Nicht nur in den Tropen existiert die Metapher vom Dschungel für die große, unkontrollierbare Stadt. Es geht nicht um klimatische Dimensionen, sondern um Menschenströme, Armut, Kriminalität, informelle Sektoren und Zonen der Gesetzlosigkeit, die teilweise das Format exterritorialer Gebiete annehmen. Der Dschungel Großstadt ist zum einen das Genre für Kriminalliteratur und Kriminalfilme, zum anderen das Bild, von dem die Theorie der Unregierbarkeit ausgeht.
Der Djungel der Stadt – Foto: © Rio de Janeiro – Astrid Götze-Happe / pixelio.de
Lange Zeit hatte, zumindest aus der deutschen Perspektive, New York das Monopol auf dieses Image, bevor die Weltmetropole von einer protestantischen Law-and-Order-Politik überzogen wurde und dadurch vieles ihrer einstigen Vitalität eingebüßt hat. Die Metropolen mit der größten Dynamik waren allerdings auch schon zu Zeiten der medialen Dominanz New Yorks Städte wie Sao Paulo, Rio de Janeiro, Karatschi, Jakarta, Bangkok, Istanbul, Shanghai oder Vancouver. Die Dynamik dieser Städte resultierte vor allem aus Migrationsströmen, die für schnelle Anpassung und Veränderung verantwortlich sind.
Die Metropolen des Westens sind im Vergleich zu den oben genannten bereits in hohem Maße saturiert, d.h. die Migrationswellen sind abgeebbt bzw. nichts im Vergleich zu südamerikanischen oder asiatischen Migrationswellen. Sie verfügen über eine etablierte Infrastruktur und die Institutionalisierung der vitalen Funktionen des Gemeinwesens ist so gut wie abgeschlossen. Es existieren von Stadtparlamenten beschlossene Budgets, die Ressorts gehen ihrer Arbeit nach, Straßen, Schulen, Stadien und Parks sind gebaut, die soziale Landkarte hat eine klare Kontur und die bereits in dieser Gemarkung sozialisierten Bewohnerinnen und Bewohner haben die existierende Ordnung im Wesentlichen akzeptiert. In diesem Falle ist aus der Sicht der politischen Klasse die Welt in Ordnung, d.h. derartige Städte gelten als regierbar.
Das Attribut der Unregierbarkeit wiederum erwerben sich urbane Agglomerationen, in denen der Zustrom an neuen Bewohnern nicht regulierbar ist und quantitativ jede Art von bewusster Stadtentwicklung aushebelt.
Der Zustrom von Menschen, die frei von der in der Metropole existierenden Ordnung sind, sorgt für die Auflösung dieser Ordnung und die damit verbundene wachsende Wirkungslosigkeit der etablierten Institutionen. Kinder gehen nicht mehr zur Schule, die Polizei ist überfordert, Brände werden nicht mehr gelöscht, die Wahlregister sind nicht aktuell, die Müllentsorgung funktioniert nicht mehr.
Viele der Alteingesessenen beklagen die Auflösung der von ihnen geschätzten Ordnung und die neu Hinzugezogenen bekommen von der ganzen Diskussion vielleicht gar nichts mit, weil sie auch die etablierten Kommunikationskanäle nicht einmal kennen. Sie sind damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben zu sichern, in dem sie sich Jobs im informellen Sektor suchen und selbst die Initiative ergreifen, um gesellschaftliche Funktionen, die benötigt werden, selbst zu organisieren. Das beginnt beim Kindergarten und endet vielleicht bei einem quartierbezogenen Wachdienst. Die Selbstorganisation ersetzt das öffentlich-rechtliche Monopol und nicht jede Form der Eigeninitiative hat das Stigma der mafiösen Struktur verdient.
Wenn also von der Unregierbar einer Stadt die Rede ist, handelt es sich, kühl betrachtet, um die wachsende Selbstorganisation der Stadtgesellschaft bei gleichzeitiger Erosion der etablierten Institutionen. Der als politische Krise bezeichnete Zustand schafft allerdings Korridore für Potenziale, die für die Weiterentwicklung der Stadt eine immense Bedeutung haben kann. Zum einen liefern die informellen Sektoren Menschen mit einer ungeheuren intrinsischen Motivation, was bei Etablierten tendenziell nachlässt, zum anderen entstehen im Raum der „Gesetzlosigkeit“ nicht selten Lösungskonzepte und Verfahren, die der Zukunft den Weg weisen können, Kollateralschäden inbegriffen. Wenn also die Rede ist von der Unregierbarkeit einer Stadt, so ist dieses in Bezug auf den gestalterischen Aspekt auch ein Hinweis auf zukünftige Qualität. ..Fortsetzung folgt..
Teil3 der Artikelreihe von Gerhard Mersmann zum Themenkomplex
Kommunen, Städte und Metropolen:
1. Die Kommune als Mikrokosmos politischer Theorie (Link)
2. Die Komplexität moderner Metropolen (Link)
3. Unregierbarkeit als Hinweis auf zukünftige Qualität
4. Konkurrierende Demokratiekonzepte in der Kommune
5. wie definieren sich Städte?
6. Oberbürgermeister, Strategien und Prinzipien
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Hamburg, Deutschland: Konsum, Protest, Gewalt, Polizei
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Quellen – weiterführende Links
– Foto: © Rio de Janeiro – Astrid Götze-Happe / pixelio.de
Video: Gentrifizierung in der Favela – Trailer, youtube.de – crowdspondent – Deine Reporter