Jetzt musst du springen

Zu dem folgenden Text hat mich Holger von Papaganda inspiriert, der kürzlich auf seinem Blog einen sehr schönen Artikel über einen Freibad-Besuch mit seinen Kindern veröffentlicht hat (“Glückskinder, Mutmacher und ein Weichei im Freibad”).

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Stehe auf dem 3-m-Brett eines Berliner Hallenbades und frage mich, wie es so weit kommen konnte, dass ich hier oben stehe. Ich bin nämlich noch nie in meinem Leben vom 3er gesprungen. Mit Schwimmbädern, Schwimmen und Tauchen stehe ich nämlich auf Kriegsfuß. Sie sind mir zutiefst zuwider.

Der Besuch einer öffentlichen Badeanstalt ist für mich ungefähr so attraktiv, wie ein eiterndes Furunkel am Gesäß. Schon der Gedanke an die hygienisch häufig äußerst fragwürdigen Zustände der Familienumkleidekabinen, in denen man sich und die Kinder umziehen muss, lässt mich erschaudern. Um den Kontakt mit Erregern von womöglich noch unerforschter Krankheiten zu vermeiden, versucht man, dass sowohl die Kinder als auch man selbst mit möglichst wenig in Berührung kommt. Wer schon einmal versucht hat, sich auf Zehenspitzen einer engen Jeans zu entledigen, weiß wovon ich schreibe

Das vor dem Eintritt ins Schwimmbad obligatorische Abbrausen im Duschbereich, diesem Refugium der Fußpilzsporen, macht den Schwimmbadbesuch für mich nicht erstrebenswerter. Es gibt wahrlich viele Dinge, die ich dem Aufenthalt in einer öffentlichen Badeanstalt vorziehe (Steuererklärung ausfüllen, Keller aufräumen, Hemden bügeln).

Aber auch die Tätigkeiten des Schwimmens selbst und des Tauchens im Speziellen nehmen auf meiner Liste der unattraktiven Beschäftigungen einen Spitzenplatz ein (irgendwo zwischen Zahnwurzelbehandlung und dem Besuch eines Pur-Konzerts). Wenn die Natur wöllte, dass Menschen sich im Wasser aufhielten, wären wir mit Schwimmhäuten und Kiemen ausgestattet. Eine auch in ihrer Einfältigkeit bestechende Logik, wie ich finde.

Trotz meiner Schwimmaversion ist es aber nicht so, dass ich nicht schwimmen könnte – auch wenn die Freundin da gänzlich anderer Meinung ist. Womöglich hat sie da nicht ganz unrecht, denn ich erinnere mich an einen Urlaub, in dem ich im Meer schwamm und Möwen es vorzogen, das Wasser zu verlassen, um sich das Trauerspiel nicht länger anschauen zu müssen. Wenn ich mich recht erinnere, handelte es sich um Lachmöwen. Zumindest nachdem sie mir im Wasser zugeschaut hatten.

Das Schwimmen beziehungsweise das Nicht-Ertrinken hat mir mein Vater beigebracht, als ich ungefähr sechs Jahren alt war. Dazu sollten Sie wissen, dass mein Vater ein ganz hervorragender Schwimmer ist. Bei einem einjährigen Schulaufenthalt in den USA Ende der 50er Jahre stellte er an einer High School einen Schulrekord in 50-Meter-Butterfly auf, der bis in die 80er Jahre Bestand hatte. Ich dagegen bin eher mit der schwimmerischen Begabung einer schleswig-holsteinischen Milchkuh gesegnet. Daher rechne ich es meinem Vater bis heute hoch an, dass er mich im Zuge des Versuchs, mich in die Kunst des Schwimmens einzuweisen, nicht zur Adoption freigab (Sollte mein Vater dies lesen, sei ihm versichert, dass die Schwimmstunden bei ihm zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen zählen).

