Kirchenaustritte – warum wohl?

Ein Artikel auf evangelisch.de beschäftigt sich mit der rasanten Zunahme von Kirchenaustritten:
„Eine Umfrage zeigt: Immer mehr Menschen in Deutschland denken darüber nach, aus den Kirchen auszutreten. Ist das der Untergang der Evangelischen Kirche? Natürlich nicht, sagt Oberkirchrat Thorsten Latzel. ‘So lange es diese Erde gibt, wird es eine Kirche Jesu Christi geben.’ … „

Universitätsprofessor Dr. Uwe Lehnert verfasste dazu den folgenden Kommentar:

Ich meine, dass die Autorin in ihrer Analyse der Gründe für die kontinuierliche Abnahme an Kirchenmitgliedern die wahren Motive gerade junger Menschen wohl ganz bewusst ausgespart hat. Es ist eine solide Bildung, zu der vor allem grundlegende naturwissenschaftliche Einsichten gehören und die ihr zugrunde liegende rationale und systematische Denkweise(!), die es einem modernen Menschen sehr schwer machen, die Grundlagen der christlichen Lehre, wie sie uns im Religions- und Konfirmandenunterricht vermittelt wurden, noch zu akzeptieren: Einen persönlichen(!) väterlichen Gott im Himmel, der Welt und Mensch erschaffen hat, einen Heiligen Geist, einen von einer Jungfrau geborenen Gottessohn, der sich für die Sünden der Menschheit opfert, eine Hölle, eine leibliche Wiederauferstehung. Auch wenn das alles nicht mehr so wörtlich verstanden sein will, bleibt doch ein im Kern mit unserem heutigen Denken und Empfinden nicht kompatibler Glaube zurück.

Die Wissenschaft kann heute die Entstehung der Welt plausibel erklären, lediglich der Anstoß zum Urknall ist noch nicht entschlüsselt. Möglicherweise aber – wie der Physiker Hawking mutmaßt – allein aus sich heraus begründbar. Denn die Vorgänge im Mikrokosmos lassen erkennen, dass unsere Alltagslogik dort nicht mehr gilt, dass es z.B. Vorgänge gibt, die keiner Ursache bedürfen. Das klassische Kausalitätsdenken von Ursache und Wirkung gilt offenbar nicht uneingeschränkt, eine Schöpfung durch einen Gott scheint also nicht unbedingt zwangsläufig erforderlich! Die Menschwerdung kann durch die Evolutionstheorie ebenfalls sehr elegant nachvollzogen werden. Wir sind das vorläufige Endglied einer evolutionären Entwicklungskette, die vor Jahrmilliarden mit einfachsten Urzellen begann. Der Geist ist, wie uns die Hirnforschung zeigen kann, keine selbstständige Wesenheit, er ist an materielle Strukturen gebunden und hat sich ebenfalls aus primitivsten Anfängen evolutionär herausgebildet. Die Vorstellung von der daseinsschöpfenden Kraft des Geistes (Johannes Evangelium Kap. 1, Vers 1-3) dürfte wohl eher eine literarische Erfindung sein.

Der Theologe und Religionssoziologe von der Humboldt Universität Berlin Prof. Klaus-Peter Jörns hat eine Umfrage unter Berliner und Brandenburger evangelischen Pfarrern und Theologiestudenten ausgewertet. Danach glauben nur noch knapp 90 % an einen persönlichen Gott, nur noch 76 % an ein Weiterleben nach dem Tod, erkennen nur noch ca. 66 % Jesus Christus das Gottesprädikat zu, nur ca. 43 % glauben noch an die Allmacht, nur noch ca. 35 % halten die Heilige Schrift für heilig, nur noch ca. 35 % rechnen mit einem Jüngsten Gericht, ca. 13 % glauben noch an die Existenz der Hölle und nur ca. 13 % glauben noch an die Erbsünde (einem zentralen biblisch-theologischen Glaubenselement!). Wenn also selbst die amtlichen Verkünder der Lehre bereits wesentliche Elemente der christlichen Lehre nicht mehr für wahr halten, dann wird verständlich, dass zwar langsam, aber wohl unaufhaltsam der Glaube „verdunstet“. (Mehr dazu z.B. in Uwe Lehnert: Warum ich kein Christ sein will.)

Denn was für eine Glaubenskonstruktion! Hier dürften die Gründe für den Glaubensschwund liegen: Eine Erbsünde, die jedem Gerechtigkeitsempfinden zuwider läuft, verbunden mit der Behauptung der da¬durch bedingten absoluten Sündigkeit des Menschen. Es heißt, dass er seiner Verderbtheit wegen der Erlösung durch ein schaurig-blutiges Menschenopfer bedürfte. Nur der unbedingte Glaube an diese Botschaft führt ins Paradies und zu ewigem Leben, andernfalls droht entsetzliche Apokalypse und ewige Höllenpein. Der Auftrag, die Nachricht von dem versprochenen Heil in alle Welt zu tragen, wurde mit gnadenloser Unduldsamkeit ausgeführt und verlangte der übrigen Mensch¬heit millionenfach Opfer ab. Man nenne mir einen heute lebenden Philosophen oder Naturwissenschaftler von Rang, der sich zu einer solchen Lehre explizit bekennt. Ich kenne keinen.

Was bleibt – und da gebe ich einem Gläubigen Recht – ist ein Bedürfnis nach Orientierung und Trost in schwerer Zeit. Die Kirche hatte zwei Jahrtausende Zeit, hierfür Formen zu entwickeln, die den Menschen, die dafür empfänglich sind, tatsächlich helfen. Eine gottfreie humanistische Alternative tut sich damit heute noch schwer. Sie hatte bisher wegen der allgegenwärtigen geistigen und politischen Dominanz der Kirchen aber auch wenig Gelegenheiten und Möglichkeiten, um Modelle der Orientierung, der Sinnsuche und des Trostes in existenzieller Not in gleichwertiger Form zu entfalten und anbieten zu können.


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