In Rom, Neapel und Mailand versammeln sich ständig tausende Demonstranten zu friedlichen Protesten – Foto: © Joseph Loiacono
Seit Wochen gehen die Bürger Italiens auf die Straße und protestieren. Einen so lang anhaltenden und sich durch alle Bildungs- und Alterschichten ziehenden Protestaufmarsch gab es bisher noch nicht in dem Land, das ein “Kernland” der EU ist. Italien ist Gründungsmitglied der Europäischen Union und seit Anfang an in der Eurozone. Italien ist Mitglied der Vereinten Nationen, der OECD, der NATO, der G8 und der G20. Italiens Volkswirtschaft gehört zu den größten in Europa und im Schnitt der siebenjährigen Finanzperiode ist das Land nach Deutschland und Frankreich etwa der drittgrößte Beitragszahler. Im Jahr 2011 unter Monti war es sogar aufgrund von “Sondereffekten” (1) der größte Beitragszahler der gesamten Union. Währenddessen ist die Staatsverschuldung zum Ende des Jahres 2012 auf 127,4 % des BIP (BruttoInlandsProdukt) angestiegen. (2) In absoluten Zahlen heisst das über 2.000 Milliarden Euro, ein neuer Schuldenrekord. (3) Die deutschen Haupt-Medien vermeiden es, über Italiens-Protestwelle und die Unzufriedenheit der “normalen” Menschen in dem Maße zu berichten, wie es nach unserer Meinung nötig wäre, um ein realistisches Bild aus und von Europa zu zeichnen. (Es scheint dies entgegen seines eigentlichen Auftrages auch nicht im Interesse des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu liegen.*)
Über die Situation in Italien sprachen wir mit Giuseppe Loiacono, der seit dem Beginn an den Protesten teilnimmt. Er ist einer der Menschen, die im Italien von heute keine Perspektive haben, einen Platz in der Arbeitswelt zu finden. Wie viele seines Alters lebt er ohne eine soziale Absicherung mitten in Europa. Gemeinsam mit den Menschen auf der Straße verlangt er nach grundlegenden Reformen.
Er arbeitet als freier Journalist – Foto: © Joseph Loiacono
Mein Name ist Joseph Loiacono, ich lebe im süditalienischen Bari, der Hauptstadt Apuliens. Da ich zur Zeit keine wirklich bezahlte Arbeit habe und eine Leidenschaft für Journalismus besitze, arbeite ich als Freier Journalist mit Blasting News und RagusaOggi zusammen, zwei Online-Zeitungen. Außerdem bin ich dabei, einen persönlichen Blog zu entwickeln.
Der fortdauernde Protest in Italien ist beispiellos in der Geschichte dieses Landes; er kam absolut spontan auf und verläuft friedlich. In den letzten Tagen des Jahres 2013 hat er sich verstärkt, da die Bevölkerung den Rücktritt des Staatspräsidenten Giorgio Napolitano gefordert hat. Denn Napolitano hat seinen verfassungsmäßigen Auftrag nicht erfüllt, die wirtschaftlichen Interessen der Bürger nicht wahrgenommen und die Rolle politischer Opposition nicht anerkannt.
Schwerpunkte und dauerhafte Proteste sind in Rom, Neapel, Mailand zu finden. In Rom ist es ein harter Kern von über 4.000 Protestanten, die sich immer wieder versammeln. Aber auch entlang der der großen Straßen und Eisenbahnlinien. Die großen Plätze sind beinahe ständig mit Demonstranten gefüllt. Auch mit den spanischen “Indignados” gab es “länderübergreifend” Zusammenarbeit im Protest.
Protest mit Italiens Triciolore: “Italien ab 9. Dezember geschlossen – Wir tun das alles für die zukünftige Generation” – “Wir Bürger werden ausgebeutet und wollen grundlegende Veränderungen” – Foto: © Joseph Loiacono
Die Wirtschaftskrise in Italien, die im Grunde bereits mit dem Eintritt in die EU begonnen hat, hat sich seit 2006 enorm verschlimmert. Inzwischen sind wir bei ernsten, unhaltbaren Zuständen angekommen, ohne Aussicht auf Besserung. Die Zahl der Armen nimmt ständig zu. Viele haben selbst das geringste Einkommen verloren. Viele haben nicht einmal mehr ein eigenes Zuhause und werden von anderen versorgt. Sparen kann sowieso keiner mehr etwas, da alles für Steuern und das Lebensnotwendige draufgeht.
