Weshalb hatte er eigentlich nach jedem Besuch dieses matte Gefühl, dass die Stahltür nie richtig ins Schloss fiel? Warum schien es ihm, als würde seine Zelle, dieses dustere Verlies nicht verschlossen? Das war so als gestern der Pfarrer sein wöchentliches Gastspiel beendete. Dasselbe Gefühl neuerlich einige Stunden später, als der Anstaltspsychologe seinen täglichen Kurzbesuch abschloss - vermutlich jedoch nicht die Tür. Und immer wenn der junge Gimpel von Wärter, der ihm das Essen aus der Küche brachte, aus diesem dunklen Bunker wieder heraustrat, dünkte ihm ebenfalls, dass da diese dicke Tür, dieser Koloss gleich einer Tresortür, nicht schwer und behäbig ins Schloss fiel - geschweige denn, dass sie abgeschlossen würde.
Er war schon einige Wochen hier in seinem neuen Domizil unter Tage, mittlerweile gewohnt an das Halbdunkel, an die Nässe, die von den Gemäuern troff. Es gab notwendiges Mobiliar, gab ein Bett und Sitzgelegenheiten. Sogar einen Fernseher. Und überdies ein Waschbecken, auch wenn der ganze Raum ein einziges Waschbecken war. Allerdings hatte er mehr Platz als nötig, so viel Platz, wie er in seinem Leben zuvor nie in einer seiner Wohnungen besaß. Zwanzig, fünfundzwanzig Quadratmeter mögen es schon gewesen sein. Größe ohne Luxus. Das Holz von Stuhl und Tisch beispielsweise war so durchzogen von Wasser, dass es sich fast gummiartig anfühlte und bei Belastung leicht nachgab. Fenster wurden in der Planungsphase des Gebäudes aber offensichtlich vergessen. Es war kein mittelalterliches Verlies, kein Kerker - aber es erinnerte mehr daran, als an eine Zelle des modernen Strafvollzuges.
Wenn er es sich so recht überlegte, so quälte ihn dieser Gedanke, ob denn verschlossen sei oder nicht, schon seit dem ersten Tag seiner Gefangenschaft in dieser Höhle. Als man ihn hierher brachte, ward ihm bereits so, als habe man die Tür nur hinter sich zugezogen. Nur war er anfangs noch zu benommen, um sich darauf einen Reim zu machen. Benommen und mitgenommen vom Prozess und dem Urteil. Er hatte wahrlich andere Gedanken und Sorgen als Türen, die nicht richtig schlossen.
Wochen gingen ins Land, ins Verlies, in die Knochen.
"... solange, bis das Leben aus seinem Körper weicht", hatte er damals, er saß in der Anklagebank, benebelt vom Prozessverlauf, duselig von Plädoyer des Staatsanwaltes, vernommen. Das Urteil stand also fest.
Anfangs kettete man ihn fest. Er hatte zwar große Bewegungsfreiheit, konnte aber den hinteren Teil seines Verlieses nicht verlassen. Seit etwa zwei Wochen entband man ihn - nicht von Pflichten, die es hier offenbar ohnehin nicht gab: von der Kette. Er war plötzlich ein freier Mann in der ihm zugeteilten Unfreiheit. Bis vor zur Tür wagte er sich aber nie. Was ihn jedoch fernhielt, wusste er nicht genau. Vielleicht war es die Angst, dabei ertappt zu werden, Der Gefangene versucht zu fliehen!-Rufe zu hören, heranstürmende Wärter, schmerzhafte Schläge und Tritte - und danach? Etwa wieder Ketten?
Und was, so grübelte er, wenn die Tür wirklich unverschlossen oder gar bloß angelehnt wäre? Bei diesem Gedanken, die Flucht, das Überleben vor Augen zu haben, wurde ihm schlecht. Hoffnung würde das ergeben - und gerade die hat er wochenlang niedergerungen. Er war über die Hoffnung hinweg. Endgültig.
Sein Anwalt machte ihm nach dem Prozess noch Hoffnungen: Revision einreichen und alles würde nochmal gut. Selbstüberzeugt war der Mann ja und er selbst war somit auch überzeugt - Hoffnung eben, wie sie vorkommt im menschlichen Dasein. Doch er wurde enttäuscht, Revisionantrag abgeschmettert. Danach ein neuer Hoffnungsschimmer: Gnadengesuch hieß der. Abermals enttäuscht. Sein Bruder besuchte ihn mehrfach und erklärte ihm zuversichtlich, er würde einen relativ guten Bekannten aus dem Justizministerium kontaktieren - natürlich zerschlug sich auch diese Hoffnung; der Bekannte wollte nicht mehr bekannt sein. Enttäuschung, wieder Enttäuschung, beharrlich Enttäuschung - und unerfüllte Hoffnung, je und je gescheiterte Hoffnungen.
Nie waren es die Menschen, zuversichtliche Anwälte etwa, oder mit Beziehungen bekannte Brüder, die seine Moral brachen - es war die Hoffnung, die sich enthusiastisch ins Denken schlich und dann total ernüchtert abzog und verbrannte Erde hinterließ. Die Hoffnung war wie ein Generalissimus aus dem Dreißigjährigen Krieg. Sie zeigte sich ihm als rücksichtsloser Wallenstein. Erst ins Gefecht, Freudentaumel, Kraftprotzerei, mit Hakenbüchsen und Arkebusen zielsicher angelegt - danach Rückzug nach Fehlschüssen und unwirtlich gemachtes Terrain in der Seele. Von den Menschen, die ihn im Stich ließen, war er nur bedingt enttäuscht - die Hoffnung, dieses schizophrene, irrationale Gefühl war es, was ihn enttäuschte.
Wenn also die Welt ein hoffnungsloser Ort ist, dachte er sich stichhaltig, dann ist der, der noch Hoffnung in sich trägt, falsch in dieser Welt. Quasi ein hoffnungsloser Fall, würde man umgangssprachlich sagen. Sprache bildet oft die Realität nicht getreu ab; Umgangssprache verfälscht mehr als sie belichtet, ist zu vage strukturiert. So auch hier, denn genau das wollte er ja werden: ein hoffnungsloser Fall. Seelisch verträglicher ist es, als hoffnungsloser Fall durch eine hoffnungslose Welt zu stolpern. Hoffnung ist die Mutter der Dummen, weiß ein polnisches Sprichwort - einem Volk, das so viel gehofft hat und so oft enttäuscht wurde, zerrissen, aufgeteilt, überrannt, kann man solche Sentenzen nicht verübeln.
