Keine Veränderung ohne echten Stakeholder

imageDas größte Problem von Unternehmen heute scheint mir ein Mangel an Stakeholdern. An echten Stakeholdern. Denn ohne echte Stakeholder bleiben Veränderungen stecken.

Für mich ist ein Stakeholder zunächst einmal jemand, der etwas haben will. So sieht Wikipedia das auch - nur viel ausführlicher.

Sie werden jetzt denken, “Daran mangelt es doch aber gar nicht. Alle möglichen Leute und Gruppen wollen ständig etwas haben.” Da haben sie natürlich recht. Deshalb braucht es aus meiner Sicht auch noch etwas mehr, um Stakeholder zu sein. Ohne Zusatz ist Stakeholder nämlich nichts anderes als ein Management-Ausdruck für “Dreijähriger”.

Und wahrlich, an Dreijährigen, die sich lauthals etwas wünschen und dann erwarten, dass das auch ASAP von einem Weihnachtsmann geliefert wird, weil sie sich sonst trotzig auf den Boden werfen oder mit dem großen Bruder drohen, mangelt es in Organisationen nicht.

Ein echter Stakeholder ist aber anders. Der will nicht nur haben, der sitzt nicht einfach auf einem Königsthron. Nein, der setzt sich dafür ein, indem er immer wieder Zug auf den Lieferanten und andere Stakeholder ausübt.

Ein echter Stakeholder versteht zweierlei:

  1. Er ist nicht allein mit seinen Wünschen an den Lieferanten. Bei allem Interesse, sie erfüllt zu bekommen, ist er deshalb um Balance und Ausgleich im Feld der Zugspannungskräfte der vielen Stakeholder bemüht.
  2. Wünsche werden nicht einfach erfüllt, nur weil man sie äußert. Es braucht vielmehr kontinuierliche Präsenz beim Lieferanten, um immer wieder deutlich zu machen, “was wichtig ist”.

imageFür mich ist ein prototypischer echter Stakeholder der Bauherr eines Familienhäuschens. Der hat einen Wunsch geäußert und Lieferanten beauftragt (Bauunternehmer, Handwerker). Aber der lehnt sich danach nicht zurück. Ich kenne keinen Bauherren, der nach Auftragserteilung auf eine ausgedehnte Reise gegangen wäre, um im Anschluss ein schlüsselfertiges Haus zu beziehen. Vielmehr ist der Bauherr ständig auf der Baustelle. Mal mit Zuckerbrot, mal mit Peitsche. Jeden Tag erscheint er und macht den Ausführenden klar, was er will. Insbesondere weist er auf Mängel hin.

In der Softwareentwicklung sehe ich ein solches Verhalten jedoch eher nicht. Dort gibt es eine Menge Stakeholder - aber keine echten. Es tut mir leid, sagen zu müssen, aber meist sehe ich nur einen Kindergarten. Eine Menge Leute laufen aufgeregt umeinander und wünschen sich Berge an Veränderungen… nur keiner hat Zeit, an diesen Veränderungen zu ziehen. Regelmäßig “verreisen” sie nach Auftragserteilung.

Stakeholder ziehen nicht, sondern sie drücken. Sie drücken Teams Aufgaben rein und erwarten, dass die wie von Zauberhand einfach richtig erledigt werden.

So funktioniert es aber nicht. Wie jeder Häuslebauer weiß. Ein Grund, der auf der Hand liegt, sind Mängel in der Wunschformulierung. Ein anderer sind die vielfältigen Kräfte, die auf Lieferanten einwirken. Die werden ja nicht nur von einem Stakeholder gepresst, sondern von vielen. Da entscheiden sie dann immer wieder neu, wie sie am besten ihren Arsch retten.

Dazu kommt, dass oft die Fähigkeiten zur Wunscherfüllung nicht so ausgeprägt sind, wie ein Stakeholder es sich das wünscht. Und schließlich fragen sich Lieferanten sehr schnell “Wozu der ganze Mist? Wozu soviel Stress?”, wenn der Stakeholder nicht zieht. Das ist dann die Sinnfrage.