Junge Menschen bekommen keine Arbeit mehr und versuchen häufig auch gar nicht mehr, eine zu finden, da es ohnehin aussichtslos ist. Wer doch Arbeit findet, wird ausgebeutet und sieht sich gezwungen, prekäre Arbeitsverträge zu unterschreiben, die ihm keine Lohnfortzahlung im Fall von Krankheit oder Verletzung und auch keine Rentenansprüche gewähren. [siehe Video] Schwarzarbeit, Korruption und Gesetzlosigkeit nehmen überhand. Die Städte sind nicht sicher, und die Polizei nimmt ihre Aufgaben nicht wahr.
Der Norden kommt nicht mehr voran; der Süden fällt immer weiter zurück. Hier wie dort werden Stundenlöhne von 2 bis 5 € bezahlt. Die Jungendarbeitslosigkeit liegt derzeit bei etwa 30% im Norden und bei etwa 45% im Süden! Ein großer Teil der jungen Generation wird bereits ökomisch ausgeschlossen. Das Volk würde den Euroraum sofort verlassen. Die meisten haben kein Vertrauen in Europa, am wenigsten in die Rolle Deutschlands. Angela Merkels Spar-Politik wird als Qual empfunden.
Häufig greift die Polizei unbewaffnete Demonstranten an, besonders die Jüngsten. Es wurde hingegen auch oft beobachtet, dass die Polizei Solidarität mit den Demonstrierenden zeigte. Beides zeigt etwas von der Lage der Menschen und auch der Polizisten in ihren Rollen [als Privatperson oder Teil des Staatsapparats]. Die Regierung leugnet Übegriffe der Polizei offiziell allesamt.
Das politische System ist für viele Jahre lahmgelegt, das Parlament entmachtet, das Verfassungsgericht hat das derzeit geltende Wahlgesetz ‘Porcellum’ für verfassungswidrig erklärt; das gesamte politische Geschehen verläuft irregulär in ungesetzlichen Bahnen.
Die italienischen Medien berichten nicht angemessen über Selbstmorde oder über die Missstände in der Regierung und beim Staatspräsidenten. In allen Fällen wird die schrecklich finanzielle Situation der Bürger komplett verharmlost. Die Medien tarnen und schützen die Regierung durch eine offizielle Fassade der Vertrauenswürdigkeit.
Die Rolle extremer Parteien in Italien ist ganz marginal, Gott sei dank. Genausowenig schafft es die Regierung, Demonstrationen zu infiltrieren oder gewalttätig erscheinen zu lassen. Jedoch versuchen sie, die öffentliche Meinung mit Halwahrheiten zu manipulieren.
Das italienische Volk verlangt vor allem nach einem neuen Wahlgesetz und nach mehr Gerechtigkeit, nach einer grundlegenden Arbeitsmarktreform; nach dem Rücktritt des Staatspräsidenten und dem Ministerrat; und nach sofortigen Neuwahlen, falls keine Reformen erfolgen.
Kürzlich hat sich der Protest darauf verlegt, die traditionelle Neujahrsrede des Staatspräsidenten zu boykottieren – und das mit Erfolg. Medien und Regierung behaupten freilich das Gegenteil. Immerhin hat Giorgio Napolitano für Januar seinen möglichen Rücktritt in Aussicht gestellt.
“Wir tun das alles für die zukünftige Generation”, sagt Joseph noch einmal, als es um die Bedeutung der Slogans auf den Transparenten ging. Er setzt kein großes Vertrauen darauf, dass sich für ihn und seine Generation kurzfristig etwas zum Positiven ändern könnte. Bei den nächsten Protestaktionen wird er bestimmt wieder dabei sein, denn grundlegende Reformen wird es ohne öffentlichen Druck nicht geben.
Vielen dank an Joseph Loiacono und herzliche Grüße
der Autoren und unserer Leser nach Italien.
das Gespräch führte Hans-Udo Sattler,
die Übersetzungsarbeit übernahm Hanno Herzler
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Quellen – weiterführende Links
Fotos mit freundlicher Erlaubnis © Joseph Loiacono
(1) Die Zeit Monti will Italien als EU-Beitragszahler entlasten
(2) Basisinformationen über Italiens Wirtschaft auf Wikipedia
(3) Statista.com: Italien Staatsverschuldung
(4) Video: Italien Youtube.com, uplaoder Euronews.de
*Info: Der Rundfunkstaatsvertrag nennt in § 11, der den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Er beschreibt u.a. Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit. Siehe dazu “Telemedicus”: http://bit.ly/ao8Qjj