Sophie lernt in einem Berghotel den sympathischen Martin kennen. Als sie ihm in der Bar anvertraut, dass sie Geburtstag hat, entwickelt er ungeahnte Aktivitäten …
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Als Sophie die gemütliche Bar des kleinen Berghotels betrat, spürte sie einen Moment lang Panik. Sie war noch nie allein an einem solchen Ort gewesen. Aber einmal musste sie ja anfangen. Sie holte tief Luft, warf einen Blick in die Runde und steuerte zielstrebig die Theke an. Dort erklomm sie den letzten freien Hocker.
“Einen Kir Royal, bitte”, liess sie den Keeper wissen.
“Für mich auch”, sagte jemand neben ihr.
Sophie blickte zur Seite - und direkt in die Augen eines sympathisch aussehenden Mannes, der ihr irgendwie bekannt vorkam.
“Wir sind uns heute schon mehrere Male begegnet”, lächelte er ihr zu. “Am Skilift und auch auf den Hängen. Sie laufen phantastisch Ski.”
“Danke”, erwiderte sie zurückhaltend.
“Mein Name ist Keppler. Martin Keppler.”
“Sophie Bunge”, stellte sie sich etwas überrumpelt ebenfalls vor.
Der Aperitif stand vor ihnen. Martin hob sein Glas und meinte nachdenklich: “Was mir manchmal wirklich fehlt, ist ein gutes Gespräch, wissen Sie …”
“Haben Sie denn niemanden zum Reden?”
“Doch, schon. Aber ohne ein wirkliches Gegenüber. Meine Freundin Ute arbeitet seit einem Jahr in Amerika. Vor zwei Jahren lernten wir uns kennen, haben es aber nie geschafft, zusammenzuleben. Jetzt wollte ich sie eigentlich besuchen, aber sie hat mir gesagt, dass sie im Augenblick zu viel zu tun hätte. Also bin ich zum Skilaufen hierher gefahren.”
“Mit meinem Freund Jan ist es auch nicht einfach”, gestand Sophie. “Wir haben zwei Jahre in München zusammengelebt, aber dann hat man ihm eine interessante Stelle in Frankfurt angeboten. Ich bin in München geblieben, weil ich dort meine Werkstatt als Möbelrestauratorin habe. Eigentlich wollten wir zusammen hier in Oberammergau Urlaub machen, aber im letzten Augenblick musste er zu einer wissenschaftlichen Tagung nach Tokio.”
Martin Keppler hatte aufmerksam zugehört. “Das tut mir leid für Sie beide”,
bedauerte er. “Ich lebe übrigens auch in München. Bin Heilpraktiker.”
Sophie lächelte ihm höflich zu, dann seufzte sie: “Heute ist auch noch mein Geburtstag.”
“Ach ja? Dann gratuliere ich herzlich. Wie alt sind Sie denn geworden? Oder ist die Frage zu indiskret?”
“Nein, überhaupt nicht. Sechsundzwanzig.”
“Ich bin dreissig.”
Als ihre Gläser leer waren, lud Martin sie zu einer Fete ein: “Es ist ein Jubiläum. Mein Freund Lutz, der ein ausgezeichneter Koch ist, hat vor einem Jahr ein Restaurant hier eröffnet. Inzwischen läuft es prima.”
_ _ _
Beim Aufwachen am nächsten Morgen wusste Sophie zuerst nicht, wo sie sich befand. Nur eins war sicher: Sie hatte höllische Kopfschmerzen. Wieviel hatte sie überhaupt getrunken? Und warum, um Himmels Willen? Nur um zu vergessen, dass Jan nicht an ihren Geburtstag gedacht hatte? Sie müsste doch inzwischen daran gewöhnt sein. Jan war immer so zerstreut. Und sie hätte daran denken sollen, dass sie so viel Alkohol nicht vertrug.
Bruchweise kam die Erinnerung zurück. An ein zünftiges Käsefondue, viele Gläser Kirschwasser und eine fröhliche Tafelrunde, die mit der Zeit immer grösser geworden war. Danach hatte es noch eine fröhliche Schneeballschlacht gegeben. An mehr konnte Sophie sich beim besten Willen nicht erinnern.
