Ist Merkel blind oder nur skrupellos?

Von Stefan Sasse
Merkels Äußerungen, dass der Süden Europas sich gewissermaßen in ein Lotterleben flüchte und dann von den hart arbeitenden Deutschen wieder hochgestemmt werden müsse, trafen sicherlich einen Nerv im viel gerühmten "gesunden Volksempfinden".

Kaum jemand, der sich auf die Frage nach den Griechenlandhilfen nicht echauffieren kann: warum muss der brave deutsche Michl den faulen Griechen den süßen Lebensabend zahlen? Wer jetzt nicht in Schwärmereien gerät, wenn er an eine Rente von nicht einmal 600 Euro in überteuerten Mietskasernen denkt, der denkt vielleicht sogar noch weiter. Was tut Merkel da eigentlich? Klar, sie streichelt die Volksseele, zeigt ein bisschen die Kümmerin - schließlich ist die Furcht, dass das ganze Geld am Ende weg ist, absurderweise viel realer und greifbarer als 2009/10 bei der Rettung der Banken -, aber in irgendeiner Art und Weise rational ist ihre Politik nicht. Stattdessen befindet sie sich in einer Tankstelle, in der alle Leitungen leck sind, und spielt hemmungslos mit Zündhölzern. Macht ja nichts, sie ist schließlich versichert. 

Die Argumente für und gegen die Rettung von verschuldeten Staaten (die übrigens wie Irland zeigt keineswegs alle in Henkels "unsolidem Süden" verortet sind) sind in den letzten Tagen oft genug wieder hoch und runter gebracht worden, und ich stehe wahrscheinlich mit der Mehrheit wenn ich sage, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, welche Schuldenstruktur da gerade eigentlich wie genau umgelegt wird. Informiert wird man über diese Vorgänge ohnehin kaum, und kompliziert sind sie zu alledem auch noch. Ich denke aber auch nicht, dass die finanzpolitischen Fakten tatsächlich von großer Bedeutung sind. Wer glaubt, dass dem Problem mit Bonitätseinstufungen und Bilanzen beizukommen ist denkt naiv. Die Krise der europäischen Staaten - und wir sollten uns nichts vormachen, diese Krise betrifft alle - ist eine politische Krise. Sie wird auch nur mit den Mitteln der Politik gelöst werden können. Die Sparmaßnahmen, wie sie den Griechen aufgezwungen wurden, sind lediglich Statements in diesem politischen Streit. Deutschland, das maßgebliche Verantwortung für ihre Durchsetzung trägt, zeigt damit deutlich: "Ihr könnt uns mal." Der europäische Traum, er war einmal. 
Angela Merkel hat offensichtlich nichts von der schon fast Pathos geladenen Sympathie und Zuneigung zur europäischen Einigung, wie sie noch Helmut Kohl auszeichnete und in der Gerhard Schröder einen Hebel für politische Spielräume sah. Merkel betrachtet die Hebel als für Deutschland geschickt geeicht und vereitelt alles, was geeignet ist die Position dieser Hebel wieder zu verändern. Das Problem ist nur, dass eine Gemeinschaft nicht dadurch existieren kann, dass eine Minderheit gewaltsam ihren Willen durchsetzt. Was gerade in Brüssel geschieht ist letztlich eine Spiegelung der Konflikte, die die Globalisierung seit Beginn des letzten Jahrzehnts in alle Gesellschaften der Welt hineingetragen hat: wer etwas hat, macht mehr daraus und verteidigt es mit allen Mitteln gegen die nachrückenden Habenichtse. Zwar ist in Deutschland kaum eine Revolution der Habenichtse zu befürchten. Die politische Enthaltsamkeit der Abgehängten ist beängstigend, aber (noch) nicht kritisch. Wenn aber ganze Staaten dieses Spiel spielen, knirscht es schnell im Gebälk. Die herausragendste Leistung der EU war es bislang, Kriege in Europa zu verhindern. Sie war eine Geburt zweier Weltkriege, der Schlüssel, um Streit friedlich beizulegen. Wo früher die Millionen in feldgrau als Argument herhalten mussten, wenn die Mächtigen auf den Gipfeltreffen auf den Tisch schlugen, so tun dies heute die Millionen in Euros der Volkswirtschaften. Wir haben den Größten, also benutzen wir ihn.Dieses "Wir", und da sollte man sich keinen Illusionen hingeben, ist demokratisch legitimiert. Zwar sind es einige wenige Mächtige, die an den Hebeln spielen und sie auf ihre Interessen eichen, die sich gewissermaßen das Staatsschiff gekapert haben. Aber hinter ihnen steht bereitwillig das Boulevard-Volk, das begeistert "Ja!" brüllt, wann immer von Deutschland neuer Druck ausgeht, wenn anderen die Daumenschrauben angelegt werden. Das ist psychologisch verständlich. Nachdem man jahrelang als Nutznießer der sozialen Hängematte unter Verdacht stand, kann man es nun nach unten weiterreichen. Im Hass auf die faulen Griechen versöhnen sich Facharbeiter und Hartz-IV-Empfänger wieder. Merkel ist sich dieser Regungen voll bewusst. Dem Verdacht der Laxheit, der Verschwendung deutscher Steuergelder für die "faulen Pleite-Griechen" setzt sie sich sicherlich nicht aus. Und wer will im Hinblick auf kommende Wahlen auch gerne den Kampf gegen diese Position aufnehmen? Die Aussicht, in der BILD gegen das Verdauungsorgan des Volksempfindens argumentieren zu müssen, dürfte selbst den aufrechtesten Streiter verunsichern. 
Doch das Problem ist, ich sagte es eingangs, nicht wirtschaftlich, sondern politisch. Nicht die unsolide Wirtschaftsweise der Griechen, sondern das Parasitentum der deutschen Exportwirtschaft hat sie verursacht. Eine Lösung kann nicht kommen, indem sich alle die Hände im Niedergang reichen. Irgendjemand wird nicht tatenlos zusehen wollen, wie sein Land zum Nutzen der Finanzwirtschaft ausblutet. Und wenn das geschieht, wenn ein Konflikt innerhalb der EU bewusst auf einen Krach, auf eine Explosion hingesteuert wird - und Merkel lässt derzeit kaum Zweifel daran, dass sie dazu entschlossen ist -, dann kann das unabsehbare politische Konsequenzen haben. Das Auseinanderbrechen der EU wäre die Ur-Katastrophe des 21. Jahrhunderts, ein Paukenschlag, der die nächsten Jahrzehnte maßgeblich bestimmen dürfte. In welche Richtung ist dabei nicht abzusehen. Dass aber die Regierung offensichtlich bereit ist, das Risiko in Kauf zu nehmen, erschreckt über alle Maßen.   


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