Kindheiten

KindheitenKindheiten können wohl behütet ablaufen. Da sitzt der kleine Racker dann vorm weihnachtlich geschmückten Tannebaum, im trautem Beisammensein seiner Eltern und sonstigen Familienmitgliedern. Ganz sentimental anrührend werden besinnliche Lieder angestimmt, bevor das große Festbuffet aufgetischt wird. Es klingt wie ein Traum, vielleicht gar wie ein Film. Nur zu selten finden sich solche Szenerien auf Zelluloid – oder digitalen Zaubereien – wieder. Ist das Leben nicht schön? könnte als Beispiel hierzu herangezogen werden. Viel öfter werden Kinder ungeniert in Welten gestoßen, in denen sie eigentlich noch nicht verkehren sollten. Kevin bleibt allein zu Haus, die Little Miss Sunshine wird vom Opa zur Stripperin erzogen und Alice und Dorothy gehen auf abenteuerliche Reisen in fernen Welten.

Um diese Grenzgänger geht es Thomas Koebner, der den Essay-Sammelband Kindheiten herausgebracht hat. In diesem siebten Band der Studien zu Natur, Kultur und Film der edition text+kritik versammeln sich Autoren um den Gedanken von Kindern, die um ihre verspielte und heitere Kindheit betrogen werden, Kinder die vorzeitig in die Welt der Erwachsenen überwechseln müssen – oder sich aus eben dieser Umgebung in Fantasiewelten flüchten, um sich selbst die eigene Kindheit zu bewahren.

Gar nicht so weit hergeholt, auch wenn sich in Kindheiten meistens alles um die Filmwelten dreht, so fasst doch zumindest Stefan Hradil eingangs zusammen, dass sich das Verhältnis von Kind und Erwachsenem inzwischen verändert hat. Es geht weg von einer Emotionalisierung, so schreibt er, hin zu einer Ökonomisierung – aus der Erziehung wird die Beziehung zueinander, es werden keine Befehle mehr von den Eltern ausgesprochen, es werden Verhandlungen zwischen scheinbar gleichberechtigten Parteien geführt. Kinder werden damit bereits sehr früh zur Eigenständigkeit getrimmt, viel eher ernst genommen. Das Warum wird mit den Medien beantwortet. Wo Kinder immer mehr mit Konsum und Werbung umgeben sind, da ist kompetenter Umgang gefragt, Autonomie, Individualisierung . Das wissende Kind soll die auf es eindringenden Einflüsse – und sie kommen aus zahlreichen Richtungen – zu nehmen verstehen.

Die Erwachsenen wiederum sehnen sich oftmals nach kindlicher Naivität und Unschuld – nur eben nicht bei den Kindern, sondern bei sich selbst. Hiervon weiß Eva Hiller in ihrem Text Kleine Menschen und zu groß geratene Kinder zu berichten. Kinder streben viel zu schnell nach der Erwachsenenwelt, sie wollen rauchen, cool sein, wie Erwachsene selbstbestimmt handeln dürfen (und wenn sie es dürfen, suchen sie dann den Rat der Älteren). In der Erwachsenenwelt wiederum, dass führt das System ad absurdum, gilt wiederum das Jugendliche als cool. Hier möchte der coole Lehrer mehr Kumpel als Erzieher sein, mit seiner lässigen Kapuze und einem hippen T-Shirt.

Bettina Kümmerling-Meibauer macht aus den unschuldigen kleinen Wesen wahre Monster: Ich bin böse. Ich kann’s nicht verhindern. Das trifft auf zahlreiche Figuren aus Film und Literatur zu. Hier manifestieren sich Zerstörungs- und Aggressionspotentiale, schamlos von den lieben Kleinen ausgenutzt, die doch ach so harmlos aussehen. Ihr überaus brutales Handeln wirkt um so verstörender, da oftmals keine psychologischen oder gesellschaftskritischen Verhaltenserklärungen mitgeliefert werden. Dieses Bild wird von Anette Kaufmann (Ein Kind zu töten…Kleine Phänomenologie kindlicher Monster im Film) noch weitergesponnen. Hier tritt das Kind nun wirklich als Repräsentant des Bösen auf. Der Filmemacher nutzt das Kindchenschema aus, nach dem wir Babys ebenso wie Jungtiere einfach niedlich finden müssen. Das bereitet im Horrorfilm der Erwachsenenwelt Probleme, denn wenn diese Kinder sich als Böse manifestieren, wer will dann den Schritt wagen und das Kind töten? Die Niedlichkeit beschert den Kindern die Macht der Manipulation.

Kinder sind den Erwachsenen sowieso immer überlegen. Sie dürfen überlisten, überragen, überraschen. Sie dürfen Wahrheiten aussprechen, die ein Erwachsener nicht erkennt oder sich nicht traut zur Sprache zu bringen. Kinder im Film durchschauen Dinge viel schneller, lassen aber stets die Erwachsenen in dem Glauben, die Oberhand zu haben. Es ist ein wenig Identifikation für das kindliche Publikum, aber auch ein wenig Hoffnung für die Erwachsenen, das die nächste Generation alles gut im Griff hat.

Doch nicht alle haben ihr Leben gut im Griff, manche befinden sich Im Labyrinth der Kindheit und begeben sich in die von Andreas Friedrich beschriebenen Portale und Spiegelwelten (im Fantasyfilm). Hier geht es um Tagträumer und Rebellen, um Draufgänger die in Welten reisen, die für die Erwachsenen nicht zu erreichen sind. An solchen Orten stellen sie sich Gefahren, die zumeist die Unsicherheiten des Erwachsenwerdens symbolisieren sollen. Man denke an Alice, die ins Wunderland reist und dort sogleich den Weg nach Hause sucht, aber auch an Chihiros sehr ähnliche Reise ins Zauberland, an Der Zauberer von Oz oder Pan’s Labyrinth, die düstere Gothik-Variante eines Märchens. All die Protagonistinnen werden von der Neugier der Grenzüberschreitung angetrieben, steigen in ein Kaninchenloch, gehen durch einen Tunnel, wirbeln das Leben mit einem Tornado durcheinander oder klettern durch zu klein geratene Türen, durch die ein Erwachsener gar nicht erst hindurch passen würde.

Kurzum: die Essays in Kindheiten sind stark und facettenreich, einfach und gut zu lesen, führen spannend in die unterschiedlichsten Kindheitswelten ein. Vom Allgemeinen über filmspezifische Behandlungen führt die Publikation vorbildlich vor – jeder Autor hat passende Beispiele parat – wie unterschiedlich das Kind und seine Welt funktionieren kann.

Projektionen, Studien zu Natur, Kultur und Film (Band 7): Kindheiten bei edition text+kritik


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