KLEINE HEXEN KÖNNEN ZAUBERN

Das Fotomodell Marylou möchte ihre geliebte ältere Schwester verheiraten, um sie vor dem Schicksal einer alten Jungfer zu bewahren. Den richtigen Mann hat sie schon gefunden, aber leider will Roland von Liebe nichts mehr wissen …

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“Ach du bist es, Marylou. Komm rein”, krächzte Gabriele und putzte sich geräuschvoll die Nase. “Mich hat’s erwischt, Kleines. Ich kann kaum noch aus den Augen gucken!” Sie freute sich sonst immer über den Besuch ihrer quirligen kleinen Schwester, aber an diesem Abend fühlte sie sich so müde und zerschlagen, dass sie am liebsten gleich zu Bett gegangen wäre.

“Nichts ist dem Sex-Appeal abträglicher als eine rote Nase und verquollene Augen”, stellte Marylou vergnügt fest. Sie lag schon wie hingegossen auf den vielen bunten Kissen des Divans, die langen schlanken Beine graziös gekreuzt. Marylou war Fotomodell und sah immer so aus, als wäre sie eben dem Titelbild von “Vogue” entstiegen.

“Ich würde jetzt gern ein richtig heisses Bad nehmen”, verkündete Gabriele.

“Tu’s doch.” Marylou sprang bereitwillig auf. “Wir können auch im Badezimmer klönen.”

Zehn Minuten später versank Gabriele mit einem tiefen Seufzer des Wohlbehagens im blauen Schaum, während ihre vier Jahre jüngere Schwester dampfumwallt wie eine schöne Hexe auf dem Wäschepuff hockte. “Und jetzt hör dir die Neuigkeit an”, verkündete sie. “Du erinnerst dich doch an den versicherungsmathematischen Sachverständigen, der unter mir wohnt? Wir sind ihm ein paarmal im Treppenhaus begegnet.”

“Der, der dich so giftig angeguckt hat?”

Marylou nickte. “Er kann nichts dafür, der Arme. Ich bin eben nicht sein Typ. Aber er braucht eine neue Sekretärin. Seine heiratet.”

“Und du willst …” Gabriele sah ihre Schwester mit offenem Mund an.

“Ich doch nicht! Aber du. Denk dran, dass du in zwei Monaten auf der Strasse sitzt!”

Das stimmte. Gabrieles Chef ging in den Ruhestand, und sein Nachfolger brachte seine eigene Sekretärin mit. Es wurde Zeit, dass Gabriele eine andere Stelle fand. Und trotzdem: “Ich kann doch nicht einfach so hingehen”, zögerte sie. “Und woher weisst du das überhaupt?”

“Von der Putzfrau. Wenn sie das Treppenhaus saubermacht, kommen wir manchmal ins Gespräch. Und wenn du wartest, bis eine Anzeige in die Zeitung kommt, bekommst du nur unnötige Konkurrenz. Los, gleich morgen gehst du hin!”

“Lass mir ein bisschen Zeit”, stöhnte Gabriele. “Ich kann mich doch nicht mit einer Triefnase vorstellen und überhaupt …”

“Klar kannst du das”, erwiderte Marylou energisch. “Der sucht nämlich kein Pin-up, sondern eine kompetente Sekretärin. Und dann”, schloss sie mit Nachdruck, “solltest du ihn dir angeln. Is’n sympathischer Mensch im Grunde, und Geld hat er auch.”

“Aber Marylou!” Gabriele war schockiert.

“Was denn?” gab diese mit unschuldigem Augenaufschlag zurück. “Willst du etwa eine alte Jungfer werden? Nimm dir endlich einen jungen Chef. Hast lange genug bei dem alten Böhmer gearbeitet.”

“Der alte Böhmer, wie du sagst, ist ein netter Mensch.”

“Mag ja sein”, räumte Marylou grosszügig ein, “aber er ist längst Opa.”

“Du bist unmöglich, mein Mädchen”, seufzte Gabriele. “Gib mir doch mal ein Taschentuch ‘rüber, bitte.”

“Ich denke an deine Zukunft”, erklärte Marylou sorgenvoll, zog ein extragrosses Kleenex aus dem Kasten hinter sich und reichte das Gewünschte hinüber.

