Krasses Unverständnis

Von Stefan Sasse
Albrecht Müller ist völlig fassungslos. "Warum sich der baden-württembergische Ministerpräsident so verhält und wie seine Argumentation vor allem Möglichkeiten zum Weiterbau sucht, als Möglichkeiten zum Ausstieg zu nutzen, das verstehe ich nicht." In einem Artikel auf den NachDenkSeitendokumentiert er eine Kontroverse Kretschmanns mit Ausstiegsgegnern und nennt mehrere mögliche Wege, auf denen Kretschmann prinzipiell das Projekt Stuttgart21 stoppen könnte. Warum er es nicht tut, erschließt sich ihm nicht. Die Antwort liegt für ihn, natürlich, in einer Art Miniverschwörung: "Die mildeste Erklärung wäre jene, dass er im Vorfeld des Koalitionsvertrags mit der SPD die Verpflichtung eingegangen ist, die Möglichkeiten zum Ausstieg aus Stuttgart 21 nicht zu nutzen."Oho, die mildeste. Klar welche Erklärung nicht so milde wäre: die ganze Bande ist gekauft. Was ich nicht verstehe ist, wie ein Mann, der jahrelang als Politikberater gearbeitet hat und selbst im Bundestag saß, sich keinen Reim auf diese Entwicklung machen kann. Dabei ist die Sache eigentlich relativ offensichtlich. 
Versetzen wir uns kurz in Kretschmanns Lage. Er führt eine Koalition an, in der sein Abstand zum Koalitionspartner gut im margin of error liegt. Selbiger Koalitionspartner ist strikter S21-Befürworter. Die Grünen, seine eigene Partei, sind zwar S21-Gegner, aber damit im Parlament alleine. Der Kompromiss beider Parteien, die in dieser Frage offensichtlich diametral entgegengesetzte Positionen vertraten, war so einfach wie feige: Anstatt sich zu einigen, führten sie eine Volksbefragung durch. Diese Volksbefragung ergab ein eindeutiges Votum für den Bau von S21, selbst in der Hauptstadt selbst. Auf gut Deutsch: Die Grünen haben für einen Baustopp von S21 unter Ausnutzung dubioser juristischer Tricks keinerlei Mehrheit im Land. Würde Kretschmann S21 stoppen, was er wohl tatsächlich könnte, so würde dies von der Bevölkerung als eine Art Putsch angesehen werden - und zwar zu Recht. Wozu machen wir denn Volksbefragungen, wenn die Regierung danach das Ergebnis einfach ignorieren kann? Das hat nicht das Geringste mit Demokratie zu tun. Es ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Linke ihre ganze Rhetorik von Demokratie ohnehin nicht ernst meint. Wenn die Mehrheit in ihrem Sinne entscheidet, so wäre das Demokratie; tut sie es nicht, sind die Eliten gekauft und die Masse geblendet. 
Aber selbst wenn wir dieses Element vollkommen beiseite lassen und mit Albrecht Müller die Legitimität der Volksabstimmung einfach nicht anerkennen, so brauche ich immer noch keinen geheimen Zusatzartikel im Koalitionsvertrag, um als Kretschmann diese "Möglichkeiten" zum Ausstieg aus S21 nicht wahrzunehmen. Kretschmann ist Ministerpräsident, nicht Diktator von Baden-Württemberg. Er braucht für seine Politik die Stimmen der Koalition, er braucht die Medien und er braucht die politischen Institutionen, kurz: Er braucht politisches Kapital. Würde er quasi perexecutive order S21 stoppen, so wäre das ein nie dagewesener Präzedenzfall. Die gesamte Legislaturperiode wäre durch dieses Thema bestimmt. Die Grünen wären von Stund an nur noch die Partei, die S21 gestoppt hat und könnten kaum noch etwas anderes tun. Diese Legislaturperiode wäre natürlich sehr kurz, denn wenn Kretschmann das tun würde, wäre er die längste Zeit Ministerpräsident gewesen. Die SPD würde sicherlich aus der Koalition austreten (völlig zu Recht) und entweder einen CDU-Ministerpräsidenten wählen oder Neuwahlen verlangen. So oder so wäre die grüne Ära in Baden-Württemberg zu Ende.
Und um das zu sehen, brauche ich überhaupt keine geheimen Abmachungen. Das liegt eigentlich auf der Hand. Man kann es bedauern, aber das ist die Realität. Sich ihr zu verweigern macht keinen Sinn.


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