Der Stoff und die Malerei" im Katalog. Es war eine Umbruchzeit mit der Aufhebung der strengen Grenzen zwischen Kunst und Kunsthandwerk - die zunehmende Industrialisierung und die Kritik an der maschinellen Massenproduktion lösten europaweit eine Debatte über das Verhältnis von Form und Material aus. Der englische Gestalter William Morris begründete mit anderen die "Arts and Crafts Movement"; das Wechselspiel von freier und angewandter Kunst wurde zu einer europäischen Bewegung.

NN_La_borderie_Mittelalter

Hatoum_Undercurrent_2004
Der Wandteppich aus der Zeit um 1520 "Das herrschaftliche Leben: Die Stickerin" (nie nach auswärts verliehene Kostbarkeit des Musée de Cluny, Paris) ist für die damalige Zeit eine große Besonderheit, weil hier die Tätigkeit der Stickerei selbst dargestellt wird. Die Bilder sind übrigens sehr genau, die Vogeldarstellungen gut erkennbar (ein Fasan, ein Rebhuhn z.B.). Der Boden des Gartens mit üppig wachsenden Pflanzen ist wie ein Wandteppich in die Senkrechte gekippt. Der waagerechte "Bodenteppich" von Mona Hatoum ("Undercurrent", 2004) ist handwerklich gut durchschaubar, aber dynamisch (die Glühbirnen sind mit einem computergesteuerten Dimmer verbunden), kein Bild bleibt, es gibt überhaupt keine naturnahe (nicht-abstrakte) Bilddarstellung. Mona Hatoum gehört zu den "Spiderwomen", den Frauen, die das Rollenklischee "Textilität und Weiblichkeit", das negativ besetzt ist, durch Überspitzung und Wendung ins Positive zu entlarven versuchen. "In der Zweiheit von Weberin und Spinne steckt die Chance, das Vorurteil mit künstlerischer List und Selbstbewusstsein zum Vorteil zu nutzen" (Laura Breede im Katalog). - Der feministische Ausstellungsteil "Spiderwomen" mit Künstlerinnen wie Ghada Amer, Louise Bourgeois, Mona Hatoum und Rosemarie Trockel gehört zu den interessantesten der Präsentation. Im Katalog gibt es dazu einen extra Essay von Julia Wallner mit dem Titel "Spiderwomen: Verletztheit, Verletzlichkeit und analoges Sticken - Die Umwertung geschlechtsspezifischer Klischees."

NN_Mapel_Tanzkleid_19._20.Jahrhundert

Albers_Black_White_Gold_1950

Dieker_Hirnschnitt 25_25_2012
Drei Gewebe mit ganz unterschiedlichem Zweck und Inhalt, Alter und Ursprung: Das erste ist aus den Fasern der Raphiapalme hergestellt (mit Applikationen) und diente im Volk der Bushoong oder Kuba im Kongo als Tanzkleid, es stammt vom späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert. Das zweite, darunter, hat Anni Albers 1950 aus Baumwolle, Jute und metallischem Band hergestellt und "Black-White-Gold" genannt.  Die Collage "Hirnschnitt" schließlich wurde von Birgit Dieker 2012 aus Kleidungsresten, Stecknadeln und Karton angefertigt. (Die Bilder können durch Anklicken vergrößert angeschaut werden.)

  Shiota_Love_letters_2013_Installationsansicht

PollockWateryPaths

Zweimal "gefangen im Netz" - das eine Mal räumlich unter lauter Liebesbriefen ("Love Letters", 2013, von Chiharu Shiota), das andere Mal optisch ("Watery Paths" von Jackson Pollock, 1947). 

Abschließend nenne ich hier die Abteilungen der Ausstellung (das sind zugleich die Kapitelüberschriften in dem hervorragenden Katalog): (1) Von Klimt bis Matisse: Das Bild will Stoff, der Stoff will Bild werden. (2) Die Geburt der Abstraktion aus dem Geiste des Textilen. (3) Die Ent-Wicklung des Fadens aus dem Bild in den Raum. (4) Joseph Beuys und der Stoff des Sozialen. (5) Weiche Körper und textile Innenwelten. (6) Textur: Die Oberfläche des Raumes - 1960er und 1970er Jahre: Minimal Art und Postminimalismus. (7) Global Art und die Universalität des Textilen. (8) Spiderwomen. (9) Der Stoff zwischen Geist und Materie. (10) ArchiTextil. (11) Netzwerke.

Weitere Informationen auf der Netzseite des Kunstmuseums Wolfsburg.

© Text: Dr. Helge Mücke, Hannover, *teilweise unter Verwendung der Pressetexte des Museums; die Bilder und ihre Rechte, von oben nach unten: Paul Klee: Ohne Titel [Gefangen/Diesseits – Jenseits/Figur], um 1940, Öl, ausgesparte Zeichnung, mit Kleisterfarbe auf kleistergrundierter Jute, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler, Foto: Peter Schibli, Basel; Gustav Klimt: Bildnis Marie Henneberg, 1901/02, Öl auf Leinwand, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) - Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Foto: Klaus E. Göltz, Halle; La broderie tapisserie faisant partie de la vie seigneuriale, Mittelalter-Wandteppich, ca. 265 x 224 cm, Musée de Cluny, Paris, Foto: bpk | RMN - Grand Palais | Franck Raux; Mona Hatoum: Undercurrent, 2004, Stromkabel, Glühbirnen, Computergesteuerter Dimmer, Durchm. 950 cm © Mona Hatoum/White Cube London, Foto: Mattias Givel; Mapel: Tanzkleid, Bushoong, Kuba, Kongo, spätes 19. Jh./frühes 20. Jh., Raphiagewebe mit Applikationen, 80 x 600 cm, Sammlung Henkel, Foto: Nic Tenwiggenhorn; Anni Albers: Black-White-Gold I, 1950, Baumwolle, Jute und metallisches Band, © The Josef and Anni Albers Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2013; Birgit Dieker: Hirnschnitt 25/25, 2012, Collage: Kleidung, Stecknadeln, Karton, 29 × 29 × 3 cm, Privatsammlung; Chiharu Shiota: Love Letters, 2013, Installation, Maße variabel, Courtesy, ARNDT Berlin, Foto: Marek Kruszewski; Jackson Pollock: Watery Paths, 1947, Öl auf Leinwand, Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea, Rom, © Pollock-Krasner Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2013.


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