Jedes Konzert bietet Gelegenheit über Musik nachzudenken

Jedes Konzert bietet Gelegenheit über Musik nachzudenken

Der Konzertkritiker Marc Munch (c) Philippe Schalk

Marc Munch ist in Straßburg der Doyen der Musikkritik. In diesem Interview lässt er hinter die Kulissen eines Berufes blicken, der für viele Menschen ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Wie alt waren Sie, als Sie ihre erste Kritik schrieben und wie kamen Sie überhaupt mit der Musik in Berührung?

Musikpflege war zuhause eine Selbstverständigkeit. Mit dreizehn Jahren sang ich Sopran im Chor und ein Jahr später wurde ich im Konservatorium aufgenommen, zuerst im Fach Klavier. Mit 17 trat ich dann dort in die Orgelklasse ein. Am Konservatorium hatte ich nach Klavier und Orgel auch Harmonie und Kontrapunkt studiert, den Dirigentenkurs beim Konservatoriumsdirektor Fritz Münch absolviert und mit Diplomen (Premier Prix und Diplôme de perfectionnement) abgeschlossen. Mein Orgellehrer dirigierte nebenbei auch Chor und Orchester, mit welchen er Bachkantaten aufführte. Ich wurde später – 1962 – sein Nachfolger an der Leitung dieses Chors und in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten dirigierte ich selbst über hundert Kantaten und einige Oratorien.  Mit dem Orchester, das mir zur Verfügung stand, haben wir in derselben Zeit Barockmusik in vielen Konzerten in Städten und Dörfern der Gegend gespielt. Studium und Praxis sind eine gute Schule um den musikalischen Prozess zu verstehen, den man besprechen soll.  Doch die beste Lehre dazu ist das Erlebnis der Musik, an jedem Abend…..

An der Universität habe ich natürlich auch Musikwissenschaft studiert, wobei mir die reich ausgestattete Bibliothek des Instituts nützlich war. Doch ich zielte nicht darauf ab Musiklehrer zu werden, was mir offen gestanden wäre. Ich hatte als Hauptfächer Geschichte und Geografie gewählt, die ich dann nach den Examen und Concours in verschiedenen Lycées in Séléstat, Bischwiller und Strasbourg und eine Zeit lang in einem College lehrte. Ich habe gerne unterrichtet, und diese weltumfassenden Stoffe waren weniger Gegensatz zur Musik als Erweiterung des Horizonts:  Zeit und Raum sind gemeinsame Dimensionen aller Strukturen.  Die Kunstgeschichte muss auch in die Perspektive der allgemeinen Geschichte und Entwicklung der Kulturen gestellt werden. Und in einer Musikkritik eine Metapher geografischen Ursprungs einzuschalten, so etwa die Alpensymphonie von Richard Strauss als Mittelgebirge mit Wald und Wiese zu beschreiben, kann auch ein Vergnügen sein.

Nun komme ich endlich zur Beantwortung des ­Beginnes Ihrer ersten Frage. Neben Konzerttätigkeit und Lehreramt im Gymnasium ist Musikkritik eigentlich mein dritter gleichzeitig ausgeübter Beruf geworden, dem ich mich dank guter Gesundheit und dem Verständnis der Meinen ebenso intensiv widmen konnte.

Ich war 19 ½ Jahre alt, also ein junger Student, als ich meine erste Kritik schrieb. Ich wurde zur Zeitung gerufen, da jemand für die deutsche Ausgabe der DNA fehlte: Ein Mitarbeiter war beim Militärdienst.  Als Eintrittsexamen musste ich einen Artikel über das Wiener Oktett übersetzen. Zwei Tage später, am Karfreitag 1952 war das Requiem von Brahms Anlass zu meinem ersten M.M. unterzeichneten Artikel , der in der zweisprachigen Ausgabe  der Zeitung veröffentlicht wurde. Seitdem bin ich Mitarbeiter der Dernières Nouvelles d’Alsace geblieben.

Wenn Sie die Artikel Ihrer Anfangszeit ansehen, wie beurteilen Sie diese heute?