“Und warum hast du selbst es nie bei diesem sympathischen Menschen versucht?” fragte Gabriele, als sie aus dem Taschentuch wieder auftauchte.

Marylou verdrehte die Augen. “Ich bin so etwas wie ein Schreckgespenst für ihn, fürchte ich. Das ist eben ein seriöser Mann, für den ich viel zu verrückt bin.”

Gabriele sah ihre Schwester nachsichtig-liebevoll an. Denn verrückt war Marylou, wenn überhaupt, nur äusserlich.

“Du musst allerdings Geduld mit ihm haben”, fuhr Marylou unerwartet ernsthaft fort. “Er war schon mal verheiratet, und seine erste Frau muss ihn wahnsinnig enttäuscht haben. Seitdem geht er der Liebe aus dem Weg und arbeitet, dass die Fetzen nur so fliegen.”

“Und woher weisst du nun das schon wieder?”

“Auch von der Putzfrau. Das ist ‘ne gut informierte Frau mit Herz.” Und dann räusperte sie sich und fuhr mit etwas wackeliger Stimme fort: “Ich möchte dir nämlich noch etwas anderes sagen. Ich gehe bald nach Paris.”

“Nach Paris?” Gabriele machte grosse Augen.

“Die grösste Modellagentur von Paris will mich unter ihre Fittiche nehmen”, verkündete Marylou bescheiden, aber sichtlich zufrieden. “Und wenn ich nach ein paar Jahren ein nettes kleines Kapital zusammen habe, stelle ich etwas Eigenes auf die Beine. Nur um dich mache ich mir Sorgen, altes Mädchen. Ich mag dich nicht gern so allein zurücklassen.”

“Na hör mal”, begann Gabriele und schnappte nach Luft: “Glaubst du nicht, dass ich alt genug bin, um auch ohne dich klar zu kommen? Noch’n Taschentuch, bitte.”

Und während sie sich kräftig schneuzte, fühlte sie tatsächlich einen kleinen Stich im Herzen. Marylou in Paris, und sie in der grossen Stadt Hamburg … Seit dem Tod ihrer Eltern war Marylou alles, was ihr geblieben war …

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Gabriele studierte noch einmal das Schild neben der Klingel: “Roland Sieburg. Versicherungsmathematischer Sachverständiger”, stand darauf. Seriös sah das aus. Und ebenso seriös wirkte der hochgewachsene schlanke Mann von etwa Mitte Dreissig, der sie oben in der Tür erwartete. Er trug einen gutgeschnittenen Anzug, ein tadellos weisses Hemd und eine dezent gemusterte Kravatte. Nun sah er Gabriele prüfend und nicht unfreundlich an und fragte: “Sie wünschen?”

Sie gab sich einen Ruck: “Ich habe gehört, dass Sie eine Sekretärin suchen.”

“Donnerwetter”, staunte er, “das spricht sich aber schnell herum. Bitte, kommen sie doch herein.” Höflich liess er der jungen Frau den Vortritt ins Wohnzimmer, das mit hübschen alten Möbeln eingerichtet war.

“Bitte, setzen Sie sich.” Er wies auf einen der Sessel. “Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?”

“Gern”, nickte sie. “Aber ich bin fürchterlich erkältet. Hoffentlich stecke ich Sie nicht an.”

“Alkohol desinfiziert”, meinte er mit trockenem Humor. “Möchten Sie einen Whisky?”

“Einen kleinen”, bat sie und stellte sich dann vor: “Ich heisse Gabriele Bender.”

Er schenkte gerade ein und fuhr bei dem Namen Bender leicht zusammen. Rasch fuhr Gabriele fort: “Meine Schwester Marylou wohnt über Ihnen.”

“Dieses Ungeheuer ist Ihre Schwester?” fragte er ungläubig und sah die junge Frau genauer an: “Jetzt erinnere ich mich. Wir sind uns ein paarmal im Treppenhaus begegnet.”

“Marylou hat ein etwas extravagantes Auftreten. Das hängt mit ihrem Beruf zusammen, aber sonst ist sie … na ja, eben ein ganz normaler Mensch”, verteidigte Gabriele ihre Schwester.

