Karneval in Nizza

Die junge Sophie Gerber wird von ihrem französischen Patenonkel nach Nizza in seine Prachtvilla eingeladen. Hier begegnet sie Alain, doch ihr Schicksal entscheidet sich erst beim Karneval ...
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"Natürlich fährst du", ermunterte Kristina ihre zögernde Freundin. "Eine Einladung nach Nizza, zur Karnevalszeit, und noch dazu von einem Industriekapitän, so etwas schlägt man doch nicht aus!"
"Aber ich kenne ihn doch gar nicht", wandte Sophie ein.
"Er ist dein Pate. Du kannst doch nichts dafür, dass er sich erst jetzt wieder an dich erinnert. Wie kommst du eigentlich zu einem französischen Paten?"
"Pierre Duteil hat die beste Freundin meiner Mutter geheiratet. Die beiden haben dann meine Patenschaft übernommen., aber Ingrid Duteil starb, als ich drei Jahre alt war. Onkel Pierre soll sehr unter ihrem Tod gelitten haben, und mich hat er natürlich darüber ganz vergessen. Nun haben meine Eltern ihn letztes Jahr besucht, und dabei hat er sich wieder an mich erinnert. Daher die Einladung."
"Willst du ihn dir nicht gleich angeln?" fragte Kristina mit genüsslichem Augenaufschlag.
Sophie lachte. "Er ist doch mein Pate, selbst wenn wir nicht verwandt sind miteinander, und ausserdem ist er schon etwas alt. Aber gut sieht er aus, sieh' mal!" Sie ging zu ihrem Schreibtisch, nahm ein Foto aus einem Briefumschlag und zeigte es der Freundin: "Er hat es mir geschickt, damit ich ihn am Flughafen erkenne."
Kristina spitzte bewundernd ihren Mund: "Graue Schläfen, ein vornehmes Gesicht ... du, das ist einer von den Kavalieren der alten Schule, die dir aus dem Mantel raus- und in den Mantel reinhelfen, die dir im Restaurant den Stuhl zurechtrücken und die dir Hand küssen. Toll! Hat er keinen Sohn?"
"Hat er, aber der macht ein Praktikum in den Vereinigten Staaten. Sag' mal, warum willst du mich unbedingt verheiraten?"
"Damit du die Wohnung räumst", lachte Kristina und betrachtete verliebt ihren Verlobungsring. Die Freundinnen teilten seit zwei Jahren eine Wohnung "wie es sie eigentlich gar nicht gibt", pflegte Kristina zu sagen. Preiswerte Miete, gute Lage, drei hübsche Zimmer und ein grosser, sonniger Balkon.
"Ach nee", tat Sophie empört, "ich dagegen rechne schwer damit, dass dein Sören bald etwas Passendes für euch beide findet und ich mich endlich hier ausbreiten kann!"
Sie lachten beide. Sie waren ja ein Herz und eine Seele, und das Geplänkel gehörte eben dazu.
"Wenn du noch einen anderen guten Grund brauchst", sagte Kristina, "dann denk daran, dass du Übersetzerin bist. Du bist es deinen Arbeitgebern schuldig, deine Französischkenntnisse mal wieder aufzufrischen."
"Okay, ich fahre ja", meinte Sophie, "und im Grunde freue ich mich ja auch darauf."
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Am Flughafen von Nizza erlebte sie jedoch eine Enttäuschung: Niemand erwartete sie. Während Sophie, das Erkennungsfoto in der Hand, unruhig in der Halle auf- und abging, kamen ihr grässliche Zweifel. Pierre Duteil erinnerte sich nicht mehr an seine Einladung! Er würde aus allen Wolken fallen, wenn sie jetzt plötzlich bei ihm auftauchte! Am liebsten hätte sie das nächste Flugzeug zurück nach Hamburg genommen, aber dann fiel ihr Blick auf ihren Koffer. Sie hatte sich für diesen Ausflug in die "grosse Welt" auf für ihre Verhältnisse geradezu ruinöse Weise neu eingekleidet, ausserdem wartete Kristina gespannt auf ihren Bericht. Nein, zurück konnte sie nicht mehr, und so beschloss Sophie nach einer dreiviertel Stunde vergeblichen Wartens, ein Taxi zu nehmen.
