Konkret 04/2019
Deutschland und Frankreich wollen die EU gemäß ihren Interessen umformen.
Gelernt ist gelernt. Anlässlich der Unterzeichnung des Aachener Vertrages durch Angela Merkel und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron spulten die Medien beiderseits des Rheins routiniert ihr Programm ab. Deutschland und Frankreich wollten »Europa stärken« in einer Zeit, in der die Gemeinschaft durch den drohenden Brexit und populistische Bewegungen geschwächt sei, resümierte etwa der »Tagesspiegel«. Der Aachener Vertrag, der unter anderem eine umfassende Abstimmung zwischen Deutschland und Frankreich im Bereich Außenpolitik, Technologieförderung und Militärwesen vorsieht, würde dem »restlichen Europa« signalisieren, dass »man die Union weiter voranbringen« wolle. In Frankreich wurde mal wieder der »deutsch-französische Motor« (»Les Echos«) beschworen, der die EU voranbringen würde.
Die Realität ist von diesen hohlen Phrasen weit entfernt. Die deutsch-französische Allianz verstärkt die Zentrifugalkräfte in der EU, weil Berlin und Paris gemeinsam dafür sorgen wollen, die EU gemäß ihren nationalen Interessen umzuformen – auf Kosten der restlichen EU-Länder. Unabhängig vom Ausgang des Brexit-Theaters erinnert die derzeitige Situation in der EU an Jugoslawien nach der Abspaltung Sloweniens, als das föderale Staatsgebilde noch weitgehend intakt schien, aber seine innere Machtbalance bereits verloren hatte. Derzeit kann Berlin mit seinem französischen Juniorpartner seine Interessen ohne nennenswerten Widerstand in der EU durchsetzen. Nach dem Austritt Großbritanniens aber wird keine oppositionelle Allianzbildung mehr möglich sein. Das treibt die Konflikte auf die Spitze.
Mit der deutsch-französischen Annäherung eskalieren die Auseinandersetzungen zwischen Italien und Frankreich, die Mitte Februar mit dem Abzug des französischen Botschafters aus Italien einen vorläufigen Höhepunkt fanden. Hintergrund dieser Auseinandersetzungen ist die deutsch-französische Annäherung, mit der Frankreich verhindern will, ein krisengeplagtes »neues Italien« (»Welt Online«) zu werden. Neben der provokativen italienischen Unterstützung der politisch ambivalenten Bewegung der »Gelbwesten«, die ja auch gegen die deutsche Austeritätspolitik in Frankreich kämpft, eskalierten die Spannungen infolge handfester innereuropäischer Differenzen – die Berlin und Paris auf Kosten Italiens ausräumen wollen. Paris und Berlin würden eine »leere proeuropäische Rhetorik« benutzen, um ihre »nationalen Interessen« zu verfolgen, etwa in der Migrations- und Industriepolitik, aber auch in der »internationalen Diplomatie«, klagte Italiens Premierminister Giuseppe Conte Ende Januar. Verhandlungen würden angesichts der deutsch-französischen Absprachen kaum noch Sinn machen. Man werde nicht »still am Tisch sitzen und die Entscheidungen absegnen, die andere getroffen haben«, so Conte.
Nach Ansicht der italienischen Regierung findet in der EU keine »europäische« Politik statt; der institutionelle Rahmen Brüssels diene nur noch als machtpolitischer Transformationsriemen für die Interessen Berlins und – abgeschwächt – des französischen Juniorpartners. Der europäische »Motor« sieht also für die Nationalisten in Rom verdächtig jenen imperialistischen Allianzen ähnlich, die die Staatsmonster in den vergangenen Jahrhunderten im Rahmen ihres Dominanzstrebens einzugehen pflegten.
Antrieb der brüchigen deutsch-französischen Achse sind vor allem die krisenbedingt zunehmenden protektionistischen Bestrebungen in beiden Ländern. Die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ausgearbeitete staatsinterventionistische Nationale Industriestrategie 2030 zielt auf Standortsicherung ab, um der »neuen Schärfe« der globalen Konkurrenz im Gefolge der kommenden Rationalisierungsschübe (Industrie 4.0 etc.) begegnen zu können. Zu diesem Zweck will Altmaier »Schlüsselindustrien« definieren, die besonders intensiv vom Staat subventioniert und politisch gefördert werden sollten.