Roland Sieburg schnippte mit dem Finger: “Gerade neulich hat wieder ein wildfremder Mann nachts bei mir angerufen. Er wollte unbedingt Ihre Schwester sprechen. Ihr Telefon funktionierte nicht.”

“Marylou hat manchmal etwas verrückte Verehrer”, gab Gabriele zu, “und wenn sie einen Fototermin hat, stellt sie nachts das Telefon ab, um ruhig schlafen zu können.”

“Ich brauche genauso viel Schlaf wie Ihre reizende Schwester”, knurrte er. “Sie wird es auch nie lernen, ihren Wagen ordentlich abzustellen. Heute morgen habe ich geschlagene zehn Minuten gebraucht, um mich aus der Parklücke herauszumanövrieren. Und was macht sie neuerdings Sonntag Morgens? Am einzigen Tag, an dem ich ausschlafen kann? Da werde ich aus tiefstem Schlummer gerissen, weil dauernd etwas mit Getöse auf den Boden fällt!”

“Das müssen ihre Keulen sein”, murmelte Gabriele und verbiss sich mit Mühe das Lachen, obwohl sie ehrliches Mitleid mit dem jungen Mann hatte. “Marylou macht neuerdings diese Gymnastik mit Keulen.”

“O Gott”, seufzte er und trank einen langen Schluck.

“Sie werden meine Schwester bald los sein”, tröstete sie ihn. “Sie will nach Paris.”

“Tatsächlich?” fragte er erfreut und wurde dann wieder ernst. “Aber jetzt wollen wir über die Arbeit sprechen. Können Sie Französisch?”

“Gut sogar”, nickte sie.

“Ich habe manchmal französische Kunden, und leider spreche ich die Sprache nicht.”

Je länger sie über die Arbeit sprachen, desto sicherer fühlte sich Gabriele. Sie war eine gute Sekretärin und wusste es. Sie wusste auch, dass sie trotz ihres Schnupfens adrett und gepflegt aussah. Ihre frisch gewaschenen Haare waren aufgesteckt, ihr Make-up war so dezent, dass man es kaum als solches bemerkte, und sie trug ein schickes Kostüm mit passenden Schuhen und einer ebenso passenden Handtasche.

“Und bitte, heiraten Sie nicht so schnell”, bat Roland Sieburg noch zum Schluss. “Ich möchte endlich eine Sekretärin länger behalten als ein oder zwei Jahre!”

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Sechs Monate vergingen. Marylou war längst in Paris und erzählte begeistert am Telefon, und Gabriele hatte sich gut eingearbeitet. Roland war ein angenehmer, wenn auch sehr anspruchsvoller Chef.

Gabriele mochte Rolands Selbstironie und seinen trockenen Humor, hatte aber längst gemerkt, dass er ein sehr sensibler Idealist war, der sich damit zu schützen versuchte. Er hatte ihr einmal von seiner ersten Frau erzählt, von ihrem Egoismus.

“Warum haben Sie sie dann geheiratet?” wollte Gabriele wissen.

“Weil Liebe blind macht”, erwiderte er. “Ich ahnte ihren wahren Charakter, aber …” er zuckte etwas hilflos die Achseln, “man verschlieest die Augen vor so vielen Dingen, wenn man liebt.”

Bei Roland konnte Gabriele ihr ganzes Organisationstalent unter Beweiss stellen. Sie nahm die Gespräche entgegen, kümmerte sich um die Kunden, erinnerte Roland an Termine und sorgte dafür, dass er Ruhe hatte, wenn er im Computerraum sass.

Und abends stand sie manchmal vor dem Spiegel. 29 Jahre alt. Fast dreissig. Ein hübsches Gesicht mit regelmässigen Zügen. Eine hübsche, schlanke Figur. Wozu? Für wen? Wie schaffte sie es eigentlich, immer übersehen zu werden? Marylou hatte einmal gesagt, dass sie aus lauter Perfektion zu einer grauen Maus wurde. Stimmte das womöglich? Jedenfalls hatte Marylou auch in einer anderen Sache Recht behalten. Gabriele hatte sich längst in Roland verliebt. Ausgerechnet in einen Mann, der von der Liebe nichts mehr wissen wollte. Zwischen ihnen herrschte ein kamaradschaftlich flachsender Ton, der jetzt schwer zu ändern war. Roland würde sicher aus allen Wolken fallen und, schlimmer noch, unangenehm berührt sein, wenn sie ihm ihre wahren Gefühle ohne Umschweife zeigen würde.

