Jizchak Katzenelson ✡ Eine Stimme für sein leidendes Volk …

Vielleicht war er ‚nur’ eine zarte Stimme seines Volkes, doch die kraftvolle Melodie seiner Worte berührte die Herzen und klang in den Seelen nach. Doch je mehr sein Volk litt, desto kraftvoller sprach es aus ihm heraus, bis er vor den Toren Jizchak Kazenelson IAuschwitz’ schallend sang, nicht anklagend, nicht gottergeben, sondern um der Grausamkeit und dem Unaussprechlichen Worte und Klang zu geben. Noch heute zieht seine Poesie die Menschen in den Bann und die Zeit des Leidens wird spürbar. Doch leider werden diese Gesänge, heute selten, aus meiner Sicht viel zu selten, gehört; ihnen Raum gegeben, da unser wissenschaftlich geprägtes Denken auf Fakten ausgerichtet ist und der Poesie weniger Raum gegeben wird, obwohl sie so viel mehr als ‚nur’ Fakten transportiert. Vielleicht, weil wir die Emotionalität viel weniger ertragen können, als das reine Faktenwissen. Jizchak Katzenelson gab den Seelenqualen seines Volkes Wort und Stimme und wie leise diese heute auch nur zu vernehmen ist, sie bleibt ein erschütterndes Dokument einer Zeit, die noch heute ihre langen Schatten wirft.

Jizchak Katzenelson wurde am 21. Juli 1886 in Karelicz unweit von Minsk in Weißrussland geboren, als Spross einer Dynastie von Rabbinern und Hebräisch-Gelehrten. Sein Vater, Jaakow Benjamin Katzenelson, promovierte als Rabbi an dem berühmten Jizchak Katzenelson + einer seiner SöhneSeminar von Volozhin. Er weckte in seinem Sohn die Liebe für sein Volk. Auch die Mutter, Hinda Davidson, entstammte einer Rabbiner-Familie. Schon früh zeigten sich bei Jizchak Katzenelson literarische und pädagogische Fähigkeiten. Mit zwölf Jahren schrieb er sein erstes Stück ‚Dreyfuß und Esterhazy’. Ab 1907 veröffentlichte er mehrere Gedichtbände, die sich besonders auch als Lektüre für Kinder eigneten. Katzenelson gilt als Begründer des neuhebräischen Dramas. Ab 1911 entstanden Theaterstücke in Hebräisch und Jiddisch unter anderem ‚Anu chajim umetim’ zu Deutsch ‚Wir leben und wir sterben’. Es war das erste hebräische Stück der ‚Habima’, des Jüdischen Theaters in Moskau, das in den zwanziger Jahren Gastspielreisen in Europa und Amerika unternahm. Jizchak Katzenelson hat Teile des Werkes von Heinrich Heine ins Hebräische übersetzt. Anfang der zwanziger Jahre heiratete er seine Frau Chana und hatte mit ihr drei Söhne. Der Lebensmittelpunkt der jungen Familie war im polnischen Łódź, dort schrieb er, betätigte sich als Lehrer und war über die Grenzen dieser Stadt geachtet und anerkannt, auch über die Grenzen der jüdischen Gemeinden hinaus. Zwei Monate nach dem Einmarsch der Deutschen Truppen in Polen floh er im November 1939 mit seiner Frau und den drei Söhnen nach Warschau. In Warschau gründete er das hebräische Theater und organisierte nach der Besetzung Polens die jiddische Kulturarbeit. Doch dies währte nicht lange, so geriet die Familie in das berüchtigte Warschauer Ghetto und saß dort fest. Jizchak Katzenelson selbst betrieb dann dort eine Untergrundschule für jüdische Kinder. Seine literarische Arbeit setzte er auch im Ghetto fort. Fast seherisch muten seine in  drei Bänden veröffentlichte Poesie von 1937/38 an, wenn er in ‚Liebhaber der Dichtkunst’ die drohenden Gefahren erspürt: „Nach 27 Jahren bin ich mit einem Buch meiner Gedichte wieder da, derselbe alte Sänger mit seiner Konzertina! [...] Das Mittelalter mit den Tagen der Schmähung und des Fluchs steht uns wieder bevor. Ein Mittelalter, schwermütiger und finsterer, ist zurückgekehrt, um das Tal der Tränen zu verdunkeln. Der Heilige, gesegnet sei Er, wird mich fragen: Warum dieser Jubel? Meine Söhne ertrinken im Meer und Du maßt dir an zu singen! Warum dieses Lied? – Weil mein Volk gerne singt! Sie singen noch, wenn sie sterben. Wir singen, wenn wir in den Tod gehen, wir singen, wenn wir zum Schafott geführt werden. Wir singen, wenn wir in Blut, Feuer und Rauchsäulen aufsteigen. Wir singen aus der tiefsten Tiefe, in die wir hineingeschleudert worden sind.“ Nach einer sogenannten Selektion im Ghetto von Warschau am 14. August 1942  wurden seine Frau und zwei seiner Söhne nach Treblinka deportiert und dort sofort nach ihrer Ankunft vergast. Jizchak Katzenelson und sein ältester Sohn Zwi wurden während des Ghetto-Aufstandes in der Zeit vom 19.April bis 16.Mai 1943 herausgeschleust. Sie bekamen Pässe von Honduras und werden mit sechzig anderen ‚ausländischen’ Juden ins Internierungslager Vittel in den Vogesen transportiert. Vom 22. Mai bis 16.September 1943 schreibt Katzenelson dort seine intensivsten Aufzeichnungen. Anschließend, vom 3. Oktober 1943 bis 18. Januar 1944, entsteht sein Poem ‚dos lid funm ojsgehargetn jidischen folk’, mit dem er seinem gemordeten Volk ein Denkmal gesetzt hat. Am 21.Juli1943 notiert Jizchak Katzenelson in seinen Aufzeichnungen: „So schrieb ich hier schon etwas nach dem ersten Tag, um einem Volk, das zum Schlachten geführt wurde, ein Denkmal zu setzen. [...] Ich werde von einem seelischen Ekel ergriffen, wenn ich diese noch wunden Stellen Tag für Tag aufschabe.“ Auch dieses letzte Werk Katzenelsons entstand im Internierungslager Vittel in den Vogesen in der Zeit vom 3.Oktober 1943 bis 18.Januar 1944. Als sein Testament und als Mahnmal für die Millionen ermordeter Juden sollte es unbedingt erhalten bleiben. So nutzte der Dichter die ihm noch verbleibende Zeit, um mehrere Abschriften des jiddischen Textes anzufertigen. Drei dieser Abschriften sind auf unterschiedlichen Wegen nach Israel gelangt, wo sie heute in Beit Lohamei Haghetaot, dem Kibbuz der Ghetto-Überlebenden, aufbewahrt werden.