Das Taxi bog links ab und fuhr zum Hügel von Cimiez. "Hier leben die reichen Leute. Alte Paläste, grosse Villen. Geld, viel Geld", erklärte der Taxifahrer und hielt schliesslich vor einem imposanten Tor: "Voilà, Mademoiselle, wir sind angekommen."
Sophie drückte mutig auf den Klingelknopf neben dem Tor. Ein junger Mann in grüner Gärntnerschürze näherte sich von der anderen Seite, die Schere noch in der Hand, und fragte: "Vous désirez? Sie wünschen?"
"Ich bin Sophie Gerber. Monsieur Duteil erwartet mich", erwiderte sie auf Französisch.
Der junge Mann starrte sie an, schlug sich dann mit der flachen Hand vor die Stirn und stöhnte: "Mon Dieu, was werde ich zu hören bekommen! Ich sollte Sie vom Flughafen abholen!"
Er öffnete rasch die Tür neben dem grossen Einfahrtstor und griff diensteifrig nach ihrem Koffer: "Bitte, kommen Sie herein, Mademoiselle Gerber. Ich werde Sie ins Haus führen."
Beeindruckt folgte Sophie dem Gärtner durch die grosse Marmorhalle und dann eine schöne Treppe mit geschwungenem Gelände hinauf. Der junge Mann öffnete eine Tür, liess ihr höflich den Vortritt und stellte ihr Gepäck ab.
"Ich nehme an, Sie möchten sich etwas frisch machen? Monsieur Duteil wird in etwa einer Stunde hier sein, er musste an einer wichtigen Beprechung teilnehmen und konnte Sie deshalb leider nicht selbst abholen. Und ich ..." er grinste sie mit entwaffnendem Charme an, " ...wenn ich viel Arbeit im Garten habe, vergesse ich gewöhnlich alles andere. Ich bitte Sie aufrichtig um Entschuldigung."
"Das kann ruhig unter uns bleiben", schlug Sophie vor und fügte freundlich hinzu: "Von mir aus können Sie wieder in den Garten gehen, Sie haben sicher noch etwas zu tun?"
"Vielen Dank, Mademoiselle." Er verbeugte sich höflich und schloss leise die Tür hinter sich.
Neugierig sah Sophie sich im Zimmer um. Sie entdeckte ein grosses französisches Bett mit einer aus Baumwollgarn gehäkelten weissen Überdecke, einen runden Mahagonitisch mit einem Blumenstrauss, zwei kleine Chinzsessel und ein angrenzendes Waschkabinett mit WC und Dusche. Sie trat ans Fenster, öffnete es und sah hinaus. Ein grosser Mimosenbaum blühte nicht weit von ihr an der Südseite des Hauses, und der Gärtner war dabei, die Rosensträucher zu beschneiden, die einen gepflegten Rasen zum Haus hin begrenzten. Sophie atmete mit Genuss die laue, mit Mimosenduft beladene Luft ein und freute sich auf einmal, hier zu sein. Sie beschloss, rasch zu duschen.
Eine halbe Stunde später durchquerte sie das immer noch stille Haus und trat schliesslich zögernd in den Garten hinaus. Der Gärtner war jetzt mit Jäten beschäftigt. Sie räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen; der Gärtner richtete sich auf, sah sie bewundernd an und sagte galant: "Zauberhaft sehen Sie aus, Mademoiselle."
"Vielen Dank", lächelte sie zurück, "Monsieur Duteil ist wohl immer noch nicht da?"
Er schüttelte bedauernd den Kopf. "Wollen Sie im Erkerzimmer auf ihn warten?"
"Darf ich hier bleiben?" fragte sie, setzte sich auf das Mäuerchen der Terrasse und fuhr fort: "Es ist so schön hier, so grün mitten im Februar. Und ich liebe Pflanzen. Leider habe ich selbst keinen Garten, nur einen Balkon."
Er wischte sich die Hände an seiner grünen Schürze ab, zog ein Foto aus der Tasche und reichte es ihr: "Ich frage mich, ob ich Sie überhaupt erkannt hätte am Flughafen", grinste er. "Sie haben sich mächtig verändert seitdem. Schauen Sie mal."