Seufzend schob sie ein tiefgefrorenes Gericht in den Backofen. Sie hatte nicht einmal mehr Lust zu kochen. Seit Marylou fort war, war es still geworden in ihrem Leben.

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“Sieburg. Versicherungsmathematische Gutachten”, meldete Gabriele sich flüssig am Telefon. Sie hörte einen Augenblick zu, bat auf Französisch um einen Augenblick Geduld, stellte den Ton ab und sagte zu Roland, der ihr gegenüber am Schreibtisch sass: “Der Beauftragte einer französischen Firma. Die interessieren sich für einen deutschen Betrieb und möchten wissen, welche Verpflichtungen sie mit den Angestellten übernehmen. Könnten Sie das berechnen?”

“Selbstverständlich”, sagte Roland. “Wär sogar ein guter Auftrag. Ruft der Knabe aus Frankreich an?”

Gabriele fragte zurück und berichtete: “Er ist in Hamburg und möchte so schnell wie möglich einen Termin haben.”

“Können wir ihn heute Nachmittag einschieben?”

Gabriele warf einen Blick auf den Terminkalender. “Das ginge. Allerdings wird es dann heute Abend etwas später werden.”

“Mir ist es egal”, erwiderte Roland. “Und Ihnen?”

“Mir auch. Sagen wir um halb fünf?”

Pünktlich um halb fünf war Jean-Pierre Combes, wie er sich am Telefon vorgestellt hatte, da. Gabriele hatte selten einen Mann gesehen, der so gut aussah und darüber hinaus so viel Charme hatte. Umwerfend. Unwillkürlich sah sie ihn immer wieder an, während sie übersetzte, und auch er sah oft lächelnd zu ihr herüber.

Nach zwei Stunden zeichnete sich ein Abkommen zwischen den beiden Männern ab, aber plötzlich sah er auf die Uhr, schenkte Gabriele sein strahlendstes Lächeln und schlug vor: “Wie wäre es, wenn wir alle zusammen zu Abend ässen? Das Restaurant meines Hotels ist ausgezeichnet. Sagen wir um acht? Auf meine Kosten, selbstverständlich.”

“Monsieur Combes läd uns zum Abendessen ein”, übersetzte Gabriele und fragte Roland: “Nehmen wir das an?”

“Warum nicht”, gab Roland gut gelaunt zurück. “Sagen Sie ihm doch bitte, dass er morgen Mittag mein Gast ist, falls er dann noch in Hamburg ist.”

Nachdem Jean-Pierre Combes Gabriele die Karte seines Hotels überreicht und sich verabschiedet hatte, meinte Roland händereibend: “Wär schön, wenn wir den Auftrag bekämen. Machen Sie sich bloss hübsch für’s Essen, Gabriele. Franzosen mögen hübsche Frauen!”

Gabriele hatte sich selten so geärgert. Sie war wütend und verletzt zugleich. Im Rekordtempo brauste sie in ihrem kleinen Wagen nach Hause. Soweit war es also gekommen: Sie sollte sich hübsch machen, damit Roland Aufträge bekam. Na, der sollte was erleben!

Marylou hatte ein paar Kleider bei ihr hängen lassen, und Gabriele suchte sich das aufregendste heraus. Einen tief dekolletierten Traum aus roter Seide. Sie wusch und föhnte ihr Haar, liess es weich bis auf die Schultern fallen, und dann schminkte sie sich so, wie Marylou es ihr immer geraten hatte. Roland sollte merken, wie sie aussehen konnte, wenn sie nur wollte!

An Rolands Sprachlosigkeit und dem entzückten Blick des Franzosen merkte sie, dass ihr die Überraschung gelungen war. Zwischen den beiden Männern betrat sie das Restaurant, und sofort richteten sich alle Blicke auf sie. Irgendwie verstand sie jetzt, warum Marylou Auftritte dieser Art über alles liebte.