Ihre Kleidungsstücke lagen ordentlich zusammengefaltet über der Stuhllehne. Beunruhigend - denn sie selbst knallte ihre Wäsche meistens achtlos in die Ecke. Sophie seufzte und griff sich an den dröhnenden Kopf. Dann klopfte es an die Zimmertür.
“Herein”, stöhnte sie.
Es war das Zimmermädchen mit einem wunderschönen, in Cellophanfolie eingeschlagenen Rosenstrauss und einer Vase in der Hand: “Guten Morgen. Der ist für Sie abgeliefert worden.”
“Oh, vielen Dank. Bitte, stellen Sie ihn dort auf den Tisch. Wie spät ist es denn überhaupt?”
“Kurz nach zehn.”
Erschrocken setzte Sophie sich auf. Was sie jetzt bräuchte, waren eine Tasse Kaffee und zwei Kopfschmerztabletten. Aber würde sie so spät überhaupt noch Frühstück bekommen?
_ _ _
Das Zimmermädchen war gegangen. Sophie stand auf und wankte ins Bad. Im Vorübergehen betrachtete sie gerührt die Rosen. Jan hatte also doch an ihren Geburtstag gedacht! Mit einem Tag Verspätung zwar, aber das lag sicher an der Zeitverschiebung. Sie duschte ausgiebig, rubbelte sich trocken und verkroch sich wieder mit ihrem Bademantel ins Bett. Immerhin war ihr Kopf nicht mehr ganz so schwer. Plötzlich klopfte es erneut.
“Herein”, rief sie.
Es war Martin mit einem Tablett. Vorsichtig stellte er den Rosenstrauss darauf und trat an ihr Bett: “Guten Morgen, Sophie. Ich dachte, du könntest ein gutes Katerfrühstück brauchen. Ich hab’s mir in der Küche geben lassen. Es ist alles da: Orangensaft, Kaffee und saure Gurken.” Sogar an Kopfschmerztabletten hatte er gedacht.
“Sie sind ein Schatz”, bedankte sie sich. “Haben Sie selbst denn schon gefrühstückt?”
“Schon vor einer Stunde”, erklärte er vergnügt.
Plötzlich kam ihr zu Bewusstsein, dass er sie duzte. Unsicher fragte sie: “Martin, haben wir womöglich gestern Brüderschaft getrunken?”
“So kann man es nennen. Du hast mich geküsst.”
“Ich habe was?” rief sie entsetzt. Beunruhigt musterte sie ihn: “Und dann? Wie bin ich überhaupt ins Bett gekommen?”
“Ich hab dir geholfen - aber keine Bange, es ist nichts passiert.” Er hatte sie die Treppe hinaufgetragen, ihr beim Ausziehen geholfen, ihre Schlafanzugjacke zugeknöpft und sie sorgsam zugedeckt. Sie hatte seine Hand nicht losgelassen, und so hatte er eine Weile an ihrem Bett gesessen, bis sie eingeschlafen war.
Sophie betrachtete die Vase auf dem Tablett. “Sind die Rosen nicht wunderschön? Von Jan.”
Etwas verlegen antwortete er: “Sophie, die Blumen sind von mir. Hast du die Karte nicht gelesen? Ich dachte, wir drehen die Zeit einfach ein bisschen zurück und feiern heute deinen Geburtstag.”
“Rote Rosen? Von dir?” staunte sie. “Dann möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Aber du darfst nicht glauben … Es tut mir leid, dass ich dich geküsst habe. Ich kann dir nur sagen, dass ich nicht die geringste Erinnerung daran habe.”
“Das ist schade”, meinte er. “Es war nämlich ein wunderbarer Kuss.”
Sie wurde rot. “Es ist mir sehr unangenehm. Wirklich. Wir kennen uns doch kaum, ausserdem sind wir beide gebunden.”
“Ich nicht mehr. Ich habe meine Freundin angerufen und ihr vorgeschlagen, unsere Beziehung zu beenden. Sie war sofort einverstanden. Offenbar hat sie einen Amerikaner kennengelernt.”
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Er war nicht die Spur traurig. Es wunderte ihn jetzt sogar, dass er die Beziehung so lange aufrechterhalten hatte. Er hätte Sophie so gern gesagt, dass er sich in sie verliebt hatte: in ihr Lächeln, ihre Augen, ihr Muttermal über dem rechten Mundwinkel. Und dass er ihr bis ans Ende der Welt folgen würde, um sie bloss nicht wieder zu verlieren. Wenn sie ihn nur wollte.