So entschloss er sich, alle Hoffnung fahren zu lassen. Er verfiel einige Tage in mönchisches Repetitio: "Ich werde sterben, ich werde sterben, ich werde sterben..."Wie ein mit Oberkörper wippender Jude an der Klagemauer, wie ein muslimisches Klageweib, wie ein katholischer Fastenmönch im Hungerwahn, wie ein Junkie im Kiff-Mantra lallte er tagelang einen Singsang vor sich her. "Ich werde hingerichtet, hingerichtet, hingerichtet..."
Siehe da: es gelang - aber ihm war klar, dass es ein zerbrechlicher Erfolg war, denn eine offene Tür würde die mühevoll erarbeitete, erlallte, sich hineinrepetierte, wiedergekäute Hoffnungslosigkeit außer Kraft setzen - es gäbe einen Rückfall, danach wahrscheinlich, nein ganz sicher, eine neuerliche Enttäuschung. Die Tür war daher für ihn unantastbar, es gab sie für ihn nur verschlossen - es gab sie gar nicht für ihn. Sie war der Zugang seiner Besucher, aber kein möglicher Ausgang des Besuchten. Er trat in jenen Tagen niemals näher als etwa drei Meter an sie heran. Schweifte sein Blick ab, sehnsüchtiges Gestiere auf diese Maueröffnung, so rief er sich umgehend zur Vernunft. Ein Drahtseilakt an Selbstdisziplin.
Die Gespräche mit dem Anstaltspsychologen boten Kurzweil. Sie waren zwar flüchtig, bruchstückhaft - denn er blieb jeweils einige Minuten. Hin und wieder setzte er sich an den Tisch, dann philosophierten sie. Sie philosophierten nicht die Philosophie großer Geister; es war die Philosophie kleiner Gefangener - passende Gedanken im passenden Umfeld. Allgemeinplätze manchmal, Freiheitsgewäsch, als ob man von Freiheit satt würde. Selbstverständlich auch Küchenpsychologie, die seltsamerweise vom Fachmann selbst kam, nicht vom Laien. Letzterer fragte nie, ob denn die Tür verschlossen sei oder nicht - er fürchtete sich vor der Antwort, egal wie diese auch ausgefallen wäre. Hätte man ihm mitgeteilt, man sei doch dieses Jahr im Jahr der offenen Tür, so wäre geradewegs die Hoffnung durch den Türstock hindurchspaziert - und hätte man ihn mit großen Augen überrascht angeschaut und gesagt, er träume wohl, es sei wie immer verschlossen, schließlich sei er doch Gefangener, so hätte es ihn nicht minder enttäuscht.
"Wie soll ich leben hier drinnen? Welchen Sinn kann ich in einer Situation erkennen, die jederzeit beendet sein kann?", fragte er so den Psychologen.
"Es liegt nur an Ihnen", antwortete der.
"Wie kann man als Akademiker - entschuldigen Sie diese persönliche Frage - an diesem Ort sein, wo Menschen gegen ihren Willen festgehalten und getötet werden?", fragte er ihn.
"Nichts geht gegen den Willen, theoretisch sind Sie frei", antwortete der - man habe doch Grundrechte, murmelte er hinzu.
Natürlich folgten auch die üblichen brauchbaren wie unbrauchbaren Ratschläge, wie man das von einem Psychologen erwarten durfte.
Der Pfarrer hingegen kam nur einmal wöchentlich. Obwohl der Gefangene nicht wollte, betete er dann mit ihm. Weltliche Gespräche waren Mangelware. Wenn sie doch stattfanden, strickte der Geistliche permanent biblische Geschichten in die Unterhaltung, sprach von Reue, von Einsicht, von der Notwendigkeit, den letzten Weg mit aller Konsequenz zu gehen, Amen.
Sein Anwalt besuchte ihn jede zweite Woche. Das schlechte Gewissen trieb ihn her, man sah es genau. Plausch. Nichts Substantielles. Rechtsfragen wurden nicht mehr erörtert. Rechtsfragen bedeuten Hoffnung und Hoffnung war nicht mehr eingeplant.
Nach weiteren Wochen in der feuchten Dunkelheit oder der dunklen Feuchtigkeit, was nicht dasselbe war, sondern je nach Gemütslage als Ausdruck in seinen Gedanken Niederschlag fand - nach weiteren Wochen fing er an, alle Menschen, mit denen er Kontakt hatte - das waren im wesentlichen die Wärter, Psychologe, Pfarrer und Anwalt, gelegentlich ein Arzt, ein Zahnarzt und ein Friseur -, mit einer Frage zu quälen: Wann endlich würde sich wohl die Hinrichtung ereignen? Denn die Warterei wurde ihm zu bunt - Umgangssprache, die unsensibel ist, die Wirklichkeit so abstrakt abbildet, dass sie unerkennbar wird. Es wurde ihm zu bunt: was für eine Phrase für jemanden, der in grauer Tracht in grauer Dunkelheit sitzt, graue Suppe schlürft, an grauem Fleisch kaut, mittlerweile ein graues Gesicht hatte, dachte er sich.
Keinen Termin zu haben, den er sich im Kalender ankreuzen konnte, keinen Horizont zu kennen, das schmerzte. Gerne hätte er wieder Hoffnung gehabt - Hoffnung auf Erlösung. So endlos in Hoffnungslosigkeit, spürte er, könne er nun auch wieder nicht leben. Das ist die Komik an dieser Welt, sagte er sich, sie ist ein hoffnungsloser Ort, aber passt man sich ihrer an, wird ein hoffnungsloser Fall, so wird man auch nicht glücklicher. Der Mensch strebt nach besten Lösungen, aber jeder Weg ist so falsch, wie er für eine Weile richtig sein kann.