Sie betrachtete verblüfft die Erstklässlerin mit der grossen Schultüte im Arm, die schüchtern in die Kamera lächelte. "Tatsächlich", murmelte sie amüsiert, "es war wohl das letzte Foto von mir, das Monsieur Duteil bekommen hat."
Er steckte es wieder ein und machte sich erneut an die Arbeit, und diesmal half Sophie ihm. Sie waren noch einträchtig dabei, Unkraut zu zupfen, als eine grosse schwarze Limousine vorfuhr und einmal kurz hupte. Der junge Mann sprang erschrocken auf, sah so aus, als wollte er etwas sagen, verzichtete aber darauf, als die Wagentür klappte, und ging mit grossen Schritten auf das Haus zu.
Verwundert sah Sophie ihm nach. Sie überlegte noch, ob sie ihm folgen sollte, um sich die Hände zu waschen, da öffnete Pierre Duteil schon die Gartentür und kam lächelnd auf sie zu: "Du bist Sophie. Willkommen in Nizza und in meinem Haus."
Er küsste sie auf beide Wangen, betrachtete dann ihre erdigen Hände und schmunzelte: "Hat Alain dich wohl schon im Garten angestellt?"
Alain hiess also der Gärtner. "Ja", lachte Sophie, "wir haben zusammen Unkraut gejätet."
"Der Garten ist nun einmal seine Leidenschaft, wie die meine auch. Es ist uns gelungen, eine paar ganz seltene Pflanzen hier heimisch zu machen. Hast du Lust, einen Rundgang zu machen? Ich tue es immer, wenn ich aus der Bank komme, es entspannt mich."
Sie stimmte gern zu, und er griff nach ihrem Arm, um sie zu führen. Jeden Baum, jeden Strauch, jede Blume wusste er mit Namen zu nennen. Den lateinischen, den französischen und manchmal auch den deutschen. "Den hat mir meine Frau beigebracht, die Freundin deiner Mutter. Auch sie hat diesen Garten geliebt."
Er drückte ihren Arm und meinte entschuldigend: "Eine verlorene grosse Liebe tut ein ganzes Leben lang weh, selbst wenn die Zeit darüber hinweggeht und das Bild verblasst. Aber wir sollten von anderen Dingen sprechen. Sieh dir den blühenden Mimosenbaum an. Er ist der Vorbote des Frühlings. Gibt es etwas Schöneres mitten im Winter?"
Sie hatten sich langsam dem Haus genähert und betraten einen grossen Erkerraum. Sophie sah den Umriss eines jungen Mannes, der am Fenster stand und sich nun umwandte. Es war Alain, der Gärtner! Aber jetzt trug er graue Flanellhosen und einen gutsitzenden Blazer über einem offenen, sportlichen Hemd. Er warf der jungen Frau einen bittenden und zugleich amüsierten Blick zu und sagte liebenswürdig: "Guten Abend, Papa."
Wie Schuppen fiel es Sophie von den Augen. Diese Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern. Warum hatte sie sie nicht eher bemerkt? Und gleichzeitig war sie wütend. Wie hatte Alain sie in dem Glauben lassen können, er sei der Gärtner! Und wieso war er hier? Warum war er nicht in Amerika?
Pierre Duteil beantwortete ahnungslos ihre letzte Frage: "Alain hat überraschend Urlaub bekommen. Das ist ein glücklicher Zufall, nicht wahr? Ich hatte nämlich schon Sorge, dass du dich allein mit mir langweilen würdest."
"Sophie, Papa, wie wäre es mit einem Aperitif," schlug der junge Mann vor.
Ein wenig später sassen sie bei einem Glas Bourbon, den Alain aus Amerika mitgebracht hatte, beisammen. Alain hatte ein Tellerchen schwarze Oliven aus der Küche geholt und erklärte Sophie: "Das ist eine Spezialität von Fanny, unserer Köchin. Sie bereitet sie nach einem alten Familienrezept zu."
"Wo ist Fanny überhaupt?" erkundigte sich Pierre Duteil.
