Jürgen Vogel sucht nach “Gnade”

Jürgen Vogel sucht nach “Gnade”

© Alamode Film / Jürgen Vogel als Niels in Matthias Glasners “Gnade”

Die unendlich weite Schönheit der Einsamkeit ist mancher Orts im Norden gegeben. Wenn in Norwegen, für den Film „Gnade“ von Regisseur Matthias Glasner („Der freie Wille“) das verschlafene Nest Hammerfest, die Polarlichter am Himmel erscheinen, dann schweift der Blick schon einmal verträumt gen Himmel. Hinzu gesellen sich Landschaftsbilder aus großen Schneefeldern, die weiß/blau eine Ewigkeit und Einsamkeit evozieren, friedvoll eingefangen, teils mit opulenten Kamerafahrten ein Bild von absoluter Perfektion projizieren. Aber die Perfektion wird durchbrochen, ein Unfall, eine Affäre, unkameradschaftliches Verhalten unter Jugendlichen, alles ausgerichtet auf die Gnade anderer Menschen.

Und das inmitten einer finsteren Zeitperiode im Eismeer. Zwei Monate lang lässt sich die Sonne hier nicht blicken, die Polarnacht. Niels (Jürgen Vogel), seine Frau Maria (Birgit Minichmayr) und ihr Sohn Markus (Henry Stange) kommen aus Kiel hierher, wollen einen Neuanfang wagen, ihr kaltes Familienmiteinander retten. Doch schon bald wird ihnen bewusst, dass auch der Ortswechsel an der Entfremdung nichts ändern wird. Niels stürzt sich nicht nur in seine Arbeit als Ingenieur, sondern beginnt auch eine Affäre mit einer Kollegin. Maria entfernt sich von ihrem Zuhause durch Überstunden im Hospitz, Sohn Markus muss in der Schule seinen Platz finden, gerät dabei unter die falschen Fittiche. Ein Unfall in eisiger Nacht soll alles verändern: Maria fährt ein kleines Mädchen an, begeht Fahrerflucht, erfährt in der Zeitung von einem tragischen Todesfall, für den sie verantwortlich ist. Sie redet mit Niels. Gemeinsam beschließen sie, dieses Geheimnis für sich zu behalten. Eine Entscheidung, die sie wieder näher aneinander bringt.

 

Jürgen Vogel sucht nach “Gnade”

Die ewig weiße Landschaft Norwegens; am Unfallort und Trauerstelle des totgefahrenen Mädchens

„Gnade“, neben Christian Petzolds „Barbara“ und Hans-Christian Schmids „Was bleibt“ im 2012er Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele gelaufen, besticht in aller erster Linie durch sein Umfeld. Die Naturaufnahmen, die eisige Landschaft, der Wind, den die Darsteller ebenso ertragen müssen wie die Zuschauer, es wirkt alles allzu real, auf der Leinwand wie im Kinosessel fröstelt es gewaltig. Die Kamerafahrten öffnen große Landschaften, die kilometerweit kein Entkommen aus dieser Kälte zeigen. Die Kleidung wird stets dick ummantelt getragen, die Stiefel werden beim nach Hause kommen getrocknet, der Wind ist nicht wegzudenken, das Geräusch des Schneestapfens gehört zum Alltag. Wärme sucht man hier vergeblich, dennoch sind es diese Bilder, diese Landschaften, die den Film vor einer gewissen Banalität erretten. Stellt man sich dieselbe Handlung in einem kleinen Vorort Berlins vor, irgendeiner Großstadt, auf dem Dorfe, unter ganz normalen Wetterverhältnissen, der Film würde allerhand seiner einmaligen Atmosphäre einbüßen.