Trotz der Abwesenheit jeglichen Talents für das Schwimmen gelang es mir schließlich dennoch irgendwann, zumindest die Seepferdchen-Prüfung erfolgreich abzulegen. Es war sicherlich nicht von Nachteil, dass der Bademeister ein guter Bekannter meines Vaters war. Darüber hinaus möchte ich auch nicht ausschließen, dass mein Vater ihm einen nicht unerheblichen Geldbetrag zukommen ließ.

Da aber auch die Freundschaft meines Vaters zu dem Bademeister seine Grenzen hatte, endete mit der Verleihung des Seepferdchen-Aufnähers meine Freischwimmerkarriere. Sicherlich fragen Sie sich jetzt, was so ein Schwimmlegastheniker wie ich, auf dem 3-Meter-Brett zu suchen hat. Ich versichere Ihnen, ich frage mich gerade dasselbe.

Das Unglück nahm seinen Lauf, als die Freundin und ich beschlossen, dass die Kinder einmal bessere Schwimmer als ihr Vater werden sollen – wobei die Messlatte diesbezüglich zugegebenermaßen nicht so wahnsinnig hoch liegt. Entsprechend meldeten wir Tochter und Sohn bei einem Schwimmkurs an, dessen Lehrerin der Ruf vorauseilte, mit einer Mischung aus Mitgefühl und Strenge noch jedem Kind das Schwimmen beigebracht zu haben – sozusagen eine Art Mary Poppins des Wassers.

Sie stellte ihre fast schon magischen Fähigkeiten auch bei unseren Kindern unter Beweis. Der Sohn brauchte zwar etwas länger, um das Schwimmen zu erlernen, dafür konnte er aber von Anfang an ganz hervorragend tauchen. Eventuell bestand da ein kausaler Zusammenhang.

Die Kinder legten erfolgreich die Prüfungen zum Seepferdchen und zum Bronzenen Schwimmabzeichen ab und auch für das Silberne Abzeichen waren sie bereits 400 Meter geschwommen, zehn Meter getaucht und hatten zwei Gegenstände vom Beckenboden heraufgeholt. Von dem Aufnäher mit dem Silbernen Schwimmer trennte die Kinder nur noch ein Sprung vom 3-Meter-Brett. Da das Bad, in dem die Prüfungen abgenommen wurde, über keinen Sprungturm verfügte, sollten die Kinder den Sprung in irgendeinem anderen Schwimmbad durchführen und sich dies von einem Bademeister schriftlich bestätigen lassen.

Sowohl Tochter als auch Sohn erfüllte die Vorstellung, aus einer Höhe von drei Metern in ein Schwimmbecken zu springen, mit Sorge. Es brauchte also jemanden, der ihnen Mut zuspricht. Und hier kam ich ins Spiel und die fehlende Präzision meiner folgenden Frage, brachte mich mehr oder weniger direkt in meine gegenwärtige missliche Lage: „Wollt ihr, dass jemand mit euch springt?“ Aus mir unerfindlichen Gründen schlossen die beiden daraus, dass ich derjenige welche bin, der mit ihnen springt. Erleichtert nickten sie und vielen mir um den Hals: „Danke, dass du das mit uns machst.“ Eigentlich hatte ich bei meiner Äußerung an die Freundin gedacht, aber die an meinen Hals geklammerten Kinder erschwerten es erheblich, mich zu artikulieren und das Missverständnis aufzuklären.

Und so kam es, dass wir heute zur Mission 3m-Sprung aufbrachen. Nachdem wir das Umziehen und Duschen unfallfrei hinter uns gebracht hatten, plantschten wir ein wenig herum und ich gab mich der Hoffnung hin, dass der Sprungturm vielleicht gar nicht geöffnet wird. Wurde er zu meinem Missfallen aber doch. Sofort stürmte eine Gruppe halbstarker Jugendlicher den Turm und begann der Schwerkraft trotzend waghalsige Sprünge vorzuführen, bei denen mir schon vom Zusehen schwindlig wurde.