Altmaier zufolge geht es darum, im Rahmen einer »großangelegten Industriepolitik« in bestimmten Industriezweigen »nationale und europäische Champions« zu formen – also staatlich protegierte Großkonzerne, die eine adäquate »Antwort auf die wirtschaftspolitische Agenda Chinas und der USA« böten. So träumt er etwa von einem staatlich geformten »Airbus für Batteriezellen«, mit dem der Rückstand der deutschen Autoindustrie bei der Elektromobilität aufgeholt werden könnte. Auf ihrem Weg in diese Krisenform des Staatsmonopolistischen Kapitalismus sind Berlin und Paris aktuell bestrebt, das europäische Kartellrecht zu schleifen, um eine Fusion der Bahnsparten von Siemens und des französischen Alstom-Konzerns zu ermöglichen – während Italien sich zugleich über die Rolle Deutschlands und Frankreichs bei der EU-Blockade einer für Rom wichtigen Fusion unter Einschluss des italienischen Fincantieri-Konzerns empört.
In Italien lässt dies Erinnerungen an die Sabotage der Southstream-Pipeline aufkommen, die russisches Gas durch das Schwarze Meer nach Südeuropa befördern sollte. Er habe »genug von einem Europa, in dem Berlin das Sagen hat«, empörte sich 2015 Italiens damaliger Premier Renzi über den Ausbau der Nordstream-Pipeline zwischen Deutschland und Russland – nachdem Berlin dafür gesorgt hatte, dass das italienisch-russische Southstream-Projekt von der EU-Kommission auf Eis gelegt wurde. Die Durchsetzung von Nordstream 2, mit der die Kontrolle der europäischen Gasimporte durch Berlin weiter ausgebaut wird, ließ aber nicht nur die Konflikte zwischen Italien, den bisherigen mittelosteuropäischen Transitländern und Berlin offen zutage treten, sie legte auch den prekären Charakter der deutsch-französischen Allianz offen. Überraschend hatte sich Paris am 7. Februar, als der energiepolitische Machtkampf zwischen Berlin und den USA (samt osteuropäischen Verbündeten) eskaliert war, gegen das Pipeline-Projekt gewandt. Angela Merkel drohte ein geopolitisches Desaster. Erst nach hektischen Verhandlungen zwischen Paris und Berlin gab die französische Regierung am 8. Februar wieder grünes Licht für den Deal, der ja schließlich Washingtons ehrgeizige Pläne zum Gasverkauf in der EU unterminiert.
Offensichtlich ging es Paris darum, Zugeständnisse bei internen Deals von Berlin zu erhalten. Diese Episode illustriert, zu welchen Mitteln Macron als Juniorpartner Berlins greifen muss, um sich Gehör zu verschaffen. Deutschland müsse »mehr Rücksicht auf seine Partner nehmen«, sorgte sich die »Süddeutsche Zeitung«. Nicht nur sei ein stabiles »Kerneuropa nicht in Sicht«, auch um die »deutsch-französische Freundschaft kann man sich Sorgen machen« – zumal Macron die Teilnahme an der Münchener Sicherheitskonferenz kurzfristig abgesagt hatte, die Merkel zu einem Generalangriff auf die
Trump-Administration nutzte.
Tatsächlich hat sich Berlin innerhalb der ungleichen, brüchigen Allianz in den entscheidenden, milliardenschweren Streit-punkten durchgesetzt: Von Macrons europapolitischen Reformvorstellungen, die auf eine Reduzierung der EU-internen Ungleichgewichte abzielten, ist so gut wie nichts übriggeblieben. Statt eines europäischen Finanzministeriums, das Konjunkturpolitik betreiben würde, bekommt Resteuropa ein Euro-Budget, dessen Gelder nur gegen »Reformen« fließen sollen, wie die »FAZ« am 22. Februar zufrieden meldete: »In wesentlichen Teilen geht der deutsch-französische Kompromiss auf ein Arbeitspapier des Bundesfinanzministeriums zurück.« Auch in Sachen Umweltpolitik wurden die von Paris geforderten CO 2 -Mindestpreise von Berlin abgelehnt, weil das der auf Atomstrom setzenden französischen Wirtschaft »einen Vorteil verschaffen« würde, wie das Nachrichtenportal »Euractiv« meldete. Und so folgt Schlag auf Schlag. Inzwischen fordert Wolfgang Schäuble offen, dass die Vetorechte in der EU eingeschränkt werden: »Einstimmigkeitsprinzip heißt, dass der Langsamste alles blockieren kann«, so der Zuchtmeister der EU a. D. Deswegen brauche Europa ein »System von Mehrheitsentscheidungen, von mir aus qualifizierten Mehrheitsentscheidungen«.