Frostig bleiben auch die Figuren in Erinnerung, hier überträgt sich die Natur der Landschaft offenbar auf die Natur der Menschen. Niels ist ein Arschloch, so darf man ihn beruhigt nennen. Seine Mitarbeiter schreit er an, wenig sympathisch, geht fremd, nicht zum ersten Mal und wenn er seine Frau am Essenstisch anstarrt, wird das Gefühl der Kälte ebenso hervorgerufen wie die Gleichgültigkeit, die er ihr gegenüber zu empfinden scheint. Es ist ein Mysterium, wie ausgerechnet Niels im emotionalen Eis einbricht, danach die Wärme sucht, während Maria, seine Frau, davon ausgeht eine gute Person, ein guter Mensch zu sein. Einmal, kurz nach ihrem schicksalshaften Unfall, zweifelt sie an dieser Fassade, verliert diese Gedanken aber ebenso schnell wieder. Gnade zu empfinden wird bei ihr gleichgesetzt mit dem guten Menschen, sie begnadet sich selbst, zeigt auch beim Affären-Geständnis ihres Mannes Gnade ohne darüber nachzudenken. Der gute Mensch, diese Fassade ist ihr wichtig. Dieses Verständnis hat auch Sohn Markus mit auf den Weg bekommen. Er gerät in der Schule an die falschen Freunde, findet sich schon bald unter Mitschülern wieder, die einem verhassten Jungen in den Rucksack spucken. Er zeigt Anstand, geht sich entschuldigen, weiß aber selbst nicht wieso, eine andere Lösung hat er nicht parat um Reue zu zeigen – sofern es ihm überhaupt um die Reue geht, vielmehr ist es sein eigenes, schlechtes Gewissen. Er möchte Gnade, für sich selbst.

 

Jürgen Vogel sucht nach “Gnade”

Durch das gemeinsame Geheimnis nähern sich Niels und Maria wieder an

Denn am Ende hätte „Gnade“ auch „Egoismus“ heißen können, denn hier sucht niemand das Mitgefühl eines Opfers, hier sucht jeder nur das reine Gewissen. Man möchte etwas getan haben um nicht alleine damit leben zu müssen. Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, warum Regisseur Glasner die beiden Ehepartner wieder einander annähert. Sie teilen eine Schuld, erst Maria, wenn sie den Unfall beichtet, dann Niels, der seine Affäre zugibt: Denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Mit je mehr Menschen man darüber redet, desto einfacher wird es. Erst der vertraute Partner, dann die Opfer. Nun werden die Dinge sicher wieder gut. Dementsprechend klein hält Glasner auch seine Welt. Er verurteilt nicht, zeigt menschliche Anwandlungen, die man gerne in Frage stellen darf, aber legitime Vorgehensweisen des Lebens aufzeigen. Hier wird ein kleines Mädchen getötet – der Zuschauer lernt sie niemals kennen – nur am Rande sieht man die Trauer der Hinterbliebenen, hier geht es ausschließlich um Täter, um ihre Rolle, um die Fahrerflucht, um die Affäre, um das Mobben in der Schule. Nichts von alledem wird verurteilt, alles bleibt ohne Strafe stehen.

Jürgen Vogel spielt das gut, ist genau der richtige Typ für dieses Arschloch Niels, der sich anfangs nicht um seine Frau schert, um sie später dazu zu bringen, ihre Tat einzugestehen und selbst eine Mitschuld übernimmt. Mit dem Ende der Polarnacht, taut auch er langsam auf, wenn auch mehr seiner selbst willen als zum Wohle der Hinterbliebenen. Selbst in gefühlsbetonten Momenten, wo die warme Sonne hervorzukommen scheint, bleibt Vogel kühl, genau diesem Menschen entsprechend, der sich nach langer Kälte erst einmal wieder an eine andere emotionale Temperaturzone gewöhnen muss. Aber dieses Spiel wird „Gnade“ teils auch zum Verhängnis, ein Arschloch wie Niels, eine fast psychotisch an ihr Gut-sein glaubende Ehefrau, ein stiller Sohn, der seine Freude daran zu haben scheint, seine Eltern starr zu beobachten, zu analysieren. Eine Gesamtkonstellation die auch wenig Emotionen beim Zuschauer erzeugt, der sich mehr von der Landschaft berührt fühlen wird als von den Protagonisten. Man mag nicht so wirklich mitfühlen, mit diesen Menschen die allesamt so fern vom Guten erscheinen. Man wünscht ihnen eher den tiefen Fall, die Konsequenz ihrer Taten, als das gute – oder zumindest für sie selbst erlösende – Ende.

Denis Sasse


Jürgen Vogel sucht nach “Gnade”

“Gnade“

 

 

Originaltitel: Gnade
Altersfreigabe: ab 12 Jahren
Produktionsland, Jahr: D / N, 2012
Länge: ca. 132 Minuten
Regie: Matthias Glasner
Darsteller: Jürgen Vogel Birgit Minichmayr, Henry Stange, Ane Dahl Torp, Maria Bock, Stig Henrik Hoff, Iren Reppen

Deutschlandstart: 18. Oktober 2012
Offizielle Homepage: gnade-derfilm.de

 

 


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