Und wie sieht der ominöse Zug aus? Wodurch unterscheidet es sich vom Druck?

  1. Erstes Merkmal von Zug ist die wiederkehrende Frage, wie und wo ein Merkmal der beauftragten Lieferung überprüft werden kann. Selbstverständlich nimmt der echte Stakeholder dann die Überprüfung selbst vor. Das ist ein Kennzeichnen jedes nicht-industriellen Herstellungsprozesses, würde ich sagen. Was aus einer Fabrik kommt, wurde dort bereits überprüft; darauf verlasse ich mich als Konsument. Was aber nicht aus einer Fabrik kommt - ein Haus oder eine Software - kann und muss ich als Auftraggeber selbst überprüfen. Ein Stakeholder ist also Abnehmer. Das meine ich genau so: Der Stakeholder überprüft. Er lässt sich nichts präsentieren, sondern begeht und nutzt selbst (oder beauftragt dazu eine vom Lieferanten unabhängige Instanz) [1].
  2. Zweites Merkmal von Zug ist die Präsenz des Stakeholders. Er begibt sich immer wieder zum Lieferanten bzw. Herstellungsort. Er ist vor Ort, um Fragen zum Fortgang zu stellen oder durch seine Anwesenheit es leichter zu machen, gefragt zu werden. Eine “Politik der offenen Tür” ist zuwenig. “Ihr könnt jederzeit kommen, um zu fragen.” ist ein wichtiges Angebot. Weniger darf nicht sein. Nur reicht es eben nicht. Immer wieder gibt es nämlich Barrieren, die verhindern, es in genügendem Maße zu nutzen.
  3. Schließlich halte ich es für wichtig, dass ein Stakeholder mithilft. Natürlich soll er sich seinen Wunsch nicht selbst erfüllen. Aber er soll helfen, Hindernisse für den Lieferanten aus dem Weg zu räumen [2]. Das ist nicht nur produktiv mit Blick auf die Wunscherfüllung, sondern auch motivationsstiftend beim Lieferanten. Der sieht sich dann als Partner und nicht nur als austauschbarer Leibeigener.
  4. Dass ein Stakeholder auch eine gewisse Macht braucht, muss ich nicht weiter betonen, oder? Ein echter Stakeholder kann selbst über Ressourcen entscheiden, um seinen Wunsch erfüllt zu bekommen. Er muss niemanden fragen.

Die Formulierung eines Wunsches durch einen Stakeholder ist für mich weniger wichtig als die Abnahme. Natürlich muss ein Wunsch erst formuliert werden, bevor ein Lieferant sich aufmachen kann, ihn zu erfüllen. Doch gerade in der Softwareentwicklung ist diese Formulierung notorisch mangelhaft. Sie ist kaum mehr als ein frommer Wunsch. Umso mehr, je weiter der Liefertermin in der Zukunft liegt.

Deshalb ist die Gewichtung von Beauftragung/Planung und Abnahme z.B. in verbreiteter Scrum-Praxis aus meiner Sicht falsch. Es wird zu viel Gewicht auf das Sprint Planning gelegt und zu wenig auf den Sprint Review (oder allgemeiner: auf die Abnahme).

Stakeholder gibt es viele. Aber echte Stakeholder… die sind rar.

Mindestens deshalb hapert es auch allerorten bei der Erfüllung von Wünschen. Das können Softwarefunktionen sein, das können Qualitäten von Software sein, das kann die Wandelbarkeit von Software sein, das kann die Einführung eines Tools sein, das kann die Einführung eines Prozesses sein, das kann die Umstellung auf Papierlosigkeit sein usw. usf.

Die Regel ist, dass gewünscht wird - und dann glaubt man, dass die Erfüllung schon eintreten wird. Manchmal werden markige Sprüche im Gang aufgehängt (“Qualität ist nicht verhandelbar!”), doch wer daran zieht, bleibt im Dunkeln. Und ob überhaupt die Fähigkeiten existieren, die Wünsche zu erfüllen, ist auch nicht klar.