Martin goss ihr eine Tasse Kaffee ein und reichte sie ihr. “Trink, damit du wieder auf die Beine kommst. Unten wartet nämlich ein Schlitten auf uns.”
“Ein Schlitten?”
Er schmunzelte: “Ich hab dir doch gessagt, dass wir heute deinen Geburtstag feiern, nicht wahr?”
“Und wohin soll es gehen?”
“Das ist eine Überraschung. Aber zuerst wird ordentlich gefrühstückt!”
Eine Stunde später glitten Sophie und Martin in Decken gehüllt durch die verzauberte Winterlandschaft, vorbei an verschneiten Wäldern und zugefrorenen Seen. Nur das Glockengeläut und das Schnauben des kräftigen Braunen war zu hören.
Die erste Etappe war Schloss Linderhof. Nach der Besichtigung des Jagdschlosses Ludwig II. und einem leichten Imbiss ging es zurück bis nach Ettal, wo der Schlitten vor der im Rokokostil erbauten Benediktinerabtei hielt. Sie bewunderten hingerissen die prunkvolle Abtei, bis Martin auf die Uhr sah und verschmitzt erklärte: “Darf ich zu Tisch bitten?”
Im Landgasthaus nebenan nahm ein Kellner ihnen die Mäntel ab, führte sie an einen reservierten Tisch und legte ihnen die erlesene Speisekarte vor.
Entspannt lehnte Sophie sich zurück und betrachtete Martin, der sorgfältig das Menü zusammenstellte. Ihr Blick glitt über sein gutgeschnittenes Gesicht. Schon seit langem hatte sie sich nicht mehr so glücklich und geborgen gefühlt. Das lag zweifellos an Martins Gegenwart. Dann fielen ihr der Kutscher und das Pferd ein. Ob sie auch verpflegt wurden?
“Bestimmt”, versicherte Martin, “sie sind nämlich nach Hause gefahren.”
“Und wie kommen wir wieder zurück?”
Er grinste schelmisch. “Abwarten. Vertrau mir.”
Das Erstaunlichste war, dass sie ihm tatsächlich vertraute. Sie empfand es als wunderschön, sich von ihm verwöhnen und umsorgen zu lassen.
Als sie das Gasthaus verliessen, führte Martin sie zu einem Wagen mit Münchner Nummer, den inzwischen eine Schneehaube zierte. Er öffnete die Tür für Sophie, ging um den Wagen herum, glitt hinter das Steuer und liess den Motor an.
“Mein Freund Lutz hat ihn hierhergebracht und ist mit dem Schlitten zurückgefahren”, erklärte Martin. “Er hat es mir netterweise angeboten, weil heute sein Restaurant geschlossen ist.”
_ _ _
“Ich habe nie einen schöneren Geburtstag gefeiert. Danke, Martin”, sagte sie gerührt, als sie vor ihrer Zimmertür standen. Sogar von ihrem Kater spürte sie längst nichts mehr.
“Schlaf gut. Vielleicht sehen wir uns ja morgen?” Er lächelte und wollte gehen - obwohl es ihm schwer fiel, sie nicht in seine Arme zu reissen.
Sophie machte keine Anstalten, ins Zimmer zu treten. “Ich werde Jan anrufen, um ihm zu sagen, dass es besser ist, wenn wir uns trennen”, sagte sie leise. “Wir waren uns nie wirklich nahe. Für ihn zählt nur die Arbeit. Ich dachte, ich könnte damit leben - aber jetzt weiss ich, dass das nicht stimmt.”
Ihr war auch etwas anderes klar geworden: Wenn sie Jan nicht bis nach Frankfurt gefolgt war, dann nur, weil es keine wirkliche Liebe zwischen ihnen gewesen war. Denn die war etwas anderes. Tief in ihrem Inneren schien sie es immer gespürt zu haben.
Jetzt war Martin es, der sie küsste - eine kleine Ewigkeit lang. Als sie sich voneinander lösten, klopfte Sophies Herz zum Zerspringen. “Ich wusste gar nicht, dass ein Kuss so schön sein kann”, hauchte sie atemlos.
