In seinem Text "Die Ego-No-Kids-Gesellschaft" stellt Stefan Pietsch die These auf, dass die seit den 1960er Jahren mehr oder weniger konstant gesunkene Geburtenrate auf den Egoismus der Generation Y zurückzuführen sei, für die Kinder schlicht nicht mehr ins Lebenskonzept passen und dass dies ein enormes Problem für die Zukunft der Nation sei. Regelmäßige Leser dieses Blogs sollte es nicht überraschen, dass ich diesen Thesen und den darunterliegenden Prämissen nur sehr eingeschränkt zustimmen kann. Im Folgenden soll der Artikel Stück für Stück kommentiert werden.
Pietsch beginnt mit einer anekdotischen Bestandsaufnahme des Straßenbilds: wo in seiner eigenen Jugend in den 1970er Jahren noch spielende Kinder zum Straßenbild gehörten und die Familienfeste bevölkerten, herrscht heute triste, kinderlose Leere. Dies ist selbstverständlich auch eine Folge der sinkenden Geburtenrate und den dadurch abnehmenden Kinderzahlen. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle dabei, dass heutzutage wesentlich weniger Kinder draußen spielend angetroffen werden können als heute. Das beginnt mit der von Konservativen (allen voran Manfred Spitzer) gerne beklagten Zunahme elektronischer Unterhaltungsmedien, die neue und attraktive Möglichkeiten der häuslichen Freizeitgestaltung öffnet. Das geht weiter mit der starken Zunahme der Schulzeit. Wo noch in meiner eigenen Jugend der Nachmittagsunterricht bis zur Oberstufe eher die Ausnahme war, ist er heute die Regel. Das mündet im Wandel des Familienalltags durch Verschiebungen im Berufsleben, aber dazu später mehr.
Und es wird beeinflusst durch die Gestaltung der Infrastruktur: in Pietschs Beschwörung der kindlichen Idylle von 1975 waren in Deutschland 17,9 Millionen PkW zugelassen. Als ich um 1990 im gleichen Alter war, waren es 30,6 Millionen. Meine Kinder dürfen nicht alleine nach draußen, denn vor unserem Haus fahren laut kommunaler Messung rund 90 Autos pro Stunde vorbei, kein Wunder bei 45 zugelassenen PkW im Jahr 2016¹ - und da ist die noch viel dramatischere Steigerung an LkW noch nicht eingerechnet. Es sind also nicht nur die Helikoptereltern, die die "auf sich selbst aufpassenden" Kinder heutzutage unmöglich machen, es ist auch der Wandel im kommunalen Bild. Man sehe sich einmal Fotos aus den Städten der 1970er Jahre an und vergleiche sie mit heute.
Natürlich hat Pietsch völlig Recht, dass heute statistisch weniger Spielkameraden in direkter Reichweite wohnen. Aber mein vierjähriger Sohn hat allein in unserem Kaff (praktisch alles in zehn Gehminuten erreichbar) diverse Freunde in seinem Alter (soweit Kinder in dem Alter halt bereits Freunde haben), so dass ich mir deswegen keine allzu großen Sorgen mache. Wesentlich bedeutsamer scheint mir da die Distanz zu anderen Familienmitgliedern zu sein. Wo ein nahes Wohnen an den Eltern oder Großeltern nicht mehr die Regel ist, wird die Betreuungssituation für den eigenen Nachwuchs deutlich erschwert. Das muss früher tatsächlich besser gewesen sein, zumindest wenn ich meiner eigenen Erfahrung als Kind eine gewisse Repräsentanz beimessen darf.
Bleiben zwei große Argumente Pietschs: dass die geänderte Arbeitswelt als Faktor überschätzt wird, und dass es deutlich relevanter ist, dass der Generation Y Kinder kein "erfüllender Lebensinhalt" mehr sind. Daran Schuld sind "Karrierefrauen" wie von der Leyen und "gelernte Sozialistinnen" wie Schwesig. Alles klar. Schauen wir beides nacheinander an.