Befehle, Maximen, Regelwerke, Incentives, Strafen… es gibt viele Wege, Druck auszuüben. Die werden alle angewandt. Und man wundert sich, dass die gewünschten Effekte nur schwer erreicht werden.

Dabei ginge es viel leichter, glaube ich. Zug statt Druck lautet die Zauberformel. Die braucht allerdings etwas, das viele wohl nur schwer aufbringen können oder wollen: persönliches Engagement.

Denn um an Ergebnissen zu ziehen, muss man ja da sein. Man muss durch Präsenz und Nachfragen und Erklären immer wieder deutlich machen, dass man die Ergebisse wirklich, wirklich will.

Insofern suche ich bei der Problemanalyse in Teams und Organisation zuerst nach echten Stakeholdern. Solange es die nicht gibt, liegt ein Wurzelproblem vor.

Und umgekehrt muss für jedes Veränderungsziel ein echter Stakeholder benannt sein. Wo das schwer fällt, ist schon wieder ein Wurzelproblem aufgedeckt [3].

Echte Stakeholder sind für mich also absolut zentral. Damit getan ist es allerdings nicht. Denn es ist eine Sache, überhaupt erst einmal Zug herzustellen. Doch wie reagiert ein Lieferant darauf? Wie kann er darauf reagieren? Beispiel Clean Code Development. Wer dafür einen echten Stakeholder einsetzt, ist schon einen Schritt weiter als andere. Die Entwickler müssen nur auch in der Lage sein, Clean Code zu produzieren. Der Wille allein genügt hier leider nicht. Woher kommt aber das Wissen, die Fähigkeit?

Einem echten Stakeholder ist deshalb oft zumindest in der Anfangsphase ein Lehrer beizuordnen. Der sorgt dafür, dass Lieferanten in die Lage versetzt werden, dem Zug des Stakeholders zu entsprechen. Mal kann der Lehrer im Hause sitzen, mal findet er sich in einem Seminar, mal braucht es einen Coach über längere Zeit.

Veränderung braucht insofern nicht nur Zug, sondern auch Befähigung. Wir müssen aufhören, daran zu glauben, dass Veränderungen einfach so “auf Befehl” erreicht werden. Umso weniger, je “weicher” sie sind, d.h. je mehr sie mit Gewohnheiten, Glaubenssätzen, Kultur zu tun haben. Ebenso, wo Wünsche unscharf sind oder Risiken hoch. Dann braucht es auch Zug im obigen Sinne und Lernschleifen.

Endnoten

[1] Insofern sind für mich die meisten Scrum Sprint Reviews eine Farce. Da präsentieren Entwickler und der Stakeholder ProductOwner lässt sich entertainen. Das ist für mich kein Zug.

[2] Die Konkrete Hilfestellung kann ein Stakeholder natürlich delegieren. Aber sofern Hindernisse außerhalb des Lieferanten liegen, ist es genauso die Verantwortung des Stakeholders, an ihrer Beseitigung zu arbeiten wie die des Lieferanten. Es geht ja um ein Gesamtergebnis; Stakeholder und Lieferant sind in Bezug darauf ein Team. Wunschkonzert und Ponyhof sind woanders.

[3] Das ist übrigens ein sehr häufiges Wurzelproblem. Denn heute sind ja alle schon mit ihrem Tagesgeschäft voll ausgelastet. Wie soll man denn da noch die zusätzliche Rolle eines echten Stakeholders einnehmen können?

Wenn Veränderungen es schwer haben in Organisationen, dann ist das also kein Wunder. Man stellt sich jeden Tag wieder selbst ein Bein, indem man versucht, Menschen voll auszulasten mit dem Tagesgeschäft. Das mag heute effizient sein - aber auf längere Sicht ist es kontraproduktiv, weil damit Kapazität für notwendige Veränderungen fehlt.


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