Wann also? Antworten erhielt er, nie aber eine Antwort, die Antwort. Man könne das nicht wissen, noch sei weder ein Termin bekannt noch ahne man auch nur, wann er angesetzt sein könne, sagte man ihm. Alles sähe nach einem langen Prozedere aus. Er solle warten, irgendwann würde es soweit sein, das sei sicher.
Er wollte es zurück, dieses menschlichste aller Gefühle, das sich Hoffnung nennt. Sie kann schmerzen, wohl wahr - aber anfänglich ist sie Labsal, verströmt erquickliche Gefühle fast wie bei einer genüsslich stattfindenden Masturbation. Wie ein Feldherr, der erst hernach entvölkerte Landstriche und leergefressene Felder und Ställe zurückläßt, so ist die Hoffnung anfangs doch bejubelt - wie Gustav II. Adolf, der von den Protestanten beklatscht wurde, so tritt auch die Hoffnung als Retter auf. Sie erbarmt sich erst, dann macht sie erbärmlich.
Eine letzte Hoffnung auskosten, dachte er sich. Dieses kandierte Gefühl erleben. Für einige Augenblicke noch hoffen, bangen, ausmalen - nicht Realist sein, sondern hoffnungsvoll träumen. Langsame Schritte auf die Tür zugehen, weiter hoffen, weiter bangen, wahrscheinlich enttäuscht werden. Aber einige Sekunden Wonne. Das wollte er erleben. So tat er dann auch, nicht lapidar, sondern in vollem Bewusstsein, fast rituell besinnlich. Er machte ganz kleine Schritte Richtung Tür, noch kleinere, je näher er kam. Blieb einige Sekunden stehen, kontrollierte seinen Atem, der ins Stocken geriet. Durchatmen, Magengrummeln, Schmetterlinge im Bauch, weiche Knie - Metaphern wie aus einem billigen Schmalzroman. Oh Hoffnung, du zuckriges Innenleben! Das sind die Reize des Lebens, das erfrischt die Lebensgeister, dachte er sich. Aber bedenke, der Überschwang vergeht gleich, in einigen Sekunden tut es mächtig weh, gleich erleidest du zerschlagene Hoffnung - das ist der Preis wonniger Momente. Jeder Orgasmus endet in postkoitaler Tristesse.
Nach endlos langsamen Schritten stand er vor der Tür. Erste Enttäuschung: sie war nicht angelehnt, er hatte sich getäuscht. Im gegenüberliegenden Winkel flegelnd, hatte es manchmal nur so ausgesehen, als sei die Tür gar nicht richtig ins Schloss gefallen. Ein Irrtum. Der war aber auch zu erwarten, allen Ernstes, das hier war ein Verlies, ein Gefängnis! Sein Atem stolperte. Jetzt am Türknauf ziehen. Soll er? Soll er nicht? Zögerlich, regelrecht kontemplativ führte er seine Hand an den Knauf. Ließ sie kurz dort ruhen, rasten, verschnaufen. Dann umfasste er die metallene Kugel, schwächliches Ziehen. Nichts. Festeres Ziehen. Nichts... nichts von Enttäuschung! Die Hoffnung hat neue Nahrung, die Tür war tatsächlich nicht verschlossen.
Er zog sich eilig zurück, niemand schien die Aufhebung, diese zunächst mehr theoretische als praktische Aufhebung seiner Gefangenschaft gesehen zu haben. So kauerte er sich auf sein Bett, grübelte. Was tun?
Zwei Nächte überschlief und übergrübelte er die nicht abgesperrte Tür noch. Schlechter Schlaf - Denken kann oft so laut, so innerlich lärmbelästigend sein, dass man keine Ruhe findet. Zwei Nächte, dann der Entschluss: er würde es in der nächsten Nacht wagen, er würde aus diesem Verlies treten, sich umsehen, vielleicht sogar abhauen, wenn die Gelegenheit günstig ist. Ob wohl eine Wache vor der Tür steht? Er würde es heute Nacht erfahren. Vielleicht, so säuselte ihm die Hoffnung ins Ohr, würde ein Gefängnisbetrieb, der das Absperren vernachlässigt, auch Wachpersonal für entbehrlich halten. Und wer sagt denn, dass nicht alle Türen, die sich ihm bei seiner Flucht in den Weg bauen, falls überhaupt weitere Türen auf dem Weg zur Freiheit liegen, unverschlossen sind. Selbst ohne Hindernisse, wusste er, würde es nicht ganz einfach werden, den unterirdischen Trakt zu verlassen. Er war verwinkelt und dunkel, Pfeilschilder gab es keine. Für wen sollten Schilder auf denen Ausgang steht neben einen Pfeil, der nach rechts deutet, denn angebracht sein? Für flüchtende Insassen etwa?
Wichtig war, keinen Verdacht zu nähren. Besonders die alltägliche Psychologenphilosophisterei, in der er zur haltlosen Redseligkeit neigte, musste er im Auge behalten. Teilnehmender Gesprächspartner und Beobachter sein, was nicht jedermanns Sache ist. So geschah es, dass er wortkarg war in jener Stunde, was der Psychologe zur Kenntnis nahm. Er fragte nach dem Motiv dieser ungewöhnlichen Wortknappheit. Natürlich erntete er nur Ausflüchte.
"Haben Sie Sehnsucht nach der Freiheit - ist es das?", fragte der Psychologe.
"Möglich", gab sich der Gefangene knapp, aber ehrlich. Ehrlichkeit ist das beste Versteck, wusste er. So handhabte er es, wenn er einst seine Verflossene betrog, sie ihn fragte wo er war, worauf er mit dem Auge zwinkerte und meinte, er habe wahrscheinlich eben eine andere gebumst. Das war die Wahrheit, roch aber nur nach derben Humor - wer unertappt lügen will, soll nur die Wahrheit sagen.
"Würden Sie abhauen, wenn sie die Chance hätten?", fragte der Psychologe weiter.
"Ich habe keine Chance", antwortete er zögerlich.
"Und wenn die Tür nicht abgeschlossen wäre: würden Sie gehen?"
"Dann bestimmt", lachte er zur Antwort.