Nach einiger Zeit ließ es sich nicht länger vermeiden, dass wir uns ebenfalls in die Schlange der Springwilligen einreihen. Forciert wurde dies durch die strenge Aufforderung der Freundin: „Na kommt, jetzt macht schon. Vom Zuschauen wird es auch nicht besser.“ Eine Äußerung, die sich mir in ihrer dogmatischen Schlichtheit nicht erschließen wollte. Durch das Springen könnte sich die Situation ja erheblich verschlimmern, zum Beispiel wenn man beim Eintauchen ins Wasser die Hose verliert. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass das Nicht-Springen durchaus eine Verbesserung darstellen kann. Die streng gerunzelte Stirn der Freundin signalisierte mir deutlich, dass sie an meiner nach den Maßstäben der aristotelischen Logik auf sehr wackeligen Füßen stehenden Argumentation keinerlei Interesse hat.

Sich in mein Schicksal ergebend stellte ich mich also mit Tochter und Sohn in die Sprungturm-Schlange. Unaufhaltsam bewegte n wir uns vorwärts und näherten uns allmählich der Treppe. Indem ich immer wieder ein paar der springwütigen Jugendlichen vorließ, verlängerte ich geschickt unsere Anstehzeit. Dabei täuschte ich Zuversicht vor, drückte die Hände der Kinder und lächelte ihnen aufmunternd zu. Zumindest hoffte ich, dass mein gequälter grimassenartiger Gesichtsausdruck eine ermutigende Wirkung hat.

Nach ungefähr einer Viertelstunde erreichten wir schließlich das 3m-Brett. Von unten rief die Freundin unnötige Aufmerksamkeit erzeugend: „Ihr packt das!“ Alle Augen der anderen Badegäste schienen auf uns gerichtet zu sein. Bei den Kindern war ich recht zuversichtlich, dass sie den Sprung schaffen. Bei mir hegte ich dagegen größere Zweifel.

Nach kurzer Diskussion beschloss der Sohn, den Anfang zu machen. In einer eigentümlichen Mischung aus Arschbombe und Katschow-Krätsche sprang er runter und landet mit einem großen Platscher im Wasser. Stolz schwamm er an den Rand, wo er von der applaudierenden Freundin in Empfang genommen wurde.

Ich fragte die Tochter, wer von uns beiden als nächstes springen soll. Entgegen meiner Hoffnung äußerte sie aber nicht den Wunsch, den Turm wieder hinunter zu klettern, sondern trat einfach an das Ende des Sprungbretts, wo sie etwas zögerlich aber mit beneidenswerter Eleganz kerzengerade ins Wasser hüpfte. Mit einem strahlenden Gesicht tauchte sie wieder auf und gesellte sich zu Bruder und Mama.

Und nun stehe ich hier oben alleine. Es gibt nur noch mich, das 3m-Brett und das Becken. Und 30 Jugendliche in der Schlange hinter mir, die allmählich unruhig werden. Von unten tönt die Freundin: „Und jetzt du!“, wobei sei in einer fast schon als ordinär zu bezeichnenden Lautstärke meinen Namen durch das Schwimmbad brüllt. Die Zahl der Badegäste scheint sich in den letzten fünf Minuten verdreifacht zu haben und alle schauen ausnahmslos nach oben. Auf mich. Und auf meine schlotternden Knie.

In meinem Magen macht sich ein starkes und unangenehmes Ziehen bemerkbar. Überlege, warum es eigentlich keine Schwimmwindeln in Erwachsengrößen gibt. Eine für mich nicht nachvollziehbare Marktlücke. Ich würde auf jeden Fall ein Exemplar in modischem azurblau erwerben. Ein Projekt, das ich weiter verfolgen sollte. Allerdings hilft mir mein Geschäftssinn in der gegenwärtigen Situation nicht wirklich weiter. Vereinzelte „Nun spring endlich, Alter“-Rufe aus den Mündern einiger besonders ungehobelter Knaben reißen mich aus meinen merkantilen Träumen.