“Ich weiss es schon, seitdem du …” Er konnte den Satz nicht beenden, weil Sophie ihm den Mund mit einem Kuss verschloss und ihn in ihr Zimmer zog …
ENDE
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Als Sophie die gemütliche Bar des kleinen Berghotels betrat, spürte sie einen Moment lang Panik. Sie war noch nie allein an einem solchen Ort gewesen. Aber einmal musste sie ja anfangen. Sie holte tief Luft, warf einen Blick in die Runde und steuerte zielstrebig die Theke an. Dort erklomm sie den letzten freien Hocker.
“Einen Kir Royal, bitte”, liess sie den Keeper wissen.
“Für mich auch”, sagte jemand neben ihr.
Sophie blickte zur Seite - und direkt in die Augen eines sympathisch aussehenden Mannes, der ihr irgendwie bekannt vorkam.
“Wir sind uns heute schon mehrere Male begegnet”, lächelte er ihr zu. “Am Skilift und auch auf den Hängen. Sie laufen phantastisch Ski.”
“Danke”, erwiderte sie zurückhaltend.
“Mein Name ist Keppler. Martin Keppler.”
“Sophie Bunge”, stellte sie sich etwas überrumpelt ebenfalls vor.
Der Aperitif stand vor ihnen. Martin hob sein Glas und meinte nachdenklich: “Was mir manchmal wirklich fehlt, ist ein gutes Gespräch, wissen Sie …”
“Haben Sie denn niemanden zum Reden?”
“Doch, schon. Aber ohne ein wirkliches Gegenüber. Meine Freundin Ute arbeitet seit einem Jahr in Amerika. Vor zwei Jahren lernten wir uns kennen, haben es aber nie geschafft, zusammenzuleben. Jetzt wollte ich sie eigentlich besuchen, aber sie hat mir gesagt, dass sie im Augenblick zu viel zu tun hätte. Also bin ich zum Skilaufen hierher gefahren.”
“Mit meinem Freund Jan ist es auch nicht einfach”, gestand Sophie. “Wir haben zwei Jahre in München zusammengelebt, aber dann hat man ihm eine interessante Stelle in Frankfurt angeboten. Ich bin in München geblieben, weil ich dort meine Werkstatt als Möbelrestauratorin habe. Eigentlich wollten wir zusammen hier in Oberammergau Urlaub machen, aber im letzten Augenblick musste er zu einer wissenschaftlichen Tagung nach Tokio.”
Martin Keppler hatte aufmerksam zugehört. “Das tut mir leid für Sie beide”,
bedauerte er. “Ich lebe übrigens auch in München. Bin Heilpraktiker.”
Sophie lächelte ihm höflich zu, dann seufzte sie: “Heute ist auch noch mein Geburtstag.”
“Ach ja? Dann gratuliere ich herzlich. Wie alt sind Sie denn geworden? Oder ist die Frage zu indiskret?”
“Nein, überhaupt nicht. Sechsundzwanzig.”
“Ich bin dreissig.”
Als ihre Gläser leer waren, lud Martin sie zu einer Fete ein: “Es ist ein Jubiläum. Mein Freund Lutz, der ein ausgezeichneter Koch ist, hat vor einem Jahr ein Restaurant hier eröffnet. Inzwischen läuft es prima.”
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Beim Aufwachen am nächsten Morgen wusste Sophie zuerst nicht, wo sie sich befand. Nur eins war sicher: Sie hatte höllische Kopfschmerzen. Wieviel hatte sie überhaupt getrunken? Und warum, um Himmels Willen? Nur um zu vergessen, dass Jan nicht an ihren Geburtstag gedacht hatte? Sie müsste doch inzwischen daran gewöhnt sein. Jan war immer so zerstreut. Und sie hätte daran denken sollen, dass sie so viel Alkohol nicht vertrug.
Bruchweise kam die Erinnerung zurück. An ein zünftiges Käsefondue, viele Gläser Kirschwasser und eine fröhliche Tafelrunde, die mit der Zeit immer grösser geworden war. Danach hatte es noch eine fröhliche Schneeballschlacht gegeben. An mehr konnte Sophie sich beim besten Willen nicht erinnern.
Ihre Kleidungsstücke lagen ordentlich zusammengefaltet über der Stuhllehne. Beunruhigend - denn sie selbst knallte ihre Wäsche meistens achtlos in die Ecke. Sophie seufzte und griff sich an den dröhnenden Kopf. Dann klopfte es an die Zimmertür.
