Kopfhörer und tödlich verunglückte Fußgänger

Letzte Woche berichtete RTL einigermaßen aufgescheucht von den alarmierenden Zahlen, die das Statistische Bundesamt bezüglich Verkehrstoten veröffentlichte. Schätzungen zufolge habe es 2011 einen Anstieg von Todesfällen im Straßenverkehr gegeben - eklatant sei jedoch der Anstieg bei tödlich verunglückten Fußgängern. Fast 25 Prozent mehr als 2010 seien es. Experten und Verkehrsministerium glauben, dass das mit der "neuen Mode" von Fußgängern zu tun hat, mit Kopfhörern und lauter Musik auf dem Ohr, am Straßengeschehen teilzunehmen. Die beschränkte Wahrnehmung führe daher zu vermehrten Unfällen und letztlich auch zu mehr tödlich verunglückten Fußgänger.

Die Zahlen

Zunächst ist zu sagen, dass die nun veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes Schätzungen sind. 3.900 Tote insgesamt soll es demnach im Straßenverkehr 2011 gegeben haben. Schätzungen haben sich in den letzten Jahren häufiger als zu großzügig erwiesen. Beispielsweise verschätzte man sich 2007 und 2008 um etwa 130 Todesfälle. Das klingt selbstverständlich korinthenkackerisch, mindert aber unter Umständen die derzeitige Schätzung und damit auch die horrenden Anstiege etwas.

Das Statistische Bundesamt schätzt momentan 593 tödlich verunglückte Fußgänger. Das seien 24,6 Prozent mehr als 2010 - damals waren es lediglich 476. Was die Medien, allen voran RTL, allerdings verschwiegen: das Jahr 2010 war ein statistischer Ausreißer, das mit Abstand an tödlich verunglückten Fußgängern ärmste Jahr. Die Zahlen der letzten Jahre:

2005: 5361 Verkehrstote, davon 697 Fußgänger
2006: 5091 Verkehrstote, davon 711 Fußgänger
2007: 4949 Verkehrstote, davon 695 Fußgänger
2008: 4477 Verkehrstote, davon 653 Fußgänger
2009: 4152 Verkehrstote, davon 591 Fußgänger
2010: 3648 Verkehrstote, davon 476 Fußgänger
2011: 3900 Verkehrstote, davon 593 Fußgänger (geschätzt)

Die Deutung

Daraus läßt sich ableiten, dass sich die Zahl der toten Fußgänger auf das Niveau 2009 zurückgependelt hat - und damals feierte man das ebenfalls als freudigen Rückgang und Fortschritt im Straßenverkehr. Es war ja immerhin das Jahr mit den wenigsten Verkehrstoten seit 1950. Von 2009 auf 2010 gab es einen Rückgang um etwa ein Viertel - und von 2010 auf 2011 einen Anstieg um ein Viertel. Ein Rückgang von 115 tödlich verunglückten Fußgängern, wie das von 2009 auf 2010 geschah, liegt nicht in der Norm, wenn man das mit den Rückgängen der Vorjahre vergleicht. Ein positiv statistischer Ausreißer folglich. Weshalb das so war, sollte vielleicht mal an anderer Stelle untersucht werden. Gab es einen realen Grund im Straßenverkehr oder wurden die Erhebungen eventuell dergestalt verändert, dass es zu einer Senkung außerhalb der Norm kam?

Der Einwand, dass die Zahl der Verkehrstoten 2011 mit denen der tödlich verunglückten Fußgänger 2011 nicht in Relation angestiegen sind, dass es also etwa 7 Prozent mehr Verkehrstote allgemein, aber 24,6 Prozent mehr tote Fußgänger gibt, ist bedenkenswert, aber auch statistisch kein Einzelfall. 2006 ging die Zahl aller Verkehrstoten zurück, während die Zahl tödlich verunglückter Fußgänger anstieg.

Überhaupt kann man sagen, dass die Zahl tödlich verunglückter Fußgänger relativ konstant bei etwa 0,00075 Prozent aller Bundesbürger liegt. Es ist natürlich nicht statthaft, das so zu berechnen, entdramatisiert aber etwas und nimmt der Diskussion ein wenig Schärfe.

Besonderheit

Außer Acht gelassen wurde dabei auch noch, dass laut Statistischen Bundesamt von August 2010, jeder zweite getötete Fußgänger oder Radfahrer, über 65 Jahre alt war - bezogen auf die erhobenen Zahlen von 2009. Man darf annehmen, dass diese Zahlen in etwa auch für 2010 und 2011 gelten dürfen. Dabei ist zu bedenken, dass bei dieser Berechnung Fußgänger und Radfahrer zusammengefasst wurden. Rechnet man Fußgänger für sich, so waren von 591 tödlich verunglückten, 335 über 65 Jahre alt. Das ist somit nicht jeder zweite, nicht also in etwa 50 Prozent, sondern gar 57 Prozent.

Diese Information ist insofern hilfreich, weil man das Tragen von Kopfhörern und die damit verbundene Isolierung der Wahrnehmung durch Musikbeschallung, als Ursache für die ansteigenden Zahlen nennt. Ob aber die Generation "plus 65" die besagte Klientel ist, die mit MP3-Player oder ähnlichem am Verkehr teilnimmt, ist doch höchst zweifelhaft.

Die vermeintliche Ursache

Zweifellos beeinflusst Musikeinwirkung die Teilnahme am Verkehr. Das ist nicht der Punkt. Und die beeinflusst Fußgänger und Radfahrer genauso wie Autofahrer. Die Panik aber, mit der die Medien - allen voran ja RTL - nun berichten, die erzwungenen Stellungnahmen seitens des Verkehrsministeriums, sie sind völlig unangebracht. Ob das Ministerium von alleine in Aktionismus verfällt oder ob dahinter Medienanfragen stehen, die man nicht mit Gelassenheit behandeln will, weil man sonst als "Ministerium der ruhigen Hand" dargestellt wird, dass sich wenig um die großen Sorgen unseres Alltags kümmert, weiß man nicht so genau.

Fragen müssen erlaubt sein: Wurden Kopfhörer, i-Pods oder MP3-Player, erst neulich erfunden? Haben wir die Existenz des Walkman vergessen, den es schon Mitte der Achtzigerjahre als Massenartikel gab? Damals sah man vielleicht noch mehr mit Kopfhörer ausgestattete junge Verkehrsteilnehmer als heute - jedenfalls nicht weniger als heute. Gab es im Jahr 2010, als man so wenige verunglückte Fußgänger zu beklagen hatte, keine Kopfhörer in den Verkaufsregalen und somit im Straßenverkehr? Auch damals wurde Musik im Straßenverkehr gehört, passiert ist dennoch weniger. Lag es damals etwa gar an der erbaulichen Musik, dass weniger geschehen ist?

Kurzum, ein Paradebeispiel dafür, wie man mit statistischen Zahlen, völlig aus dem Zusammenhang gerissen, Stimmungen erzeugt und selbst Ministerien in die Enge treibt. Die können sich Besonnenheit gar nicht leisten, weil sie sonst Schlagzeilen ernten würden wie "Verkehrsminister nimmt Zunahme bei tödlich verunglückten Fußgängern nicht ernst!"


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