Die Frage der Bedeutung nach der geänderten Arbeitswelt haben wir auf dem Blog hier bereits öfter diskutiert; es sollte daher für den geneigten Leser keine große Überraschung sein, dass ich diesem Faktor eine wesentlich größere Bedeutung beimesse als Pietsch, der das mit einem Verweis auf die fast ungeänderten Arbeitswege beiseite wischt². Während es natürlich auch schön ist, dass die große Mehrheit der Erwerbstätigen in unter einer Dreiviertelstunde zur Arbeit kommt, so bleibt es doch ein Fakt, dass Arbeitswelt sich seit 1970 massiv geändert hat. So betrug die Zahl der erwerbstätigen Frauen 1970 gerade einmal 45,9%. Im Jahr 2011 betrug sie 71%. Im gleichen Zeitraum sank die Erwerbsquote von Männern von 87,7% auf rund 81%. Natürlich kann man so tun, als ob das nur an der ungeheuren Vorliebe für BMW i3 liege, die Aldi-Kassiererinnen haben. Im Unterschied zu Stefan Pietsch gehe ich aber davon aus, dass der Druck für eine Vollerwerbstätigkeit beider Partner, der die letzten 20 Jahre gekennzeichnet hat, eine massive Rolle dabei spielt.
Dies hat gleich mehrere Konsequenzen. Während früher ein Allein- oder wenigstens Haupternährermodell die Regel war, wird heute eine annähernde Parität mit zwei Vollzeitjobs angestrebt³. Gleichzeitig ist mittlerweile erschöpfend belegt, dass es nur wenig der optimistischen Zukunftsbetrachtung abträgliche Zustände wie Arbeitslosigkeit gibt, besonders wenn diese beim Mann vorliegt. Die gesunkene Erwerbsquote bei Männern spricht hier also ebenso eine deutliche Sprache wie die drastisch gestiegene Erwerbsquote von Frauen. Dazu haben sich seit 1970 zwar die Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem von rund 1900 auf rund 1400 gesenkt; gleichzeitig aber hat die Erwerbstätigkeit insgesamt in stärkerem Maße zugenommen. Der Anstieg am Bedarf an ganztägiger Kinderbetreuung kommt ja nicht von ungefähr.
Die geänderte Arbeitswelt hat also deutlich stärkeren Einfluss auf die Geburtenraten, als es Stefan Pietsch wahrhaben will, für den das alles rein private Entscheidungen sind, weswegen er auch zu der übersteigerten These vom Egoismus der Generation Y kommt. Es bleibt noch zu belegen, ob die Erwartungen an den Lebensstandard gestiegen sind (Stichwort iPhone und BMW i3) oder ob die kontinuierliche Senkung der Reallöhne der ausschlaggebendere Faktor ist; diese Frage soll hier nicht verhandelt werden. Die Konsequenz ist in beiden Fällen aber dieselbe: sinkende Geburtenraten. Was aber ist vom anderen Argument Pietschs zu halten, dass meine Generation einfach keine Kinder mehr haben will?
Auch hier enthält seine Analyse mehr als ein Körnchen Wahrheit, aber seine Erklärung mit dem "Egoismus" greift zu kurz. Zwar ist es korrekt, wenn er erklärt, dass für Frauen Kinder nicht mehr in allen Fällen ein "erfüllender Lebensinhalt" sind und gegenüber anderen Lebenszielen - etwa einer Karriere - hintenangestellt werden. Aber Pietsch begeht hier den typischen Fehler von Konservativen, indem er sein eigenes in der Vergangenheit verankertes Wertesystem als Naturgesetz betrachtet und das Wertesystem der nächsten Generation als fremdgesteuertes Produkt übelwollender, linker Eliten verkauft. Denn selbstverständlich entscheiden sich viele Frauen heute mehr oder weniger bewusst zu einem Verzögern ihres Kinderwunschs, haben erst gar keinen oder geben sich mit ein oder zwei Kindern zufrieden. Das kann man als Egoismus betrachten, aber das funktioniert nur wenn man ignoriert, dass die hohen Geburtenraten des Jahres 1967 ebenfalls auf Egoismus beruhten, nur dem der Männer.