"Sie besucht ihre Schwester im Krankenhaus. Ich hatte ihr vorgeschlagen, dass wir mit Sophie auswärts essen, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie hat Sophie zu Ehren schon einen Canard à l'orange vorbereitet. Fanny gehört mit zur Familie", erklärte er der jungen Frau. "Ihr Mann ist Gärtner, ein richtiger, der sich auch um unseren Garten kümmert. Aber wenn ich da bin, pfusche ich ihm gern ins Handwerk."
"Mit viel Sachkenntnis, wie ich gesehen habe", erwiderte sie etwas spitz. Ganz hatte sie ihm noch nicht verziehen, sie hinters Licht geführt zu haben.
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"Bist du mir noch böse?" fragte er Sophie am nächsten Morgen, als sie gemeinsam durch die Altstadt von Nizza schlenderten. "Ich weiss, es war sehr unhöflich von mir, mich nicht gleich vorzustellen. Aber ich bin immer sehr stolz, für einen Gärtner gehalten zu werden. Management, Gärtner und Schauspieler, das waren meine Lieblingsberufe. Leider bin ich nur Manager geworden. Das andere muss ich nun als Dilettant ausüben." Er sah sie mit einem Lächeln aus den Augenwinkeln an und fügte noch hinzu: "Ich wusste ja auch nicht, welch eine Art Mensch zu bist. Es ist mir ein Gräuel, mit arroganten Damen im Salon Konversation machen zu müssen, wenn ich statt dessen im Garten etwas tun kann. Aber ehrlich: Als du mir dann so spontan geholfen hast und gar nicht eingebildet warst, hatte ich meine Schauspielerei schon bereut. Es war nur plötzlich zu spät, um dir die Wahrheit zu gestehen."
"Also gut", lachte sie, "ich will nicht nachtragend sein. Der Tag ist auch zu schön dafür. Aber als Schauspieler hast du eine echte Gabe."
Er machte lächelnd eine Verbeugung, als dankte er für Applaus.
Lustig flatterte die Wäsche auf den Balkonen der rosa- und ockerfarbenen Häuser, ein Duft von Ratatouille und Olivenöl hing in der Luft. Das Viertel war hügelig, und die beiden jungen Leute erklommen Treppen, stiegen andere wieder hinunter, landeten in Sackgassen und auf stillen kleinen Plätzen, bis Alain erklärte, dass sie beide Hunger hätten, und Sophie in ein südländisches Restaurant führte.
Nach dem schmackhaften Essen gingen sie durch eine elegante Geschäftsstrasse. Vor einem Ledergeschäft blieb Sophie stehen. Ihre Riementasche war das einzige Stück an ihr, das nicht neu war, und man konnte sie getrost mit "abgewetzt" bezeichnen. Und hier im Schaufenster lag nun die Tasche ihrer Träume. Teuer, leider sehr teuer, wie sie nach einem Blick auf das Preisschild feststellte. Aber zum Teufel mit der Sparsamkeit, die würde sie sich jetzt gönnen.
Alain war neben ihr stehen geblieben, und sie sagte: "Ich habe nie eine schönere Tasche gesehen, die werde ich mir jetzt kaufen."
"Lass sie mich dir schenken, als Versöhnungsgeschenk!"
"Kommt nicht in Frage. Ausserdem bin ich dir doch gar nicht mehr böse." Und um sicher zu sein, dass er nicht doch darauf bestehen würde zu bezahlen, befahl sie: "Warte hier auf mich, ich bin gleich wieder zurück!"
Sie liess sich von der eleganten Verkäuferin die Tasche vorlegen, strich über das feine Leder, öffnete sie und nickte: "Ich nehme sie."
Die Verkäuferin sah Sophie zweifelnd und etwas von oben herab an, nannte den Preis und betonte: "Sie ist wirklich sehr teuer."
Arrogante Person, dachte Sophie ärgerlich, liess sich aber nichts anmerken und schrieb nur kühl den Scheck aus.
Die Verkäuferin entschloss sich endlich, die Tasche einzupacken, und Sophie sah sich nach Alain um. Der junge Mann stand in der Tür, sah sie fragend an, und plötzlich kam Sophie eine Idee. Sie machte ihm ein Zeichen und säuselte: "Alain, bitte, tragen Sie doch das Paket."