Jean-Pierre Combes stellte das Menü mit besonderer Aufmerksamkeit zusammen, suchte passende Weine zu jedem Gang aus. Und dann erzählte er von Frankreich, von Paris. Immer wieder sah er Gabriele bewundernd an, machte ihr charmante Komplimente, und die junge Frau genoss es durchaus ein bisschen, auf diese Weise umworben zu werden. Sie bemerkte die Eleganz des Franzosen, die Leichtigkeit seiner Konversation. Und doch, immer wenn sie zu Roland hinüber sah, dessen Gesicht sich mehr und mehr verschloss, war ihr unbehaglich zumute. Jean-Pierre Combes war ein Meister der Lebenskunst, er fesselte seine Zuhörer mit seinen amüsanten Geschichten, und eine Marylou wäre sicher überglücklich gewesen, ihn zum Tischnachbarn zu haben. Aber Gabriele – das merkte sie, je weiter der Abend fortschritt – mochte Roland eben lieber. Mit seinen Vorzügen und auch seinen Fehlern.

Zum Nachtisch liess Jean-Pierre Champagner bringen und hob das Glas, um mit den anderen anzustossen. Gabriele lächelte Roland versöhnlich zu, aber das Lächeln verging ihr, als Roland sein Glas hart auf den Tisch zurückstellte. Er war blass, seine Augen dunkler als gewöhnlich. Leise raunte er ihr zu: “Ich kann gehen, wenn ich störe.”

“Aber Roland”, gab Gabriele ebenso leise zurück, “beteiligen Sie sich doch lieber an der Unterhaltung. Ich übersetze gern, was Sie zu sagen haben. Wie kommen Sie darauf, dass Sie stören?”

“Ich brauche kein Französisch zu können, um zu merken, wie verliebt er in Sie ist”, stiess er heraus.

Sie schüttelte den Kopf. “Welch ein Unsinn. Er ist nicht verliebt in mich. Das ist doch alles gar nicht ernst gemeint!” Und sie konnte es sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: “Franzosen mögen eben hübsche Frauen. Sollte Ihnen das auf einmal nicht mehr recht sein?”

Roland sah sie mit einem schwer zu beschreibenden Ausdruck an und meinte dann: “Ich war ein Narr. Und geschmacklos dazu. Ich bitte Sie, mir zu verzeihen!” Er stiess den Stuhl zurück und verliess mit grossen Schritten das Restaurant.

Gabriele sprang erschrocken auf, um ihm zu folgen, aber Jean-Pierre hielt sie am Arm zurück.

“Bitte, setzen Sie sich wieder”, sagte er halblaut auf Französisch. “Er hat nur gemerkt, dass sie nicht nur eine gute Sekretärin sind, sondern auch eine bezaubernde Frau. Er muss es lernen, sich wieder mit der Liebe und den Frauen auseinanderzusetzen. Marie-Louise hatte Recht.”

“Marie-Louise? Sie kennen meine Schwester Marylou?”

Er lachte verschmitzt: “Sehr gut sogar.” Und es klang aufrichtig und sehr zärtlich, als er hinzufügte: “Wir haben uns vor sechs Wochen in Paris kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich habe nicht an die berühmte grosse Liebe geglaubt, ehe ich Ihre Schwester gesehen habe.” Dem wortgewandten Franzosen fiel es auf einmal schwer, weiterzusprechen. Er sah Gabriele lange an und sagte dann: “Ich möchte Sie um die Hand Ihrer Schwester bitten, Gabriele.”

“Aber … das muss Marylou entscheiden”, stammelte Gabriele. “Sie ist doch mündig.”

“Wir sind uns längst einig”, lächelte Jean-Pierre und schenkte Champagner nach. “Marie-Louise hat mich nur gebeten, vorher etwas in Ordnung zu bringen. Sie haben ihr geschrieben, dass Sie Roland lieben, und Marie-Louise fürchtete, dass er niemals etwas davon merken wird. Wörtlich hat sie gesagt: ‘Wenn wir nicht ein bisschen nachhelfen, wird eine verschrumpelte alte Jungfer aus Gabriele, und dieser Roland geht auch an seinem Glück vorbei.’” Er grinste respektlos und fuhr fort: “Ich stelle fest, dass Ihre Schwester masslos übertrieben hat. Sie werden nie eine verschrumpelte alte Jungfer sein. Sie sehen hinreissend aus, so als femme fatale. Aber wer wird das wissen, wenn Sie sich immer als Sekretärin verkleiden?”