Denn der heute deutlich prononcierteren Selbstentfaltung von Frauen gerade im zeitintensiven Berufsumfeld steht eine frühere Unterdrückung solcher Lebensentwürfe gegenüber. Zum vollständigen Bild gehört eben auch, dass Kindeserziehung und -betreuung früher praktisch reine Frauensache war. Die bereits erwähnten 1900 Arbeitsstunden, die im Durchschnitt damals noch erbracht wurden, sprechen eine ebenso deutliche Sprache wie das DGB-Plakat von 1956, in dem im Interesse der Familienzeit ein freier Samstag gefordert wurde. Angesichts der damalig geringen Verbreitungsdichte an Kindergärten fiel die Last dieser Arbeit auf Frauen, denen eine eigene Entfaltung damit völlig unmöglich war. Der wesentlich höhere gesellschaftliche Druck, dem patriarchalischen Modell zu genügen und Kinder zu bekommen, tut da sein Übriges. Die Erwartungen an Väter sind heute deutlich gestiegen, und es spricht nicht eben für uns, dass wir auf diese gestiegenen Erwartungen - die immer noch deutlich unter denen an Mütter liegen - wesentlich häufiger selbst eine Kinderabstinenz wählen. Unter diesen Umständen den Frauen "Egoismus" vorzuwerfen erscheint mir mehr als nur ein bisschen scheinheilig.
Daher hat Pietsch natürlich Recht, wenn er herausstellt, dass die Verbreitung von Kinderbetreuungseinrichtungen alleine keine hinreichende Bedingung für eine steigende Geburtenrate ist. Wie so häufig ist die Gesamtantwort eben doch ein wenig komplizierter. Der von ihm beklagte Hedonismus spielt dabei sicherlich auch eine Rolle, aber die geänderte Arbeitswelt und die progressiveren Geschlechterrollen spielen ebenso eine Rolle. Sie als Fortschritt zu begreifen, den es zu begrüßen und auszubauen gilt, ist die wahre Herausforderung unserer Tage, und nicht zu versuchen, Frauen durch Vorwurf von Egoismus zu beschämen. Wir sind alle gefragt. Kinder großzuziehen ist keine Aufgabe von Frauen zwischen 20 und 40, sondern eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft - ob als Väter, als Großeltern oder als Steuerzahler in der großen Solidargemeinschaft aller Bürger.
---
¹ Alle Zahlen von hier.
² Ich habe etwa hier, hier und hier dazu geschrieben.
³ Pars pro toto mag hier die sozialistischer Gesellschaftsveränderung unverdächtige INSM stehen: "Im Bereich der qualifizierten Leistungserbringer, die sich insbesondere in der mittleren Generation befinden, müssen die Erwerbsquoten steigen. Ein erhebliches Potenzial bieten hier Frauen, deren Erwerbsquote in den letzten Jahren zwar deutlich gestiegen ist, aber noch immer deutlich unter der von Männern liegt. Damit dies möglich wird, muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter verbessert werden. Dazu ist insbesondere eine qualitativ bessere Kinderbetreuung notwendig."
Pietsch beginnt mit einer anekdotischen Bestandsaufnahme des Straßenbilds: wo in seiner eigenen Jugend in den 1970er Jahren noch spielende Kinder zum Straßenbild gehörten und die Familienfeste bevölkerten, herrscht heute triste, kinderlose Leere. Dies ist selbstverständlich auch eine Folge der sinkenden Geburtenrate und den dadurch abnehmenden Kinderzahlen. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle dabei, dass heutzutage wesentlich weniger Kinder draußen spielend angetroffen werden können als heute. Das beginnt mit der von Konservativen (allen voran Manfred Spitzer) gerne beklagten Zunahme elektronischer Unterhaltungsmedien, die neue und attraktive Möglichkeiten der häuslichen Freizeitgestaltung öffnet. Das geht weiter mit der starken Zunahme der Schulzeit. Wo noch in meiner eigenen Jugend der Nachmittagsunterricht bis zur Oberstufe eher die Ausnahme war, ist er heute die Regel. Das mündet im Wandel des Familienalltags durch Verschiebungen im Berufsleben, aber dazu später mehr.
Und es wird beeinflusst durch die Gestaltung der Infrastruktur: in Pietschs Beschwörung der kindlichen Idylle von 1975 waren in Deutschland 17,9 Millionen PkW zugelassen. Als ich um 1990 im gleichen Alter war, waren es 30,6 Millionen. Meine Kinder dürfen nicht alleine nach draußen, denn vor unserem Haus fahren laut kommunaler Messung rund 90 Autos pro Stunde vorbei, kein Wunder bei 45 zugelassenen PkW im Jahr 2016¹ - und da ist die noch viel dramatischere Steigerung an LkW noch nicht eingerechnet. Es sind also nicht nur die Helikoptereltern, die die "auf sich selbst aufpassenden" Kinder heutzutage unmöglich machen, es ist auch der Wandel im kommunalen Bild. Man sehe sich einmal Fotos aus den Städten der 1970er Jahre an und vergleiche sie mit heute.