Alains Augen leuchteten auf, er reagierte sofort und absolut beispielhaft. Eine knappe Verbeugung zu Sophie hin, ein herablassender Blick auf die verblüffte Verkäuferin, dann nahm er gnädig das Paket aus ihren Händen entgegen. Er öffnete Sophie die Tür, liess sie vorausgehen und schloss sie wieder hinter ihr. Erst ein paar Meter weiter fingen sie gleichzeitig an zu lachen: "Fabelhaft", brachte er schliesslich heraus, "Grosse Dame mit Chauffeur!"
"Nicht wahr?" lobte sie sich mit angemessener Bescheidenheit, "ich bin eine gelehrige Schülerin!"
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Sie verstanden sich immer besser? Während Pierre Duteil seine Tage in der Bank verbrachte, machten sie in Alains kleinem Renault Ausflüge in die Umgebung. Wann merkte Sophie zum ersten Mal, dass sie sich in den gutaussehenden jungen Mann verliebt hatte? Vielleicht an dem Nachmittag, an dem sie an einer Steinballustrade lehnten und hinabsahen auf die roten Dächer von Nizza und die in der Sonne funkelnden Baie des Anges. Die junge Frau mochte nicht sprechen, die genoss den schönen Ausblick, und auch Alain wurde stiller und stiller.
Sie schwiegen lange, dann wandte Alain Sophie sein Gesicht zu, sah sie lange an und sagte: "Ich liebe dich, Sophie."
Diese unerwartete Liebeserklärung kam zu schnell, zu unerwartet. Sophie war so überrascht, dass sie ohne zu überlegen konterte: "Übst du eine neue Rolle?"
Alain fuhr sichtlich verletzt zurück, stiess sich von der Balustrade ab und ging wortlos zum Wagen zurück. Zu spät merkte Sophie, wie ernst er seine Worte gemeint hatte. Ratlos biss sie sich auf die Lippen. Sie empfand Mitleid mit dem jungen Mann und war ärgerlich auf sich selbst, auf ihre ungeschickte Bemerkung. Aber es war vor allem ein ganz neues Gefühl, das sich in ihr zu regen begann, als sie sich den Ausdruck seiner auf sie gerichteten Augen ins Gedächtnis zurückrief.
Langsam folgte sie ihm, setzte sich still neben ihn. Ohne sie anzusehen, sagte er: "Geschieht mir ganz recht. Es ist das erste Mal, dass ich etwas ganz ernst meine, und schon bekomme ich einen Korb!"
Sie hätte ihm gern gesagt, wie leid ihr ihre voreilige Antwort tat, aber dieses Geständnis wollte einfach nicht über ihre Lippen kommen.
Am nächsten Tag war Alain wieder ganz der alte, und Sophie konnte nur mit Mühe verbergen, wie enttäuscht sie darüber war. Sie besuchten die römischen Ruinen, fuhren von dort aus zum Mont Boron im Osten der Stadt. Die Sonne ging als blutroter Ball im Westen unter, tauchte die Felsen in rosa-violettes Licht.
Sophies Blick streifte über die mit Seekiefern, mit Oliven- und Zitronenbäumen bewachsenen Hügel, über die die knospenden Stechginster einen gelben Hauch legten. Inständig hoffte sie, dass Alain sich erneut ein Herz fassen würde, aber der hob schliesslich nur einen Stein vom Boden auf, wog ihn eine ganze Weile nachdenklich in der Hand und schleuderte ihn dann weit ins Tal. "Fahren wir?" fragte er dann und ging, ohne ihre Antwort abzuwarten, auf den Renault zu.
Wortlos folgte sie ihm und stieg ein. Sie fuhren heim, ohne miteinander zu reden. Es war ein bedrücktes Schweigen.