Gabriele musste nun selbst lachen, trotz aller Sorge um Roland. Und dann kam ihr eine böse Ahnung: “Und … dieser Auftrag?”

Jean-Pierre hob nonchalant die Schultern: “Glauben Sie, dass der Auftrag ihn noch interessiert? Wenn ja, vergessen Sie den Mann und suchen sich einen anderen. Meiner Meinung nach hat er Feuer gefangen. Und wie! Wenn Blicke töten könnten, sässe ich jetzt nicht mehr hier. Ich habe nur eine Rolle einstudiert und sogar lange dafür üben müssen. Persönlich bin ich froh, einen weniger trockenen Beruf zu haben. Ich bin Werbefachmann und habe vor kurzem eine eigene Agentur eröffnet. Verzeihen Sie bitte mein Spiel, Gabriele. Wollen wir auf das Glück von vier Menschen anstossen?”

Lächelnd tranken sie sich zu, dann fragte Gabriele nachdenklich: “Erlaubt Marylou Ihnen denn, sie beim Taufnamen zu nennen?”

“Marie-Louise ist ein wunderschöner Name. Eine Kaiserin von Frankreich hiess so. Marie-Louise passt viel besser zu Ihrer Schwester als Marylou.”

“Seit dem Tod unserer Eltern hat niemand sie mehr so nennen dürfen”, sagte Gabriele leise.

“Ich weiss”, antwortete Jean-Pierre einfach.

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“Ich will diesen Franzosen nicht mehr wiedersehen”, ereiferte sich Roland am nächsten Morgen. Erregt ging er im Büro auf und ab.

“Aber Roland, ich denke, der Auftrag wird gut bezahlt”, neckte sie ihn.

“Ist mir schnurzegal”, erwiderte er heftig. Er war tatsächlich eifersüchtig. Musste es ja sein, um bereit zu sein, sich einen lohnenden Auftrag entgehen zu lassen.

Endlich setzte er sich an den Schreibtisch, sah aber immer wieder zu Gabriele hinüber, obwohl sie wieder so aussah wie sonst. Aufgesteckte Haare, frisches, aber ungeschminktes Gesicht.

“Gestern sahen Sie so aus wie Ihre schreckliche Schwester”, sagte er auf einmal und fügte nachdenklich hinzu: “Nur, dass Sie nicht schrecklich sind.”

Ihr Herz klopfte, als sie mutig zurückfragte: “Wie bin ich dann?”

“Bezaubernd schön”, erwiderte er und sah etwas erstaunt aus, wie jemand, der entdeckt, dass längst zerstört geglaubte Regungen und Gefühle wieder erwachen.

“Lassen Sie ihm Zeit”, hatte Jean-Pierre ihr zum Abschied gesagt. “Er muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass er wieder lieben kann.”

So hob sie nur den Kopf und lächelte ihm zu, und er lächelte zurück und sagte spontan: “Heute arbeiten wir nicht, Gabriele. Es ist wunderschönes Wetter draussen. Wir gehen spazieren. Und dann schön miteinander essen. Und dann … ach, wir tun irgend etwas ganz Verrücktes.”

Während er um den Schreibtisch herum auf sie zukam, dachte sie flüchtig, dass sie ihm irgendwann einmal beichten musste, dass nun auch Jean-Pierre bald zur Familie gehören würde. Aber das hatte wohl noch etwas Zeit, und er würde vielleicht von selbst merken, dass Marylou und Jean-Pierre nicht so schrecklich waren, wie er glaubte – und dass endlich auch seine eigene phantasievolle Seite wieder zum Ausdruck kam. Und dann waren all diese Gedanken wie fortgewischt, weil er sich zu ihr hinunterbeugte und sie endlich küsste …

ENDE


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