Natürlich hat Pietsch völlig Recht, dass heute statistisch weniger Spielkameraden in direkter Reichweite wohnen. Aber mein vierjähriger Sohn hat allein in unserem Kaff (praktisch alles in zehn Gehminuten erreichbar) diverse Freunde in seinem Alter (soweit Kinder in dem Alter halt bereits Freunde haben), so dass ich mir deswegen keine allzu großen Sorgen mache. Wesentlich bedeutsamer scheint mir da die Distanz zu anderen Familienmitgliedern zu sein. Wo ein nahes Wohnen an den Eltern oder Großeltern nicht mehr die Regel ist, wird die Betreuungssituation für den eigenen Nachwuchs deutlich erschwert. Das muss früher tatsächlich besser gewesen sein, zumindest wenn ich meiner eigenen Erfahrung als Kind eine gewisse Repräsentanz beimessen darf.
Bleiben zwei große Argumente Pietschs: dass die geänderte Arbeitswelt als Faktor überschätzt wird, und dass es deutlich relevanter ist, dass der Generation Y Kinder kein "erfüllender Lebensinhalt" mehr sind. Daran Schuld sind "Karrierefrauen" wie von der Leyen und "gelernte Sozialistinnen" wie Schwesig. Alles klar. Schauen wir beides nacheinander an.
Die Frage der Bedeutung nach der geänderten Arbeitswelt haben wir auf dem Blog hier bereits öfter diskutiert; es sollte daher für den geneigten Leser keine große Überraschung sein, dass ich diesem Faktor eine wesentlich größere Bedeutung beimesse als Pietsch, der das mit einem Verweis auf die fast ungeänderten Arbeitswege beiseite wischt². Während es natürlich auch schön ist, dass die große Mehrheit der Erwerbstätigen in unter einer Dreiviertelstunde zur Arbeit kommt, so bleibt es doch ein Fakt, dass Arbeitswelt sich seit 1970 massiv geändert hat. So betrug die Zahl der erwerbstätigen Frauen 1970 gerade einmal 45,9%. Im Jahr 2011 betrug sie 71%. Im gleichen Zeitraum sank die Erwerbsquote von Männern von 87,7% auf rund 81%. Natürlich kann man so tun, als ob das nur an der ungeheuren Vorliebe für BMW i3 liege, die Aldi-Kassiererinnen haben. Im Unterschied zu Stefan Pietsch gehe ich aber davon aus, dass der Druck für eine Vollerwerbstätigkeit beider Partner, der die letzten 20 Jahre gekennzeichnet hat, eine massive Rolle dabei spielt.
Dies hat gleich mehrere Konsequenzen. Während früher ein Allein- oder wenigstens Haupternährermodell die Regel war, wird heute eine annähernde Parität mit zwei Vollzeitjobs angestrebt³. Gleichzeitig ist mittlerweile erschöpfend belegt, dass es nur wenig der optimistischen Zukunftsbetrachtung abträgliche Zustände wie Arbeitslosigkeit gibt, besonders wenn diese beim Mann vorliegt. Die gesunkene Erwerbsquote bei Männern spricht hier also ebenso eine deutliche Sprache wie die drastisch gestiegene Erwerbsquote von Frauen. Dazu haben sich seit 1970 zwar die Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem von rund 1900 auf rund 1400 gesenkt; gleichzeitig aber hat die Erwerbstätigkeit insgesamt in stärkerem Maße zugenommen. Der Anstieg am Bedarf an ganztägiger Kinderbetreuung kommt ja nicht von ungefähr.
Die geänderte Arbeitswelt hat also deutlich stärkeren Einfluss auf die Geburtenraten, als es Stefan Pietsch wahrhaben will, für den das alles rein private Entscheidungen sind, weswegen er auch zu der übersteigerten These vom Egoismus der Generation Y kommt. Es bleibt noch zu belegen, ob die Erwartungen an den Lebensstandard gestiegen sind (Stichwort iPhone und BMW i3) oder ob die kontinuierliche Senkung der Reallöhne der ausschlaggebendere Faktor ist; diese Frage soll hier nicht verhandelt werden. Die Konsequenz ist in beiden Fällen aber dieselbe: sinkende Geburtenraten. Was aber ist vom anderen Argument Pietschs zu halten, dass meine Generation einfach keine Kinder mehr haben will?