Diese ehrliche Lüge war auch das Ende des täglichen Besuches. Man wünschte sich einen schönen Abend und gute Nacht.
Die Nacht kam - wieder eine Ungenauigkeit, denn sie kam nicht, sie war alleweil da, es war stets nächtlich in der unverschlossenen Zelle. Der Fluchtbereite zog sich seine Jacke an. Wer nicht weiß, ob ihn der Fluchtversuch in den nächsten Minuten in Freiheit lotst, dennoch in seine Jacke schlüpft, um nachher bei der Flucht nicht zu frieren, den kann man vorausschauend nennen oder einen Optimisten. Sich bekleidender Optimismus, könnte man das nennen.
Drängend zur Tür, forsch am Knauf gezogen, leises Knacken, überstürzt nach links, nach rechts hinausgelugt. Nichts. Leere. Freie Bahn zumindest bis zur nächsten Ecke. Er bettete die Türe leise ins Schloss zurück. Geschwind nach links gerannt, geschwind ums Eck gelinst. Keine Menschenseele. Nur Dunkelheit und fast tropische Luft. Dreckige Böden, vergitterte Kellerfenster, Fensternischen mit hoch angebrachten Schießscharten, die vergittert waren. Und Ecken und Winkel, kurze Gänge, langgezogene Gänge, hin und wieder Türen, die seinen Weg säumten. Nicht als Barrieren, er eilte an ihnen nur vorbei. Türen, hinter denen vielleicht auch Gefangene hockten. Ob die wohl auch unverschlossen waren? Ein Befreierherz schlug in dieser Nacht nicht in ihm. Heute zähle nur er, wusste er. Er eilte über Flure, tastete sich um Ecken.
Niemand zu sehen. Ein verlassenes Gefängnis. Alles still. Das war seltsam, konnte ihm nicht geheuer sein, aber die Hoffnung, sie peitschte ihn an. Nicht denken, sagte der Feldherr Hoffnung, flüchte, flüchte dich ins Gefecht. Freiheitsfanfaren unterlegten die Reden der Hoffnung. Gleich wird die Treppe erscheinen, die nach draußen führt, dann noch ein kurzer Gang im Erdgeschoss, ein Tor noch, dann Freiheit. Immer wieder flammte die Skepsis auf, sickerte die Zweifel durch. Da kann doch etwas nicht stimmen! Unverschlossene Türen für einen unbewachten Todeskandidaten...
Halt deinen Mund!, schrie die Hoffnung sogleich.
Negativling!, rief sie der Skepsis zu.
Defätistenpack!, schrie sie den Zweifel an.
So strebte der von Hoffnung Getriebene weiter. Ich werde leben, dachte er sich. Ich entkomme dem Tod, werde mich verstecken, das Land verlassen, leben, frei sein. Die Hoffnung ergriff ihn, lobte ihn für diese Gedanken. Folge mir, du so lange hoffnungslos Gebliebener, jetzt mir nach; jetzt erhältst du den Stoff, aus dem ich bin; jetzt verwandelt sich deine Hoffnung in Realität.
Die Treppe, sie lag vor ihm. Kein Wächter. Pressant nach oben, der kurze Weg zum Tor, zur Freiheit, zur Sonne, wenn die Nacht vorbei ist, dann zur Sonne natürlich. Ob sie geöffnet ist?
Kann nicht sein, moserte die Skepsis.
Halt die Schnauze, rief die Hoffnung, jetzt führe ich ins Gefecht, ich bin der Wallenstein der Stunde, der von Mansfeld des Moments, der amtierende Tilly - meine Arkebusiere machen Freiheit und diesmal bleibt nicht Ödnis und verbrannte Seelenerde, diesmal gewinnen wir diese letzte Schlacht und dann ist nur noch Freude, Feier und es gibt Sold und Eierkuchen.
Er wankte, die Gespanntheit machte, dass sein Darm sind entleeren wollte, er zitterte, Kloß im Hals, anklopfender Durchfall, wie immer bei Nervosität. Hoffen... hoffentlich. Er packte den Griff, zog bestimmt daran und die Freiheit, er konnte es kaum glauben, lag wirklich vor ihm. Er stand vor dem Gebäude, vor ihm Wiese, nach einigen Metern eine Mauer, die nach rechts an einem Gebäude abschloss, aber nach links weg in der Leere endete. Er atmete tief durch, blickte nochmals um sich: kein Mensch. Endlich frei, die Hoffnung erwies sich als berechtigt. Er würde weiterleben. Doch nicht die Mutter der Dummen, dachte er sich und haderte mit polnischen Weisheiten.
Er schlich sich zur Mauer, suchte ihren Schatten, ihre Dunkelheit. Schlich sich an jenes Ende der Mauer, das abbrach, keinen Abschluss kannte. Sicher ist sicher, dachte er sich, auch wenn keiner zu sehen ist, ist Schleichen angebrachter und passt auch besser, wenn ich später stolz meine Fluchtgeschichte erzähle. Am Ende der jäh abgebrochenen Mauer lugte er um den Meter, der die Mauer dick war. Alles frei, die Straße, die sich Richtung Stadt schlängelte, die mit dem Fluß Richtung potenzielles Fluchtversteck mäanderte, sie lag frei vor ihn. So trat er auf die Straße.
"Da sind Sie ja endlich", erklang es neben ihm.
Er gaffte ertappt neben sich. Ein Pulk von Menschen schien dort zu warten. Zwei Gestalten, kukluxklanartig gewandet, hakten sich bei ihm unter. Alle waren sie da. Seine Wärter, der Psychologe, der Arzt, einige Gefängnisfunktionäre und natürlich der Pfarrer, der nun auf ihn zutrat, leise betete und Vergib ihm, Vater! murmelte.
"Schön, dass Sie nun bereit sind", erklärte der hagere Gefängnisleiter. "Wir haben Ihnen genau die Zeit gelassen, die Sie benötigten, um zur Sühne überzugehen."
"Urteil im Namen des Volkes...", rief ein Mann, vermutlich Staatsanwalt.