“Herein”, stöhnte sie.
Es war das Zimmermädchen mit einem wunderschönen, in Cellophanfolie eingeschlagenen Rosenstrauss und einer Vase in der Hand: “Guten Morgen. Der ist für Sie abgeliefert worden.”
“Oh, vielen Dank. Bitte, stellen Sie ihn dort auf den Tisch. Wie spät ist es denn überhaupt?”
“Kurz nach zehn.”
Erschrocken setzte Sophie sich auf. Was sie jetzt bräuchte, waren eine Tasse Kaffee und zwei Kopfschmerztabletten. Aber würde sie so spät überhaupt noch Frühstück bekommen?
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Das Zimmermädchen war gegangen. Sophie stand auf und wankte ins Bad. Im Vorübergehen betrachtete sie gerührt die Rosen. Jan hatte also doch an ihren Geburtstag gedacht! Mit einem Tag Verspätung zwar, aber das lag sicher an der Zeitverschiebung. Sie duschte ausgiebig, rubbelte sich trocken und verkroch sich wieder mit ihrem Bademantel ins Bett. Immerhin war ihr Kopf nicht mehr ganz so schwer. Plötzlich klopfte es erneut.
“Herein”, rief sie.
Es war Martin mit einem Tablett. Vorsichtig stellte er den Rosenstrauss darauf und trat an ihr Bett: “Guten Morgen, Sophie. Ich dachte, du könntest ein gutes Katerfrühstück brauchen. Ich hab’s mir in der Küche geben lassen. Es ist alles da: Orangensaft, Kaffee und saure Gurken.” Sogar an Kopfschmerztabletten hatte er gedacht.
“Sie sind ein Schatz”, bedankte sie sich. “Haben Sie selbst denn schon gefrühstückt?”
“Schon vor einer Stunde”, erklärte er vergnügt.
Plötzlich kam ihr zu Bewusstsein, dass er sie duzte. Unsicher fragte sie: “Martin, haben wir womöglich gestern Brüderschaft getrunken?”
“So kann man es nennen. Du hast mich geküsst.”
“Ich habe was?” rief sie entsetzt. Beunruhigt musterte sie ihn: “Und dann? Wie bin ich überhaupt ins Bett gekommen?”
“Ich hab dir geholfen - aber keine Bange, es ist nichts passiert.” Er hatte sie die Treppe hinaufgetragen, ihr beim Ausziehen geholfen, ihre Schlafanzugjacke zugeknöpft und sie sorgsam zugedeckt. Sie hatte seine Hand nicht losgelassen, und so hatte er eine Weile an ihrem Bett gesessen, bis sie eingeschlafen war.
Sophie betrachtete die Vase auf dem Tablett. “Sind die Rosen nicht wunderschön? Von Jan.”
Etwas verlegen antwortete er: “Sophie, die Blumen sind von mir. Hast du die Karte nicht gelesen? Ich dachte, wir drehen die Zeit einfach ein bisschen zurück und feiern heute deinen Geburtstag.”
“Rote Rosen? Von dir?” staunte sie. “Dann möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Aber du darfst nicht glauben … Es tut mir leid, dass ich dich geküsst habe. Ich kann dir nur sagen, dass ich nicht die geringste Erinnerung daran habe.”
“Das ist schade”, meinte er. “Es war nämlich ein wunderbarer Kuss.”
Sie wurde rot. “Es ist mir sehr unangenehm. Wirklich. Wir kennen uns doch kaum, ausserdem sind wir beide gebunden.”
“Ich nicht mehr. Ich habe meine Freundin angerufen und ihr vorgeschlagen, unsere Beziehung zu beenden. Sie war sofort einverstanden. Offenbar hat sie einen Amerikaner kennengelernt.”
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Er war nicht die Spur traurig. Es wunderte ihn jetzt sogar, dass er die Beziehung so lange aufrechterhalten hatte. Er hätte Sophie so gern gesagt, dass er sich in sie verliebt hatte: in ihr Lächeln, ihre Augen, ihr Muttermal über dem rechten Mundwinkel. Und dass er ihr bis ans Ende der Welt folgen würde, um sie bloss nicht wieder zu verlieren. Wenn sie ihn nur wollte.