Trete langsam nach vorne und schaue in den Abgrund. Bin mir sehr sicher, dass die Höhe falsch vermessen wurde und der Abstand zwischen Wasseroberfläche und Sprungbrett mindestens 5m beträgt (wahrscheinlich sogar deutlich mehr). In diesem Moment schießt mir eine Zeile des Element-of-Crime-Lieds „Jetzt musst du springen“ durch den Kopf: „Jetzt endlich weißt du, dass deine Eltern dich nur zeugten, damit du hier wie ein Vollidiot fröstelnd und ohne Not über allem stehst, und nicht vorwärts gehst.“ Nie wurde mein Leben mit so wenigen Worten so zutreffend beschrieben.

Überlege, ob es bei der späteren Beurteilung meines Lebenswerkes gegen mich ausgelegt würde, wenn ich jetzt wieder umdrehe und vom Turm steige. Wohl eher nicht. Zumindest kann ich mich an keine Beerdigung erinnern, auf der ein Sprung oder Nicht-Sprung vom 3m-Brett in der Grabrede über den Verblichenen thematisiert wurde.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter und ich zucke zusammen. Hinter mir steht der Bademeister und fragt, ob ich gedenke, noch heute zu springen. Was bildet sich der impertinente Rüpel eigentlich ein? Frage ihn, woraus er schlösse, dass ich nur hier oben stünde, um die Aussicht zu genießen. Ungünstigerweise versperrt er aber den Weg zur Treppe und verhindert einen formvollendeten divenhaften Abgang. Die einzige Möglichkeit den Turm zu verlassen, ist der Sprung ins Becken.

Um das Unglück perfekt zu machen, beginnt die Freundin mit den Kindern rhythmisch zu klatschen und meinen Namen zu skandieren. Nach und nach stimmen alle Badegäste ein, deren Zahl sich explosionsartig zu vermehren scheint, ein. So hallt mein Name wieder und immer wieder durch das Schwimmbad. Beschließe sofort morgen, meinen Namen zu ändern. Und meine Identität.

Da der Bademeister immer noch mit verschränkten Armen den Weg zur Treppe blockiert, ergebe ich mich meinem Schicksal. Ich drehe mich um und trete einen Schritt nach vorne in die Tiefe. Wild mit den Armen rudernd stürze ich in die Tiefe. Denke dabei mal wieder, ob die grundgesetzlich geschützte Würde des Menschen tatsächlich unantastbar ist, wo man sie sich doch selbst rauben kann. Meine Zweifel bestätigend lande ich mit der Anmut und Eleganz eines brünftigen Rhinozerosses im Becken.

Unter Wasser schießen mir Bilder von Leonardo di Caprio durch den Kopf, wie er vor der untergehenden Titanic im Wasser treibt. Halte hektisch Ausschau nach Kate Winslett, kann sie aber nicht entdecken. Halluziniere wahrscheinlich aufgrund der zu lange verminderten Sauerstoffzufuhr unter Wasser. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreiche ich den Beckenboden, wo ich mich abstoße, um wieder an die Oberfläche zu gelangen.

Unter dem tosenden Beifall der Familie und aller Badegäste tauche ich wieder auf. Die Arme in die Höhe reißend und immer noch im Titanic-Modus schreie ich in die Menge: „Ich bin der König der Welt“. Das Gegenteil beweisend paddle ich hektisch zum Beckenrand.

Während sich die Kinder beim Bademeister ihren erfolgreichen Sprung abzeichnen lassen, denke ich darüber nach, welches Schwimm-Projekt ich als nächstes angehen könnte. Vielleicht ein Apnoe-Tauchkurs. Oder endlich das Seepferdchen-Abzeichen unter regulären Bedingungen ablegen. Werde mal den mit meinem Vater befreundeten Bademeister kontaktieren. Sollte dabei aber nicht vergessen, nach seiner Bankverbindung zu fragen.


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