Kapitalismus in der Krise – Ideologie und Realität

Weil ich in meinem Forum immer wieder darüber belehrt werde, dass der Kapitalismus, im Gegensatz zum Sozialismus, eine Art Naturgesetz sei, während der Sozialismus lediglich eine Ideologie wäre und deshalb nicht funktionieren könne, möchte ich an dieser Stelle darauf antworten.

Erstens: Kapitalismus ist kein Naturgesetz. Er beruht auf einigen Konventionen, die mehr oder weniger gewaltsam durchgesetzt werden:

- Privateigentum. Dieses muss garantiert und geschützt werden. Dazu braucht es wiederum einen Rechtsstaat, der das Recht auf Eigentum durchsetzt und dafür sorgt, dass sich nicht jeder einfach nehmen kann, was er zum Leben braucht.
- Freiheit. Vor allem natürlich die Freiheit von allem, was man zum Leben braucht – wenn die Leute alles hätten, müssten sie ja nicht für andere (denen die Produktionsmittel gehören, auf welche Art sie auch immer in deren Besitz gelangt sind) arbeiten, um dann einen (geringen) Teil dessen, was sie erarbeitet haben, als Lohn zurück bekommen, damit sie auch morgen wieder antreten können. Freiheit heißt in erster Linie, dass nicht von Staats wegen für einen gesorgt wird, sondern man bitte schön selbst sehen muss, wo man bleibt. Dass es einem auch frei steht, Erfolg zu haben und andere ausbeuten zu können, gehört natürlich auch dazu. Anders ausgedrückt: Freiheit bedeutet Konkurrenz. Man könnte beispielsweise auch auf Kooperation setzen, aber das ist den Freiheitsfanatikern natürlich zu sozialistisch.
- Geld. Damit der Kapitalismus Spaß macht, braucht man natürlich auch ein anerkanntes, als Machtmittel durchgesetztes Geld, aus dem sich Kapital schlagen lässt. Geld bedeutet Zugriffsmacht auf alle Dinge, die für Geld zu haben sind – also auf so ziemlich alles. Wenn Geld als Produktionsmittel eingesetzt wird, wird es zu Kapital.
- Die Produktion dient – und zwar ausschließlich – der Vermehrung des Kapitals.

Entgegen aller Blümchenweisheiten, die in Schulbüchern zu lesen sind, geht es in der Marktwirtschaft (wie der Kapitalismus gern verniedlichend genannt wird) niemals darum, die Menschen mit nützlichen Dingen zu versorgen, sondern es geht immer nur ums Geschäft: Am Ende muss mehr dabei heraus kommen, als investiert wurde. Geld und Markt dienen eben nicht der Organisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung oder der Verteilung von Gütern – da gäbe es nun wirklich effektivere Methoden von Planung und Verteilung. Die kapitalistische Produktionsweise ist ein extrem irrationales System, das zwar immer wieder durch seine unkontrollierbare Dynamik überrascht – wie mit der seit 2008 ausgebrochenen Krise, die keineswegs unter Kontrolle ist – aber nichtsdestotrotz von seinen Anhängern für das einzig mögliche gehalten wird. Unter anderem, weil die gesamte Wirtschaftslehre auf axiomatischen Grundannahmen beruht, die zwar schöne Modelle hergeben, aber im realen Leben nicht zutreffend sind. Deshalb sind die Ökonomen auch so hilflos, wenn sie erklären sollen, warum ihre Modelle offenbar nicht funktionieren.

Derzeit zeigt sich, dass der Selbstzweck der Kapitalverwertung angesichts der ungeheuren Kapitalmengen, die auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten um den Globus vagabundieren, nicht mehr funktioniert. Weil die gigantischen Potenziale der stofflichen Reichtumsproduktion, die der Kapitalismus zweifelsohne hervor bringt, immer weiter ausgereizt werden, wird immer weniger Arbeit nötig, um diesen Reichtum zu schaffen. In einer vernünftigen Gesellschaft wäre das kein Problem – man könnte diese Potenziale nutzen, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Nun leben wir aber im Kapitalismus (den man meinetwegen auch freie, soziale oder wie immer Marktwirtschaft nennen kann, das ändert aber nichts an den Fakten), und der funktioniert eben so, dass die allermeisten Menschen von diesem Reichtum ausgeschlossen werden (Privateigentum!). Nur durch Arbeit werden sie in die Lage versetzt, sich mit dem, was sie zum Leben brauchen, versorgen zu können. Wenn es keine Arbeit mehr gibt, gibt’s auch nichts mehr zu essen. Das ist der eigentliche Grund dafür, weshalb trotz rasanter Überproduktion weltweit eine Milliarde Menschen hungern. Weil die Leute für die Kapitalverwertung überflüssig sind, ändert man auch nichts daran.