Erinnert in der Welt an die Kinder,
erinnert, erinnert
an die noch nicht geborenen
und doch getöteten,
erinnert an die mit den Müttern erstickten -
in der Mütter Schoß.

Seine Manuskripte verbarg er in Flaschen und Metallgefäßen, sie wurden von Überlebenden und Weggefährten später weitergegeben. Ende April 1944 wurde Jizchak Katzenelson mit seinem damals siebzehnjährigen Sohn Zwi im ‚Konvoi 72’ nach Auschwitz-Jizchak KatzenelsonBirkenau deportiert, dort wurden sie am 1. Mai 1944 vergast.

Die Schriftstellerin Yonat Sened schreibt über Jizchak Katzenelson: „Er war ein Mensch und wurde gezwungen, das Unmenschliche zu leben; ein Mensch der in Widersprüchen lebte, der zwischen Schwäche und Kraft hin- und hergerissen wurde, zwischen Lebenswillen – dem Wunsch errettet zu werden und vor allem seinen einen verbliebenen Sohn zu retten – und letzter Verzweiflung, zwischen dem Aufblinken von Illusion und dem Wissen, dass keine Chance besteht und es keinen Sinn gibt. Er war ein Dichter – Klagender, der wusste, dass er nicht singen kann, und zugleich, dass er Dichtung verfassen muss, an jenem Ort und zu jener Zeit, in denen keine Dichtung mehr möglich war.“

Weiterlesen:

➼ Emanuel Ringelblum ✡ Begründer des Archivs ‘Oneg Shabbat’

➼ David Olère • Augen-Zeuge & Künstler in der Hölle von Auschwitz-Birkenau

➼ Das Sonderkommando Auschwitz-Birkenau

Der Aufstand des Sonderkommandos von Auschwitz

Bild 1: Jizchak Katzenelson – Quelle: wikimedia.org · Bild 2: Katzenalson + Sohn – Quelle: hermannsdorf.de · Bild 3: Cover Wolf Biermann singt Katzenelson


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