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Der berühmte Karnval von Nizza war der äussere Höhepunkt und gleichzeitig das Ende ihres Urlaubs. Während sich vor Sophies und Alains Augen der bunte Zug der blumengeschmückten Wagen unter einem lustigen Konfetti-Regen vorwärts bewegte, während begeisterte Kinder und fröhliche Erwachsene die Karnevalsgestalten in gestreiften Hosen und abenteuerlichen riesigen Pappköpfen mit Beifall überschütteten, während musiziert und gelacht, gegessen und getrunken wurde und sich über der Stadt ein azurner, wolkenloser Himmel spannte, fühlte Sophie, wie ihr das Herz immer schwerer wurde.
Morgen früh würde sie nach Hamburg zurückfliegen, und auch Alain wurde in ein paar Tagen in Amerika zurückerwartet. Es war möglich, dass er dort eine andere Frau kennenlernte. Eine Frau, die seine Liebeserklärung auf andere Weise entgegennehmen würde als sie. Mit keinem Wort hatte er ihren kurzen Wortwechsel an der Balustrade wieder erwähnt, und weil auch sie nicht darauf zurückgekommen war, musste er ja annehmen, dass er ihr gleichgültig sei.
Sie folgten eine Weile dem ausgelassenen Festzug, liessen sich von der Menschenmenge treiben, aber plötzlich standen sie aufatmend in einer ruhigen Seitengasse. Der fröhliche Lärm entfernte sich, verstummte. Noch ein paar Schritte, und sie befanden sich auf einem kleinen, sonnenüberfluteten Platz, in dessen Mitte eine Steinfontäne sprudelte.
"Warum hat dein Vater eigentlich nie wieder geheiratet?" fragte Sophie, um das Schweigen zu brechen.
"Weil er zu den Männern gehört, die nur einmal in ihrem Leben wirklich ihr Herz verschenken", antwortete er. "Das will nicht heissen, dass er nach Mamas Tod immer wie ein Einsiedler gelebt hat, aber heiraten wollte er nicht noch einmal, obwohl einige der Damen liebend gern die neue Madame Duteil geworden wären."
"Erinnerst du dich noch an deine Mutter?"
"Ich war erst fünf Jahre alt, als sie starb", sagte er nachdenklich. "Ich erinnere mich, dass sie wunderschöne blonde Haare hatte, wie du, nur, dass sie sie hochsteckte. Und Abends, wenn ich im Bett lag, sang sie mir deutsche Wiegenlieder vor."
Sie standen dicht nebeneinander an der Fontäne. Ein Vogel hatte sich auf dem steinernen Rand niedergelassen und trank aus dem überlaufenden Becken. Sophie spürte fast körperlich Alains Nähe, und eine süsse Schwere bemächtigte sich ihrer. Und endlich fand sie den nötigen Mut, um leise zu fragen: "Könnten wir noch einmal von vorn anfangen, Alain?"
Er wusste sofort, was sie meinte. Er sah sie lächelnd an und gab ebenso leise zurück: "Ich liebe dich, Sophie."
"Ich liebe dich nämlich auch", flüsterte sie und wandte ihm ihr Gesicht zu. Ganz zart nahm Alain es zwischen beide Hände und küsste sie dann leidenschaftlich auf den Mund.
"Wirst du auf mich warten?" fragte er, als sie eine Weile später eng umschlungen weitergingen. "In drei Monaten bin ich endgültig aus Amerika zurück. Und dann heiraten wir. Du möchtest doch, dass wir heiraten? Und du möchtest doch Kinder haben, denen du deutsche Wiegenlieder vorsingst, wenn sie im Bett liegen?"
Sie nickte glücklich zu jeder Frage und dachte flüchtig an Kristina, die ja nun zufrieden sein konnte, weil sie schliesslich doch die Wohnung behielt. Plötzlich war auch der Karnevalszug wieder da. Musik schmetterte in ihren Ohren; einige Kinder, die von ihren Müttern verkleidet worden waren, fingen an zu tanzen, und Alain zog Sophie in eine Weinstube, in der der Wirt gerade ein frischen Fass anzapfte.
"Magst du überhaupt in Nizza leben?" stellte Alain die letzte wichtige Frage. Jemand warf Sophie eine rote Rose zu. Sie steckte sie lächelnd an ihr Kleid und antwortete: "Ich liebe Nizza. Fast so sehr wie dich!"
ENDE

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