Man führte den Geflohenen auf ein Podest. Er ließ es geschehen. "... bis dass der Tod eintritt", hörte er. Möglich, dass er Aufschub erhalten hätte, wenn er nur gewollt hätte. Aber weiter mit der enttäuschten Hoffnung zu leben, wieder dieses Gefühl auszuhalten, bitterlich hintergangen worden zu sein, das wollte er nicht mehr ertragen. Und so ließ er es geschehen. Niemand wird gegen seinen Willen festgehalten und getötet - der Psychologe hatte recht behalten.
Er war schon einige Wochen hier in seinem neuen Domizil unter Tage, mittlerweile gewohnt an das Halbdunkel, an die Nässe, die von den Gemäuern troff. Es gab notwendiges Mobiliar, gab ein Bett und Sitzgelegenheiten. Sogar einen Fernseher. Und überdies ein Waschbecken, auch wenn der ganze Raum ein einziges Waschbecken war. Allerdings hatte er mehr Platz als nötig, so viel Platz, wie er in seinem Leben zuvor nie in einer seiner Wohnungen besaß. Zwanzig, fünfundzwanzig Quadratmeter mögen es schon gewesen sein. Größe ohne Luxus. Das Holz von Stuhl und Tisch beispielsweise war so durchzogen von Wasser, dass es sich fast gummiartig anfühlte und bei Belastung leicht nachgab. Fenster wurden in der Planungsphase des Gebäudes aber offensichtlich vergessen. Es war kein mittelalterliches Verlies, kein Kerker - aber es erinnerte mehr daran, als an eine Zelle des modernen Strafvollzuges.
Wenn er es sich so recht überlegte, so quälte ihn dieser Gedanke, ob denn verschlossen sei oder nicht, schon seit dem ersten Tag seiner Gefangenschaft in dieser Höhle. Als man ihn hierher brachte, ward ihm bereits so, als habe man die Tür nur hinter sich zugezogen. Nur war er anfangs noch zu benommen, um sich darauf einen Reim zu machen. Benommen und mitgenommen vom Prozess und dem Urteil. Er hatte wahrlich andere Gedanken und Sorgen als Türen, die nicht richtig schlossen.
Wochen gingen ins Land, ins Verlies, in die Knochen.
"... solange, bis das Leben aus seinem Körper weicht", hatte er damals, er saß in der Anklagebank, benebelt vom Prozessverlauf, duselig von Plädoyer des Staatsanwaltes, vernommen. Das Urteil stand also fest.
Anfangs kettete man ihn fest. Er hatte zwar große Bewegungsfreiheit, konnte aber den hinteren Teil seines Verlieses nicht verlassen. Seit etwa zwei Wochen entband man ihn - nicht von Pflichten, die es hier offenbar ohnehin nicht gab: von der Kette. Er war plötzlich ein freier Mann in der ihm zugeteilten Unfreiheit. Bis vor zur Tür wagte er sich aber nie. Was ihn jedoch fernhielt, wusste er nicht genau. Vielleicht war es die Angst, dabei ertappt zu werden, Der Gefangene versucht zu fliehen!-Rufe zu hören, heranstürmende Wärter, schmerzhafte Schläge und Tritte - und danach? Etwa wieder Ketten?
Und was, so grübelte er, wenn die Tür wirklich unverschlossen oder gar bloß angelehnt wäre? Bei diesem Gedanken, die Flucht, das Überleben vor Augen zu haben, wurde ihm schlecht. Hoffnung würde das ergeben - und gerade die hat er wochenlang niedergerungen. Er war über die Hoffnung hinweg. Endgültig.
Sein Anwalt machte ihm nach dem Prozess noch Hoffnungen: Revision einreichen und alles würde nochmal gut. Selbstüberzeugt war der Mann ja und er selbst war somit auch überzeugt - Hoffnung eben, wie sie vorkommt im menschlichen Dasein. Doch er wurde enttäuscht, Revisionantrag abgeschmettert. Danach ein neuer Hoffnungsschimmer: Gnadengesuch hieß der. Abermals enttäuscht. Sein Bruder besuchte ihn mehrfach und erklärte ihm zuversichtlich, er würde einen relativ guten Bekannten aus dem Justizministerium kontaktieren - natürlich zerschlug sich auch diese Hoffnung; der Bekannte wollte nicht mehr bekannt sein. Enttäuschung, wieder Enttäuschung, beharrlich Enttäuschung - und unerfüllte Hoffnung, je und je gescheiterte Hoffnungen.
Nie waren es die Menschen, zuversichtliche Anwälte etwa, oder mit Beziehungen bekannte Brüder, die seine Moral brachen - es war die Hoffnung, die sich enthusiastisch ins Denken schlich und dann total ernüchtert abzog und verbrannte Erde hinterließ. Die Hoffnung war wie ein Generalissimus aus dem Dreißigjährigen Krieg. Sie zeigte sich ihm als rücksichtsloser Wallenstein. Erst ins Gefecht, Freudentaumel, Kraftprotzerei, mit Hakenbüchsen und Arkebusen zielsicher angelegt - danach Rückzug nach Fehlschüssen und unwirtlich gemachtes Terrain in der Seele. Von den Menschen, die ihn im Stich ließen, war er nur bedingt enttäuscht - die Hoffnung, dieses schizophrene, irrationale Gefühl war es, was ihn enttäuschte.
Wenn also die Welt ein hoffnungsloser Ort ist, dachte er sich stichhaltig, dann ist der, der noch Hoffnung in sich trägt, falsch in dieser Welt. Quasi ein hoffnungsloser Fall, würde man umgangssprachlich sagen. Sprache bildet oft die Realität nicht getreu ab; Umgangssprache verfälscht mehr als sie belichtet, ist zu vage strukturiert. So auch hier, denn genau das wollte er ja werden: ein hoffnungsloser Fall. Seelisch verträglicher ist es, als hoffnungsloser Fall durch eine hoffnungslose Welt zu stolpern. Hoffnung ist die Mutter der Dummen, weiß ein polnisches Sprichwort - einem Volk, das so viel gehofft hat und so oft enttäuscht wurde, zerrissen, aufgeteilt, überrannt, kann man solche Sentenzen nicht verübeln.