Martin goss ihr eine Tasse Kaffee ein und reichte sie ihr. “Trink, damit du wieder auf die Beine kommst. Unten wartet nämlich ein Schlitten auf uns.”
“Ein Schlitten?”
Er schmunzelte: “Ich hab dir doch gessagt, dass wir heute deinen Geburtstag feiern, nicht wahr?”
“Und wohin soll es gehen?”
“Das ist eine Überraschung. Aber zuerst wird ordentlich gefrühstückt!”
Eine Stunde später glitten Sophie und Martin in Decken gehüllt durch die verzauberte Winterlandschaft, vorbei an verschneiten Wäldern und zugefrorenen Seen. Nur das Glockengeläut und das Schnauben des kräftigen Braunen war zu hören.
Die erste Etappe war Schloss Linderhof. Nach der Besichtigung des Jagdschlosses Ludwig II. und einem leichten Imbiss ging es zurück bis nach Ettal, wo der Schlitten vor der im Rokokostil erbauten Benediktinerabtei hielt. Sie bewunderten hingerissen die prunkvolle Abtei, bis Martin auf die Uhr sah und verschmitzt erklärte: “Darf ich zu Tisch bitten?”
Im Landgasthaus nebenan nahm ein Kellner ihnen die Mäntel ab, führte sie an einen reservierten Tisch und legte ihnen die erlesene Speisekarte vor.
Entspannt lehnte Sophie sich zurück und betrachtete Martin, der sorgfältig das Menü zusammenstellte. Ihr Blick glitt über sein gutgeschnittenes Gesicht. Schon seit langem hatte sie sich nicht mehr so glücklich und geborgen gefühlt. Das lag zweifellos an Martins Gegenwart. Dann fielen ihr der Kutscher und das Pferd ein. Ob sie auch verpflegt wurden?
“Bestimmt”, versicherte Martin, “sie sind nämlich nach Hause gefahren.”
“Und wie kommen wir wieder zurück?”
Er grinste schelmisch. “Abwarten. Vertrau mir.”
Das Erstaunlichste war, dass sie ihm tatsächlich vertraute. Sie empfand es als wunderschön, sich von ihm verwöhnen und umsorgen zu lassen.
Als sie das Gasthaus verliessen, führte Martin sie zu einem Wagen mit Münchner Nummer, den inzwischen eine Schneehaube zierte. Er öffnete die Tür für Sophie, ging um den Wagen herum, glitt hinter das Steuer und liess den Motor an.
“Mein Freund Lutz hat ihn hierhergebracht und ist mit dem Schlitten zurückgefahren”, erklärte Martin. “Er hat es mir netterweise angeboten, weil heute sein Restaurant geschlossen ist.”
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“Ich habe nie einen schöneren Geburtstag gefeiert. Danke, Martin”, sagte sie gerührt, als sie vor ihrer Zimmertür standen. Sogar von ihrem Kater spürte sie längst nichts mehr.
“Schlaf gut. Vielleicht sehen wir uns ja morgen?” Er lächelte und wollte gehen - obwohl es ihm schwer fiel, sie nicht in seine Arme zu reissen.
Sophie machte keine Anstalten, ins Zimmer zu treten. “Ich werde Jan anrufen, um ihm zu sagen, dass es besser ist, wenn wir uns trennen”, sagte sie leise. “Wir waren uns nie wirklich nahe. Für ihn zählt nur die Arbeit. Ich dachte, ich könnte damit leben - aber jetzt weiss ich, dass das nicht stimmt.”
Ihr war auch etwas anderes klar geworden: Wenn sie Jan nicht bis nach Frankfurt gefolgt war, dann nur, weil es keine wirkliche Liebe zwischen ihnen gewesen war. Denn die war etwas anderes. Tief in ihrem Inneren schien sie es immer gespürt zu haben.
Jetzt war Martin es, der sie küsste - eine kleine Ewigkeit lang. Als sie sich voneinander lösten, klopfte Sophies Herz zum Zerspringen. “Ich wusste gar nicht, dass ein Kuss so schön sein kann”, hauchte sie atemlos.
“Ich weiss es schon, seitdem du …” Er konnte den Satz nicht beenden, weil Sophie ihm den Mund mit einem Kuss verschloss und ihn in ihr Zimmer zog …
ENDE