Eine weitere Fehlfunktion dieses Systems ist, dass die ständige Produktivitätssteigerung die Wertproduktion – und damit die Grundlage der Kapitalverwertung – untergräbt. Irgendwann kommt der Punkt, an dem die erreichte Produktivkraft mit der kapitalistischen Reichtumsform nicht mehr kompatibel ist. Die aktuelle Weltwirtschaftskrise ist nicht, wie immer und immer wieder behauptet wird, das Resultat übersteigerter Verschuldung und Spekulation. Sie ist vielmehr das Ergebnis der rückläufigen Wertproduktion – die in den vergangenen Jahrzehnten unter einer ungeheuren Aufblähung der Finanzmärkte versteckt wurde. Der gigantische Berg ungedeckter Wechsel auf die Zukunft wird nie eingelöst werden können – dem angehäuften fiktivem Kapital stehen eben keine reale Werte (mehr) gegenüber.

Die einzige Möglichkeit, diese fundamentale Strukturkrise – das “Verschwinden” der Arbeit durch immer höhere Produktivität, mit deren Steigerung gleichzeitig eine Entwertung der eingesetzten Kapitale einher geht – zu überwinden, ist ein anderes Denken. Derzeit ist es so, dass der gesellschaftliche Reichtum ein bloßes Abfallprodukt der Kapitalverwertung ist – nicht aber das Ziel. Dabei könnte es durchaus anders sein: Statt ständig zu behaupten, dass “wir” “über unsere Verhältnisse” gelebt hätten (was ich persönlich ganz bestimmt nicht getan habe) könnte man doch endlich die Verhältnisse mal umdefinieren: Die Gesellschaft ist inzwischen zu reich für die herkömmliche Form kapitalistischer Reichtumsproduktion. Das ist doch eine prima Sache! Eine vernünftige Gesellschaft würde das als wunderbare Chance begreifen, die vorhandenen Potenziale endlich zum Wohle aller Menschen zu nutzen. Dafür müsste man sich aber von den vorgestrigen Vorstellungen der Kapitalismusideologen lösen. Als ob die Welt untergehen würde, wenn es endlich allen gut geht. Im Gegenteil, sie wird untergehen, wenn es so weiter geht wie jetzt.

Damit komme ich zu der immer wiederkehrenden Behauptung, dass Sozialismus nur eine Ideologie sei und deshalb nicht funkionieren könne: Ideologien funktionieren ganz wunderbar, der real existierende Kapitalismus ist Beweis genug. Um gleich mit dem nächsten Vorurteil aufzuräumen – nein, ich will nicht zurück zu irgendwelchen Theorien mit einem langen Bart, wie mir auch immer wieder unterstellt wird. Im Gegenteil: Ich will endlich vorwärts zu einer neuen Praxis. Dafür muss man sich allerdings genau ansehen, was bisher falsch gelaufen ist, und zwar in sämtlichen Systemen. Und: nein, ich habe kein besseres Rezept in der Schublade. Ich misstraue allen, die behaupten, eins zu haben, ganz ausdrücklich.

Es gibt aber einige Punkte, bei denen ich anfangen würde: Als erstes gehören Produktionsmittel in die Hände derer, die damit arbeiten. Dann bestimmen nicht mehr irgendwelche Konzernchefs, was in welchem Umfang auf welche Weise produziert wird, sondern die Leute, die die Produkte herstellen und am Ende auch benutzen. Das wird nicht nur das Arbeitsklima, sondern auch die Produkte an sich entscheidend verbessern. Als zweites wird nicht mehr für den Markt produziert, sondern für die Menschen. Dann hört auch diese unglaubliche Verschwendung auf, weil nicht mehr ständig am Bedarf vorbei produziert wird. Selbstverständlich bringt das jede Menge Diskussions- und Abstimmungsbedarf mit sich – im Internet-Zeitalter wird das aber vergleichsweise leicht lösbar – man muss ja nicht im Bundes- oder Landesmaßstab planen, sondern kann das beispielsweise im kommunalen Maßstab tun. Ich gehe keineswegs davon aus, dass damit die totale Harmonie ausbricht, im Gegenteil, es wird ständig neu gedacht, neu gestritten, neu entschieden werden müssen. Aber je mehr die Menschen gefragt werden, wie sie leben wollen, und was sie dafür zu tun bereit sind, desto größer ist die Chance, dass das Leben für die allermeisten deutlich angenehmer wird, als es derzeit der Fall ist.



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