Den Inhalt kann ich zumeist noch verantworten, wie ich ihn geschrieben habe, abgesehen doch von den sprachlichen Unbeholfenheiten des Anfängers.  Gewiss unterliefen einem auch einige Dummheiten. Ich musste ja anfänglich auch mehrere Sparten abdecken. Zu Konzert, Oper und Ballett kamen auch Jazz und Variétés, und auf den für mich weniger klassischen Gebieten ließ ich mich doch von Freunden beraten. Es machte ­Spaß, ­Louis Armstrong, Sidney Bechet, Gillespie und andere Größen des New Orleans-Stils zu hören. Und es war auch ein Erlebnis, eine Edith Piaf bei einem ihrer letzten Konzerte zu hören,  bei welchem neben der elend aussehenden Chanson-Sängerin im ersten Teil des Abends  ein heiß schwitzender Debütant mit Namen Jacques Brel  aufgetreten war. Mit dem Aufkommen des Rock-n’Roll habe ich ohne jegliches Bedauern auf die Berichterstattung dieser lärmigen Events verzichtet.  Ich hatte 1970 über Jimmy Hendricks geschrieben, und vierzig Jahre später, anlässlich einer Hommage an Hendricks wurde mein Artikel erwähnt, und ich war sehr erstaunt, dass der Journalist zu denselben Schlussfolgerungen wie ich gekommen war.

Bis Ende des siebziger Jahre war der Journalismus noch in der „Ära Gutenberg“, in der es noch recht „sportlich“ zugegangen ist, da die Artikel sehr rasch nach den Konzerten geschrieben und gedruckt wurden. Es kam oft vor, dass wir nach dem Konzert im Sängerhaus oder der Oper im Theater am Broglie-Platz schnell in die Redaktion rannten und dort schrieben. Den Umfang in Zeilen und die Zeit des Redaktionsschlusses erfuhren wir bei Ankunft. „Bis 1 Uhr machst mir 120  oder 130 Zeilen!“ Da war nicht viel Zeit über den Aufbau des Artikels nachzudenken! Und während man schrieb, kamen manchmal noch Aufforderungen, Zeilen hinzuzufügen oder wegen Platzmangel zu streichen. Die ersten Seiten des Manuskriptes wurden oft, kaum geschrieben, abgeholt.  Und so hatte man keine Übersicht mehr über den gesamten Inhalt des Artikels. Das letzte Blatt lieferte man selbst ab und hatte schon 5 Minuten später den Abdruck zur immer hastigen Korrektur. In der saturnisch bleischweren Atmosphäre der Druckerei setzten sich die Rotationsmaschinen in Gang und ich wartete auf die ersten druckfrischen Exemplare, um mit der Zeitung unterm Arm nach Hause zu gehen. Heute hat man ja viel mehr Zeit, um zu schreiben, weil die Artikel nicht so kurz nach den Konzerten erscheinen. Und sie werden  auf dem Computer getippt  und direkt in die Redaktion gesandt.  Lang bedachte Zeilen sind im Inhalt nicht immer besser  als  diejenigen, die im Eiltempo verfasst  wurden.

Was fasziniert Sie eigentlich an der Konzertkritik?

Jedes Konzert, wie auch jede Opernaufführung, in der das Szenische genau wie das Musikalische in Betracht gezogen werden muss, ist einmalig. Ich bin der Meinung, dass man für das Publikum schreiben muss, und auch für die ausführenden Künstler. Das kann ihnen allen dienlich sein.  In allen Fällen schlüpft der Kritiker in die Rolle eines Vermittlers. Ich schreibe ja über Oper, Konzerte und Kammerkonzerte und mag alle drei Gattungen gleich gern. Jedoch ist ja nicht jedes Konzert gleich interessant. Aber jedes bietet Gelegenheit, über Musik nachzudenken. Aber wenn man glaubwürdig sein will, muss man wissen, worüber man schreibt. Ich war mit einigen Dirigenten oder Interpreten auch nicht immer einer Meinung und habe das aber auch immer zu verstehen gegeben, selbst wenn die Formulierung “durch die Blume” gelesen werden musste. Nach einem Konzert ­hatte ich dem Dirigenten des Orchesters einmal gesagt, ich sei mit  seiner Interpretation der 1. Symphonie von Brahms nicht einverstanden.  Daraufhin hörte ich: “Wollen Sie mit mir ein  Duell ausfechten?” Da musste ich antworten: „Angefangen haben ja Sie!“ Aber wir haben dann doch eine gute Zeit lang diskutiert und argumentiert. Mir geht es auch darum, das „Warum“ einer Interpretation zu verstehen.

Das OPS (Orchestre Philharmonique de Strasbourg) veranstaltet 1-2 Mal im Jahr Auslandsreisen. Halten Sie diese für wichtig?