Auch hier enthält seine Analyse mehr als ein Körnchen Wahrheit, aber seine Erklärung mit dem "Egoismus" greift zu kurz. Zwar ist es korrekt, wenn er erklärt, dass für Frauen Kinder nicht mehr in allen Fällen ein "erfüllender Lebensinhalt" sind und gegenüber anderen Lebenszielen - etwa einer Karriere - hintenangestellt werden. Aber Pietsch begeht hier den typischen Fehler von Konservativen, indem er sein eigenes in der Vergangenheit verankertes Wertesystem als Naturgesetz betrachtet und das Wertesystem der nächsten Generation als fremdgesteuertes Produkt übelwollender, linker Eliten verkauft. Denn selbstverständlich entscheiden sich viele Frauen heute mehr oder weniger bewusst zu einem Verzögern ihres Kinderwunschs, haben erst gar keinen oder geben sich mit ein oder zwei Kindern zufrieden. Das kann man als Egoismus betrachten, aber das funktioniert nur wenn man ignoriert, dass die hohen Geburtenraten des Jahres 1967 ebenfalls auf Egoismus beruhten, nur dem der Männer.
Denn der heute deutlich prononcierteren Selbstentfaltung von Frauen gerade im zeitintensiven Berufsumfeld steht eine frühere Unterdrückung solcher Lebensentwürfe gegenüber. Zum vollständigen Bild gehört eben auch, dass Kindeserziehung und -betreuung früher praktisch reine Frauensache war. Die bereits erwähnten 1900 Arbeitsstunden, die im Durchschnitt damals noch erbracht wurden, sprechen eine ebenso deutliche Sprache wie das DGB-Plakat von 1956, in dem im Interesse der Familienzeit ein freier Samstag gefordert wurde. Angesichts der damalig geringen Verbreitungsdichte an Kindergärten fiel die Last dieser Arbeit auf Frauen, denen eine eigene Entfaltung damit völlig unmöglich war. Der wesentlich höhere gesellschaftliche Druck, dem patriarchalischen Modell zu genügen und Kinder zu bekommen, tut da sein Übriges. Die Erwartungen an Väter sind heute deutlich gestiegen, und es spricht nicht eben für uns, dass wir auf diese gestiegenen Erwartungen - die immer noch deutlich unter denen an Mütter liegen - wesentlich häufiger selbst eine Kinderabstinenz wählen. Unter diesen Umständen den Frauen "Egoismus" vorzuwerfen erscheint mir mehr als nur ein bisschen scheinheilig.
Daher hat Pietsch natürlich Recht, wenn er herausstellt, dass die Verbreitung von Kinderbetreuungseinrichtungen alleine keine hinreichende Bedingung für eine steigende Geburtenrate ist. Wie so häufig ist die Gesamtantwort eben doch ein wenig komplizierter. Der von ihm beklagte Hedonismus spielt dabei sicherlich auch eine Rolle, aber die geänderte Arbeitswelt und die progressiveren Geschlechterrollen spielen ebenso eine Rolle. Sie als Fortschritt zu begreifen, den es zu begrüßen und auszubauen gilt, ist die wahre Herausforderung unserer Tage, und nicht zu versuchen, Frauen durch Vorwurf von Egoismus zu beschämen. Wir sind alle gefragt. Kinder großzuziehen ist keine Aufgabe von Frauen zwischen 20 und 40, sondern eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft - ob als Väter, als Großeltern oder als Steuerzahler in der großen Solidargemeinschaft aller Bürger.
---
¹ Alle Zahlen von hier.
² Ich habe etwa hier, hier und hier dazu geschrieben.
³ Pars pro toto mag hier die sozialistischer Gesellschaftsveränderung unverdächtige INSM stehen: "Im Bereich der qualifizierten Leistungserbringer, die sich insbesondere in der mittleren Generation befinden, müssen die Erwerbsquoten steigen. Ein erhebliches Potenzial bieten hier Frauen, deren Erwerbsquote in den letzten Jahren zwar deutlich gestiegen ist, aber noch immer deutlich unter der von Männern liegt. Damit dies möglich wird, muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter verbessert werden. Dazu ist insbesondere eine qualitativ bessere Kinderbetreuung notwendig."