So entschloss er sich, alle Hoffnung fahren zu lassen. Er verfiel einige Tage in mönchisches Repetitio: "Ich werde sterben, ich werde sterben, ich werde sterben..."Wie ein mit Oberkörper wippender Jude an der Klagemauer, wie ein muslimisches Klageweib, wie ein katholischer Fastenmönch im Hungerwahn, wie ein Junkie im Kiff-Mantra lallte er tagelang einen Singsang vor sich her. "Ich werde hingerichtet, hingerichtet, hingerichtet..."
Siehe da: es gelang - aber ihm war klar, dass es ein zerbrechlicher Erfolg war, denn eine offene Tür würde die mühevoll erarbeitete, erlallte, sich hineinrepetierte, wiedergekäute Hoffnungslosigkeit außer Kraft setzen - es gäbe einen Rückfall, danach wahrscheinlich, nein ganz sicher, eine neuerliche Enttäuschung. Die Tür war daher für ihn unantastbar, es gab sie für ihn nur verschlossen - es gab sie gar nicht für ihn. Sie war der Zugang seiner Besucher, aber kein möglicher Ausgang des Besuchten. Er trat in jenen Tagen niemals näher als etwa drei Meter an sie heran. Schweifte sein Blick ab, sehnsüchtiges Gestiere auf diese Maueröffnung, so rief er sich umgehend zur Vernunft. Ein Drahtseilakt an Selbstdisziplin.
Die Gespräche mit dem Anstaltspsychologen boten Kurzweil. Sie waren zwar flüchtig, bruchstückhaft - denn er blieb jeweils einige Minuten. Hin und wieder setzte er sich an den Tisch, dann philosophierten sie. Sie philosophierten nicht die Philosophie großer Geister; es war die Philosophie kleiner Gefangener - passende Gedanken im passenden Umfeld. Allgemeinplätze manchmal, Freiheitsgewäsch, als ob man von Freiheit satt würde. Selbstverständlich auch Küchenpsychologie, die seltsamerweise vom Fachmann selbst kam, nicht vom Laien. Letzterer fragte nie, ob denn die Tür verschlossen sei oder nicht - er fürchtete sich vor der Antwort, egal wie diese auch ausgefallen wäre. Hätte man ihm mitgeteilt, man sei doch dieses Jahr im Jahr der offenen Tür, so wäre geradewegs die Hoffnung durch den Türstock hindurchspaziert - und hätte man ihn mit großen Augen überrascht angeschaut und gesagt, er träume wohl, es sei wie immer verschlossen, schließlich sei er doch Gefangener, so hätte es ihn nicht minder enttäuscht.
"Wie soll ich leben hier drinnen? Welchen Sinn kann ich in einer Situation erkennen, die jederzeit beendet sein kann?", fragte er so den Psychologen.
"Es liegt nur an Ihnen", antwortete der.
"Wie kann man als Akademiker - entschuldigen Sie diese persönliche Frage - an diesem Ort sein, wo Menschen gegen ihren Willen festgehalten und getötet werden?", fragte er ihn.
"Nichts geht gegen den Willen, theoretisch sind Sie frei", antwortete der - man habe doch Grundrechte, murmelte er hinzu.
Natürlich folgten auch die üblichen brauchbaren wie unbrauchbaren Ratschläge, wie man das von einem Psychologen erwarten durfte.
Der Pfarrer hingegen kam nur einmal wöchentlich. Obwohl der Gefangene nicht wollte, betete er dann mit ihm. Weltliche Gespräche waren Mangelware. Wenn sie doch stattfanden, strickte der Geistliche permanent biblische Geschichten in die Unterhaltung, sprach von Reue, von Einsicht, von der Notwendigkeit, den letzten Weg mit aller Konsequenz zu gehen, Amen.
Sein Anwalt besuchte ihn jede zweite Woche. Das schlechte Gewissen trieb ihn her, man sah es genau. Plausch. Nichts Substantielles. Rechtsfragen wurden nicht mehr erörtert. Rechtsfragen bedeuten Hoffnung und Hoffnung war nicht mehr eingeplant.
Nach weiteren Wochen in der feuchten Dunkelheit oder der dunklen Feuchtigkeit, was nicht dasselbe war, sondern je nach Gemütslage als Ausdruck in seinen Gedanken Niederschlag fand - nach weiteren Wochen fing er an, alle Menschen, mit denen er Kontakt hatte - das waren im wesentlichen die Wärter, Psychologe, Pfarrer und Anwalt, gelegentlich ein Arzt, ein Zahnarzt und ein Friseur -, mit einer Frage zu quälen: Wann endlich würde sich wohl die Hinrichtung ereignen? Denn die Warterei wurde ihm zu bunt - Umgangssprache, die unsensibel ist, die Wirklichkeit so abstrakt abbildet, dass sie unerkennbar wird. Es wurde ihm zu bunt: was für eine Phrase für jemanden, der in grauer Tracht in grauer Dunkelheit sitzt, graue Suppe schlürft, an grauem Fleisch kaut, mittlerweile ein graues Gesicht hatte, dachte er sich.
Keinen Termin zu haben, den er sich im Kalender ankreuzen konnte, keinen Horizont zu kennen, das schmerzte. Gerne hätte er wieder Hoffnung gehabt - Hoffnung auf Erlösung. So endlos in Hoffnungslosigkeit, spürte er, könne er nun auch wieder nicht leben. Das ist die Komik an dieser Welt, sagte er sich, sie ist ein hoffnungsloser Ort, aber passt man sich ihrer an, wird ein hoffnungsloser Fall, so wird man auch nicht glücklicher. Der Mensch strebt nach besten Lösungen, aber jeder Weg ist so falsch, wie er für eine Weile richtig sein kann.
Wann also? Antworten erhielt er, nie aber eine Antwort, die Antwort. Man könne das nicht wissen, noch sei weder ein Termin bekannt noch ahne man auch nur, wann er angesetzt sein könne, sagte man ihm. Alles sähe nach einem langen Prozedere aus. Er solle warten, irgendwann würde es soweit sein, das sei sicher.