Derzeit streiten Berlin und Paris vor allem um eine gemeinsame Position im Handelsstreit mit den USA, die sich die innereuropäischen Querelen zunutze machen. Während Merkel die exportabhängige deutsche Autoindustrie durch ein umfassendes Abkommen mit den USA schützen will, will Macron bis zur Europawahl auf Zeit spielen – und vor allem landwirtschaftliche Güter aus Rücksicht auf die französischen Bauern von den Verhandlungen ausschließen. Aber das Weiße Haus besteht auf einem Handelsabkommen, das auch den Agrarsektor umfasst.
Für Berlin wird die Zeit knapp. Dabei muss die Zementierung deutscher Dominanz in Europa forciert werden, da eine offene Herausforderung der USA nur in dem Zeitrahmen möglich ist, in dem Washington sich auf den Handelskonflikt mit China konzentriert. Sobald aber »das Kapitel China abgehakt« sei, werde Trump »keine Sekunde zögern, sich gestärkt dem nächsten Gegner zuwenden – und der heißt Deutschland«, warnte der »Münchner Merkur« Ende Februar.
Bleibt die Frage zu klären, wieso die EU, die weitgehend ein Instrument deutscher Machtentfaltung ist, überhaupt noch besteht. Der Brexit sei eine Revolte gegen den von Deutschland geführten »europäischen Superstaat«, formulierte ein Ökonom auf der Internetpräsenz des US-Senders CNBC – wieso findet er keine Nachahmer? Eine Antwort gab die ehemalige Ökonomin und »Wirtschaftsweise« Beatrice Weder di Mauro in einem Interview mit der »Zeit«, als sie feststellte, dass ohne Euro viele der derzeitigen Euro-Staaten »nur Schwellenländer« wären. Diese »könnten sich nicht in ihrer eigenen Währung im Ausland verschulden, und ihr Wechselkurs wäre extrem volatil und krisenanfällig«. Diese kaum verhohlene Drohung mit dem sozioökonomischen Absturz, die Deutsch-Europa allen Friktionen zum Trotz noch zusammenhält, ist angesichts der Weltkrise des Kapitals, in der das System zunehmend auf Pump läuft und ganze Regionen ökonomisch abgehängt werden, kein Bluff.
Auch deswegen wollte Schäuble 2015 an Griechenland ein Exempel statuieren und es aus der Euro-Zone drängen. Zur Erinnerung: Der Euro wurde auf Drängen Frankreichs in Reaktion auf die deutsche Wiedervereinigung eingeführt, damit dem wiedererstarkten Berlin sein wichtigstes Machtmittel genommen würde: die Deutsche Mark. Das war, wie sich gezeigt hat, ein Fehler. Der drohende Zerfall der Euro-Zone würde allerdings die ökonomische Dominanz Berlins noch wirkungsvoller machen. All die Länder, die sich »nicht in ihrer eigenen Währung« im Ausland verschulden könnten, wären von den Entscheidungen der deutschen Geldpolitik abhängig, ohne auch nur formelles Mitspracherecht in den Euro-Gremien zu haben.
Wie stark die langjährige deutsche Beggar-thy-Neighbour-Politik die ökonomischen Gewichte in der EU verschoben hat, macht eine Ende Februar veröffentlichte Studie des Freiburger Centrums für Europäische Politik klar: Demnach habe Deutschland von der Einführung des Euro am meisten profitiert, während Frankreich und Italien zu den größten Verlierern der Währungsgemeinschaft zählen. Den deutschen »Wohlstandsgewinn« durch den Euro summierten die Autoren der Studie auf 1,9 Billionen Euro, Frankreich habe hingegen »Wohlstandseinbußen« von 3,6 Billionen Euro hinnehmen müssen, Italien sogar einen Verlust von 4,3 Billionen.
Tomasz Konicz schrieb in 2/19 über den Niedergang der Weltmacht USA