Ja klar, und ich begleite die Musiker sehr gerne auf Tournee. Es ist wichtig, dass das Orchester sich auswärts vorstellen darf. Für die Musiker selbst ist es eine Herausforderung, die sie hoch anspornt. Sie spielen in einer anderen Umgebung, in anderen Sälen, das ist eine große Bereicherung. Und solche Reisen zeugen auch von der breiten Ausstrahlung, die das Straßburger Orchester hat. In Wien, München, London­, Madrid, Athen, in italienischen Städten und in Amsterdam zu spielen trägt auch zu seinem europäischen Ruf bei. Und selbst im eigenen Land ist es nicht unnütz, sich bekannt zu machen:  Als Marc Albrecht zum Beispiel die Salome von Strauss in Paris dirigierte, entdeckten einige Amtsbrüder der Hauptstadt erst das wahrhaft hohe Niveau des OPS , das sie bei  ihren Besuchen in Strasbourg oft nicht gebührend anerkannt hatten.   Der Erfolg ist aber auch im gewohnten Kreis des Palais de la musique et des congrès messbar. Was die Dirigenten anbelangt, so hat sich in den Jahrzehnten, seit ich ihre Arbeit mitverfolge, viel geändert. Heute zum Beispiel wählt das Orchester in Mitbestimmung jene Dirigenten, die wieder kommen dürfen. Ein Dirigent muss nicht nur sein künstlerisches Können unter Beweis stellen, sondern auch seine Psychologie und seine pädagogischen Fähigkeiten in der Zusammenarbeit mit einem Orchester.

Welche bekannten Dirigenten haben Sie selbst erleben können?

Furtwängler zum Beispiel, den ich kurz vor seinem Tode, und Szell, in Salzburg gesehen habe. Sie hatten zu Beginn ihrer Karriere in Strasbourg dirigiert,   wie auch Klemperer . Ich erinnere mich noch gut an Hans Rosbaud als ersten Dirigenten des Südwestfunkorchesters Baden-Baden.  Rosbaud hatte während des Krieges als Generalmusikdirektor in Strasbourg für den Rosenkavalier 48 Proben angesetzt, etwas, was heute gar nicht mehr machbar wäre. Aber die Arbeit, die er damit geleistet hat, die Spuren, die er damit hinterließ, waren 20 Jahre später noch hör- und spürbar. Charles Munch kam oft mit dem Orchéstre National de France zu unserem Festival, im Mai 1952 sogar mit seinem Boston Symphony Orchestra.   Viele sehr namhafte Dirigenten gastierten in Strasbourg schon zur Zeit, als die Stadt noch zwei Symphonieorchester besaß. Monteux dirigierte in den Nachkriegsjahren hier den Sacre  du printemps von Strawinski, ein Glanzwerk das er 1913 bei den Ballets russes uraufgeführt hatte.

Das Straßburger Musikfestival im Juni hat viele große Dirigenten eingeladen. In Baden-Baden und in anderen Festivals hat man  bedeutende Sommitäten am Pult sehen können. Die Dirigenten, die man nicht live angetroffen hat, so Leonard Bernstein  (er starb kurz bevor er in Strasbourg gastieren sollte),  sind noch auf dem Fernsehschirm sichtbar. Heute entgeht einem kein großer Interpret mehr.

Lassen Sie uns noch ein wenig über die Feinheiten einer Kritik sprechen…

Man sagt, es gäbe einen Unterschied allein schon zwischen französischen und deutschen Kritiken. Auf rechter Seite des Rheins sind die Kritiken meist ausführlicher.  Hier im Elsass schreiben wir vielleicht gründlicher über Musik als in anderen Gegenden des Landes, weil unser Konzertleben hier eine lange Tradition besitzt.  Andererseits muss man auch feststellen, dass eine Zeitung ein industrielles Produkt ist, und in einer Tageszeitung wenig Platz für lange und allzu scharfe Analysen ist. Der Platz in einer kulturellen Seite ist heute eng bemessen und im Gegensatz zu früher hat sich das Angebot an Konzerten sehr erweitert.

Mit der Zeit habe ich meine Leserschaft oft auch persönlich kennen gelernt und als eine kleine Aufmerksamkeit für sie gebe ich , wenn es geht, den Titel der Zugaben an, wenn es diese im Konzert gibt.  Denn ich weiß genau, dass viele Hörer wissen wollen, was nicht im Programm gestanden ist, aber vor allem erwarten sie eine  solide  wenn auch kritisch fundierte Erläuterung des Konzertgeschehens.  Der Artikel soll ihre Rezeption der Musik stärken, und vielen  Menschen immer wieder Lust geben ins Konzert oder in die Oper zu gehen.

Was ist für Sie die größte Herausforderung?

Die Schwierigkeit, umfassend in dem Format, das einem zur Verfügung steht, zu berichten. Der erste Satz einer Kritik ist am Schwierigsten zu verfassen. Von diesen ersten Zeilen ausgehend baut sich die Kritik auf, und die Sätze fließen aus der Feder.  Grundsätzlich darf der Musikkritiker nie vergessen, dass auch er eine Verantwortung trägt, in Hinsicht auf das kulturelle Leben seiner Stadt und dass es auch ihm obliegt, Anwalt der geistigen und humanistischen Werte der Kunst zu sein.  Eitelkeit ist da nicht angebracht.


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