Er wollte es zurück, dieses menschlichste aller Gefühle, das sich Hoffnung nennt. Sie kann schmerzen, wohl wahr - aber anfänglich ist sie Labsal, verströmt erquickliche Gefühle fast wie bei einer genüsslich stattfindenden Masturbation. Wie ein Feldherr, der erst hernach entvölkerte Landstriche und leergefressene Felder und Ställe zurückläßt, so ist die Hoffnung anfangs doch bejubelt - wie Gustav II. Adolf, der von den Protestanten beklatscht wurde, so tritt auch die Hoffnung als Retter auf. Sie erbarmt sich erst, dann macht sie erbärmlich.
Eine letzte Hoffnung auskosten, dachte er sich. Dieses kandierte Gefühl erleben. Für einige Augenblicke noch hoffen, bangen, ausmalen - nicht Realist sein, sondern hoffnungsvoll träumen. Langsame Schritte auf die Tür zugehen, weiter hoffen, weiter bangen, wahrscheinlich enttäuscht werden. Aber einige Sekunden Wonne. Das wollte er erleben. So tat er dann auch, nicht lapidar, sondern in vollem Bewusstsein, fast rituell besinnlich. Er machte ganz kleine Schritte Richtung Tür, noch kleinere, je näher er kam. Blieb einige Sekunden stehen, kontrollierte seinen Atem, der ins Stocken geriet. Durchatmen, Magengrummeln, Schmetterlinge im Bauch, weiche Knie - Metaphern wie aus einem billigen Schmalzroman. Oh Hoffnung, du zuckriges Innenleben! Das sind die Reize des Lebens, das erfrischt die Lebensgeister, dachte er sich. Aber bedenke, der Überschwang vergeht gleich, in einigen Sekunden tut es mächtig weh, gleich erleidest du zerschlagene Hoffnung - das ist der Preis wonniger Momente. Jeder Orgasmus endet in postkoitaler Tristesse.
Nach endlos langsamen Schritten stand er vor der Tür. Erste Enttäuschung: sie war nicht angelehnt, er hatte sich getäuscht. Im gegenüberliegenden Winkel flegelnd, hatte es manchmal nur so ausgesehen, als sei die Tür gar nicht richtig ins Schloss gefallen. Ein Irrtum. Der war aber auch zu erwarten, allen Ernstes, das hier war ein Verlies, ein Gefängnis! Sein Atem stolperte. Jetzt am Türknauf ziehen. Soll er? Soll er nicht? Zögerlich, regelrecht kontemplativ führte er seine Hand an den Knauf. Ließ sie kurz dort ruhen, rasten, verschnaufen. Dann umfasste er die metallene Kugel, schwächliches Ziehen. Nichts. Festeres Ziehen. Nichts... nichts von Enttäuschung! Die Hoffnung hat neue Nahrung, die Tür war tatsächlich nicht verschlossen.
Er zog sich eilig zurück, niemand schien die Aufhebung, diese zunächst mehr theoretische als praktische Aufhebung seiner Gefangenschaft gesehen zu haben. So kauerte er sich auf sein Bett, grübelte. Was tun?
Zwei Nächte überschlief und übergrübelte er die nicht abgesperrte Tür noch. Schlechter Schlaf - Denken kann oft so laut, so innerlich lärmbelästigend sein, dass man keine Ruhe findet. Zwei Nächte, dann der Entschluss: er würde es in der nächsten Nacht wagen, er würde aus diesem Verlies treten, sich umsehen, vielleicht sogar abhauen, wenn die Gelegenheit günstig ist. Ob wohl eine Wache vor der Tür steht? Er würde es heute Nacht erfahren. Vielleicht, so säuselte ihm die Hoffnung ins Ohr, würde ein Gefängnisbetrieb, der das Absperren vernachlässigt, auch Wachpersonal für entbehrlich halten. Und wer sagt denn, dass nicht alle Türen, die sich ihm bei seiner Flucht in den Weg bauen, falls überhaupt weitere Türen auf dem Weg zur Freiheit liegen, unverschlossen sind. Selbst ohne Hindernisse, wusste er, würde es nicht ganz einfach werden, den unterirdischen Trakt zu verlassen. Er war verwinkelt und dunkel, Pfeilschilder gab es keine. Für wen sollten Schilder auf denen Ausgang steht neben einen Pfeil, der nach rechts deutet, denn angebracht sein? Für flüchtende Insassen etwa?
Wichtig war, keinen Verdacht zu nähren. Besonders die alltägliche Psychologenphilosophisterei, in der er zur haltlosen Redseligkeit neigte, musste er im Auge behalten. Teilnehmender Gesprächspartner und Beobachter sein, was nicht jedermanns Sache ist. So geschah es, dass er wortkarg war in jener Stunde, was der Psychologe zur Kenntnis nahm. Er fragte nach dem Motiv dieser ungewöhnlichen Wortknappheit. Natürlich erntete er nur Ausflüchte.
"Haben Sie Sehnsucht nach der Freiheit - ist es das?", fragte der Psychologe.
"Möglich", gab sich der Gefangene knapp, aber ehrlich. Ehrlichkeit ist das beste Versteck, wusste er. So handhabte er es, wenn er einst seine Verflossene betrog, sie ihn fragte wo er war, worauf er mit dem Auge zwinkerte und meinte, er habe wahrscheinlich eben eine andere gebumst. Das war die Wahrheit, roch aber nur nach derben Humor - wer unertappt lügen will, soll nur die Wahrheit sagen.
"Würden Sie abhauen, wenn sie die Chance hätten?", fragte der Psychologe weiter.
"Ich habe keine Chance", antwortete er zögerlich.
"Und wenn die Tür nicht abgeschlossen wäre: würden Sie gehen?"
"Dann bestimmt", lachte er zur Antwort.
Diese ehrliche Lüge war auch das Ende des täglichen Besuches. Man wünschte sich einen schönen Abend und gute Nacht.
Die Nacht kam - wieder eine Ungenauigkeit, denn sie kam nicht, sie war alleweil da, es war stets nächtlich in der unverschlossenen Zelle. Der Fluchtbereite zog sich seine Jacke an. Wer nicht weiß, ob ihn der Fluchtversuch in den nächsten Minuten in Freiheit lotst, dennoch in seine Jacke schlüpft, um nachher bei der Flucht nicht zu frieren, den kann man vorausschauend nennen oder einen Optimisten. Sich bekleidender Optimismus, könnte man das nennen.
