Parolen haben manchmal kurze Halbwertszeiten. „Die Mauer muss weg“ hielt fast ein Vierteljahrhundert. Nun soll sie allerdings bleiben. Denn Mauerbekenntnisse passen überhaupt nicht schlecht in diese Zeit. Sie sind ein Lebensgefühl.Foto: marqs/photocase.com
Vor nicht einmal zwei Jahrzehnten tanzten Berliner verächtlich auf der Mauer, stemmten Brocken heraus, sorgten dafür, dass Segmente von ihr einbrachen. Zwei Jahrzehnte später sind vielleicht jene, die damals Presslufthammer ansetzten, wieder an der Mauer. An dem, was davon übrig ist. Diesmal wollen sie den Abriss verhindern, diesmal soll die Mauer nicht weg, sie soll bleiben. Ein bisschen Mauer darf schon sein. Keine ganze, keine endlose – nur ein wenig Gemäuer fürs in memoriam.
Der Schwenk von Mauerabrissbekundung zu Mauerromantik dient dabei durchaus als Parabel auf die Berliner Republik, die sich mit dem Fall des anderen Deutschland unummauert formierte. Denn auch wenn man in diesem Land die Mauer plötzlich beschützen möchte, so kümmern all die anderen Mauern, die wir gesellschaftlich hochziehen und mit Stacheldraht drapieren, reichlich wenig. So ein wenig Schutzwall ist doch trendy. Als East Side Gallery ebenso wie als unmerkliche Barriere für gesellschaftliche Gruppen.
Der Wutbürger ist nur gegen Beton oder Entbetonierung in Wut. Ansonsten bleibt er ganz Bürger. Unsichtbare Gemäuer sind sein Metier nicht. Er ist ein architektonischer Mauerstürmer, kein idealistischer, kein humanistischer. Bahnhöfe und Mauerwerk machen ihn scharf, Sozialabbau und Prekarisierung nicht so sehr. Bei Occupy hält er sich raus. Das ist ihm zu sozialverkitscht, zu wenig sachgezwängt und ist nicht aus Mörtel und Stein. Die transparenten Mauern, die sich der Elitestaat auf Grundlagen neoliberaler Ökonomie hochgezogen hat, werden von ihm nicht gestürmt. Vielfach rechtfertigt er sie sogar und will sie noch höher errichten.
Als in meiner Nachbarschaft vor einigen Jahren ein benachbartes Gymnasium umrüstete, auch Haupt- und Realschüler aufnehmen wollte, da entbrannte der elitäre Klassenkampf: Jetzt müssten sich die eigenen Sprösslinge mit dem proletarischen Bälgern ärgern, hat es aus der Elternschaft geunkt. Wie sehr hätte man sich da eine Mauer gewünscht, einen antiproletarischen Schutzwall. Es braucht nicht immer einen Spitzbart für Wälle. Manchmal reicht auch einfach nur der Dünkel elitärer Klassen, die sich ihrer beschützenden Umfriedung beraubt fühlen.
Die Wutbürger an der East Side Gallery haben einen Ort, an dem sie sich versammeln, wohin sie pilgern können, ein mit dem Auge erfassbares Bauwerk. Am Schutzwall gegen Armutszuwanderung, den man derzeit errichtet und mit chauvinistischen Selbstschussanlagen ausstattet, findet man keine Demonstranten. Am anti-sozialstaatlichen Schutzwall dieselbe gähnende Ödnis. Wie Kleingläubige glauben sie nur an das, was sie mit dem Augen zu erkennen vermögen, was man nur spürt, nur an vielen Erscheinungen zusammenzählen kann, was nicht gesehen wird, will man nicht so richtig glauben und wahrnehmen. Es sind emotionale Mauerblümchen, die dem Materialismus der Zeit entsprechen und bekennen: Man sieht nur mit dem Auge gut.
Es gibt Epochen, da wurden einem die Mauern, die mit Freiheitsberaubung gleichgesetzt wurden, zu viel. In denen will man Abriss. Und dann gibt es Zeiten, da hat man einen Bezug zur Mauer, will sie stützen, nicht niederreißen und hat nichts gegen die beschränkte Freiheit, die die Mauer impliziert. In diesen Zeiten ruft man, dass die Mauer bleiben soll. Architektonisch ebenso wie idealistisch. Die East Side Gallery sollte tatsächlich aus Gründen der Erinnerung bleiben. Damit wir uns daran erinnern: Es gibt viele Mauern, die nicht erstürmt werden, die man hinnimmt und für die man sogar dankbar ist. Jede Zeit hat ihre speziellen Schutzwälle.