Kommentar zu Verkehrte Welt von Fenna Wächter

Kommentar zu Verkehrte Welt von Fenna Wächter„Die Welt ist verkehrt, ja verkehrt ist die Welt. / Der Granatapfelbaum trägt Kirschen. / Das Häschen hockt friedlich beim Hunde und bellt, / Das Mäuschen die Katze im Maule hält.“

Als Doudou, die kleine Tochter der Dorfvorsteherin Kong Fanhua, diesen Kinderreim vor sich hin singt und die Mutter ihr dabei zuhört, ahnt Fanhua noch nicht, dass in den kommenden Tagen und Wochen ihre Welt tatsächlich gehörig auf den Kopf gestellt wird. Es stehen nämlich Wahlen an, doch eigentlich macht Fanhua sich darüber keine allzugroßen Sorgen, denn ihr fällt kein Grund ein, aus dem sie nicht wiedergewählt werden sollte. Plötzlich muss sie jedoch erfahren, dass Xuedai, eine der Bäuerinnen aus ihrem Dorf schwanger ist – und sie hat bereits zwei Kinder (noch dazu Töchter!). Das stellt den Geburtenplan des Dorfes gehörig auf den Kopf, und ein Rüffel diesbezüglich von höherer Stelle aus der Partei könnte Fanhua ihre Wiederwahl kosten.

Gemeinsam mit den Mitgliedern des Vorstandskomitees, macht sich Fanhua daran, Xuedai von einer Abtreibung zu überzeugen, doch weder Versprechungen noch Drohungen zeigen Erfolg. Damit nicht genug, wissen auch auf einmal eine Menge Leute an höherer Stelle von dem Problem und machen Fanhua Druck. Zu allem Überfluss zeichnet sich dann auch noch ab, dass ihre Wiederwahl nicht nur durch Xuedais Bauch in Frage gestellt wird – es scheint ganz so, als strebten gleich mehrerer ihrer Komitee-Mitglieder nach höheren Aufgaben und würden bei der kommenden Wahl gegen sie antreten.

Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt ist noch viel mehr als die Geschichte einer Dorfvorsteherin, die sich auf die kommende Wahl vorbereitet. Es ist nämlich ein erstaunlich offener und kritischer Blick auf das gegenwärtige ländliche China, und das allgegenwärtige Thema der Geburtenkontrolle macht das Buch in meinen Augen zu schwerem Tobak. In diesem Falle steht Abtreibung nicht für die Selbstbestimmung der Frauen, sondern ist ein politisches Werkzeug. Familienplanung ist ein Staatsakt, und wer sich nicht an die vorgegebenen Zahlen hält, schadet nicht nur seiner Familie wegen hoher Strafzahlungen, sondern dem Dorf, dem Landkreis, dem ganzen Land: „Die Familienplanung ist nicht nur eine Frage des Unterleibs, sie steht ebenso in Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Lage unseres Landes und dem Lebensstandard der Bevölkerung. Sie ist für das Versiegen der Ressourcen, für die Erderwärmung und eine ganze Reihe anderer Probleme von großer Bedeutung.“

Wie es mit Fanhuas politischer Karriere weitergeht, verliert anhand solcher Aussprüche beinahe an Bedeutung, besonders weil Li Er nicht nur sehr offen über Chinas Familienplanung (und die Abneigung gegen Töchter) spricht, sondern auch, ganz nebenbei, sehr viele Gelegenheiten wahrnimmt, um auf Korruption und Selbstbereicherung innerhalb der Partei hinzuweisen. Hier scheint er kurzzeitig den Faden der Geschichte verloren zu haben, doch bald schon nimmt er ihn wieder auf und schlägt einen gekonnten Bogen zu Fanhuas Wahlkampf und der Wahl selbst, deren Ausgang dann einen noch tieferen Blick in das chinesische Landleben zulässt. 

Der Erzählstil ist zunächst gewöhnungsbedürftig – ungewohnte Namen und lange Dialoge über Alltagsdinge benötigen ein wenig Zeit. Wer sich jedoch hineingefunden hat, wird mit einem hochinteressanten Einblick in das chinesische Dorfleben belohnt, mit einer gesellschaftskritischen Geschichte, die teilweise parabelhafte Stellen aufweist.

Kategorien: China | Tags: Starke Frauen | Permanentlink.


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