Drängend zur Tür, forsch am Knauf gezogen, leises Knacken, überstürzt nach links, nach rechts hinausgelugt. Nichts. Leere. Freie Bahn zumindest bis zur nächsten Ecke. Er bettete die Türe leise ins Schloss zurück. Geschwind nach links gerannt, geschwind ums Eck gelinst. Keine Menschenseele. Nur Dunkelheit und fast tropische Luft. Dreckige Böden, vergitterte Kellerfenster, Fensternischen mit hoch angebrachten Schießscharten, die vergittert waren. Und Ecken und Winkel, kurze Gänge, langgezogene Gänge, hin und wieder Türen, die seinen Weg säumten. Nicht als Barrieren, er eilte an ihnen nur vorbei. Türen, hinter denen vielleicht auch Gefangene hockten. Ob die wohl auch unverschlossen waren? Ein Befreierherz schlug in dieser Nacht nicht in ihm. Heute zähle nur er, wusste er. Er eilte über Flure, tastete sich um Ecken.
Niemand zu sehen. Ein verlassenes Gefängnis. Alles still. Das war seltsam, konnte ihm nicht geheuer sein, aber die Hoffnung, sie peitschte ihn an. Nicht denken, sagte der Feldherr Hoffnung, flüchte, flüchte dich ins Gefecht. Freiheitsfanfaren unterlegten die Reden der Hoffnung. Gleich wird die Treppe erscheinen, die nach draußen führt, dann noch ein kurzer Gang im Erdgeschoss, ein Tor noch, dann Freiheit. Immer wieder flammte die Skepsis auf, sickerte die Zweifel durch. Da kann doch etwas nicht stimmen! Unverschlossene Türen für einen unbewachten Todeskandidaten...
Halt deinen Mund!, schrie die Hoffnung sogleich.
Negativling!, rief sie der Skepsis zu.
Defätistenpack!, schrie sie den Zweifel an.
So strebte der von Hoffnung Getriebene weiter. Ich werde leben, dachte er sich. Ich entkomme dem Tod, werde mich verstecken, das Land verlassen, leben, frei sein. Die Hoffnung ergriff ihn, lobte ihn für diese Gedanken. Folge mir, du so lange hoffnungslos Gebliebener, jetzt mir nach; jetzt erhältst du den Stoff, aus dem ich bin; jetzt verwandelt sich deine Hoffnung in Realität.
Die Treppe, sie lag vor ihm. Kein Wächter. Pressant nach oben, der kurze Weg zum Tor, zur Freiheit, zur Sonne, wenn die Nacht vorbei ist, dann zur Sonne natürlich. Ob sie geöffnet ist?
Kann nicht sein, moserte die Skepsis.
Halt die Schnauze, rief die Hoffnung, jetzt führe ich ins Gefecht, ich bin der Wallenstein der Stunde, der von Mansfeld des Moments, der amtierende Tilly - meine Arkebusiere machen Freiheit und diesmal bleibt nicht Ödnis und verbrannte Seelenerde, diesmal gewinnen wir diese letzte Schlacht und dann ist nur noch Freude, Feier und es gibt Sold und Eierkuchen.
Er wankte, die Gespanntheit machte, dass sein Darm sind entleeren wollte, er zitterte, Kloß im Hals, anklopfender Durchfall, wie immer bei Nervosität. Hoffen... hoffentlich. Er packte den Griff, zog bestimmt daran und die Freiheit, er konnte es kaum glauben, lag wirklich vor ihm. Er stand vor dem Gebäude, vor ihm Wiese, nach einigen Metern eine Mauer, die nach rechts an einem Gebäude abschloss, aber nach links weg in der Leere endete. Er atmete tief durch, blickte nochmals um sich: kein Mensch. Endlich frei, die Hoffnung erwies sich als berechtigt. Er würde weiterleben. Doch nicht die Mutter der Dummen, dachte er sich und haderte mit polnischen Weisheiten.
Er schlich sich zur Mauer, suchte ihren Schatten, ihre Dunkelheit. Schlich sich an jenes Ende der Mauer, das abbrach, keinen Abschluss kannte. Sicher ist sicher, dachte er sich, auch wenn keiner zu sehen ist, ist Schleichen angebrachter und passt auch besser, wenn ich später stolz meine Fluchtgeschichte erzähle. Am Ende der jäh abgebrochenen Mauer lugte er um den Meter, der die Mauer dick war. Alles frei, die Straße, die sich Richtung Stadt schlängelte, die mit dem Fluß Richtung potenzielles Fluchtversteck mäanderte, sie lag frei vor ihn. So trat er auf die Straße.
"Da sind Sie ja endlich", erklang es neben ihm.
Er gaffte ertappt neben sich. Ein Pulk von Menschen schien dort zu warten. Zwei Gestalten, kukluxklanartig gewandet, hakten sich bei ihm unter. Alle waren sie da. Seine Wärter, der Psychologe, der Arzt, einige Gefängnisfunktionäre und natürlich der Pfarrer, der nun auf ihn zutrat, leise betete und Vergib ihm, Vater! murmelte.
"Schön, dass Sie nun bereit sind", erklärte der hagere Gefängnisleiter. "Wir haben Ihnen genau die Zeit gelassen, die Sie benötigten, um zur Sühne überzugehen."
"Urteil im Namen des Volkes...", rief ein Mann, vermutlich Staatsanwalt.
Man führte den Geflohenen auf ein Podest. Er ließ es geschehen. "... bis dass der Tod eintritt", hörte er. Möglich, dass er Aufschub erhalten hätte, wenn er nur gewollt hätte. Aber weiter mit der enttäuschten Hoffnung zu leben, wieder dieses Gefühl auszuhalten, bitterlich hintergangen worden zu sein, das wollte er nicht mehr ertragen. Und so ließ er es geschehen. Niemand wird gegen seinen Willen festgehalten und getötet - der Psychologe hatte recht behalten.